Der Fall Grass

oder:

Wie die konservative westdeutsche Literaturkritik mit politischen Autoren umspringt, wenn sie diese, aufgrund deren Berühmtheit, nicht verschweigen kann

Das ist kein Journalisten-Zeitvertreib in der Sommerpause, das ist eine seit dem Golfkrieg nicht mehr so vehement geführte politische Debatte unter den deutschen Vorzeige-Intellektuellen. In dem nun entbrannten "Literaturkrieg" (Hannoversche Allgemeine, 23.8.) geht es darum, endlich den Schulterschluß der deutschen Literaturkritik mit den konservativen Kreisen der BRD zu schaffen. Aber nicht etwa an der Müller-Kluge-Goetz-Riege entzündet sich die seit einiger Zeit fällige Klärung der Standpunkte der Reich-Ranickis und Karaseks. Sondern der neue Roman vom "Amateurpolitiker" (Reich-Ranicki, Spiegel 21.8.) Günther Grass, der Fontane- und Wende-Roman "Ein weites Feld", gibt für Loyalitätsbekundungen in Richtung Bonn ein leicht gefundenes Fressen ab.

Die Grass'schen Ankündigungen eines Wende-Romans hatten die Erwartungen des lesenden Publikums sehr hoch geschraubt, einige Rezensenten hatten den deutschen "Jahrhundertroman" erwartet. Die Literaturkritiker, allen voran Kritiker-Papst Marcel Reich-Ranicki, waren zu Stellungnahmen gezwungen. Was Mitte August erschien, ist eine kritische Nachzeichnung der ersten Wendejahre aus der Sicht eines Ost-Intellektuellen mit den Augen eines alt und müde gewordenen, aber nicht zahnlosen Wessi Günther Grass.

Es ist ein nachdenklich machendes Buch in unspektakulär breit dahin plauderndem Stil, was die besonnene Kritik in der Wochenendausgabe der "Süddeutschen Zeitung" bezeugt (Jürgen Busche, 19./20.8.). Die Zähigkeit des Grass'schen Erzählstils, der jedoch, was dabei gern übersehen wird, seinem Helden Theo Wuttke auf den Leib geschneidert ist, ist es denn auch, die scheinbar zurecht die Kritiker erbost. Grass habe sich leergeschrieben (R.R., Spiegel 21.8.), man mokiert sich über "schlingerndes Greisengemurmel" (Tagesspiegel, 23.8.). Doch bei kritischer Lektüre so gearteter Rezensionen kann man erkennen, wie geschickt in scheinbar sachliche Werturteile die bittersten politischen Anfeindungen gegen den vom Ablauf des Eigungsprozesses so enttäuschten Autor Grass eingebunden sind. Unter dem Schutz des fachlichen, pseudowissenschaftlichen Tadels wetzen die Rezensenten die nationalen Klingen.

Mit seiner in Briefform gehaltenen Kampfansage hat Reich-Ranicki im "Spiegel" den Ring frei gegeben für eine politische Schlammschlacht: Wenn Grass seinen Protagonisten Theo Wuttke von alten (DDR-) Zeiten schwärmen läßt, das Wessi-Großmachtstreben beklagt und berechtigten Ossi-Zorn in prägnante Sprache bringt, hält Reich-Ranicki dagegen, daß die DDR doch ein "schrecklicher Staat" gewesen sei, woran "nichts zu beschönigen“ sei. Daß Grass die DDR durch die Brille seines Helden als eine "kommode Diktatur" bezeichnet, reizt den Kritiker zur Weißglut, und Hellmuth Karasek stößt sich sogar an Grass' Feststellung, daß Ostdeutsche von der Koalition als Stimmvieh mißbraucht wurden (Literarisches Quartett, ZDF 24.8.). Die rechte Presse verbeißt sich an einem, der laut anmahnt, daß die Demokratie in Deutschland stagniert, an einem "negativen Nationalisten" (Tagesspiegel 23.8.), der den Kanzler die "regierende Masse" nennt, der Fontane zitiert: "Alles was sich deutsch nennt, wird vom Mittelmaß beherrscht", der die mißlungene Einheit literarisch zu geißeln wagt: "In Deutschland hat die Einheit immer die Demokratie versaut".

Es wird ein politisches Exempel an einem im Ausland sehr geschätzten deutschen Autor statuiert, weil er nicht die Mainstream-Meinung der Sieger der deutschen Einheit teilt. Einem, der lediglich Ansichten vieler Ostdeutscher und die Ansichten der in der Tagespresse ständig präsenten Mahner und Warner und der umsichtigen Beobachter in der linken Presse auf literarischer Ebene fokussiert, wird in kleinkrämerischer Weise "flache Geschichtsslapstik" und Realitätsferne, ja Geschichtsverfälschung (Iris Radisch, Zeit 25.8.) nachgerechnet. Werner Fuld (Die Woche, 25.8.) klagt an die Grass'sche Adresse: "Sie haben diese deutsche Einheit nicht gewollt, aber das deutsche Volk wollte sie.“ Die "Hannoversche Allgemeine" spricht Günther Grass höhere politische Einsichten ganz ab (23.8.). Sollte der Vorsitzende der IG-Medien Detlef Hensche auch noch die Dreistigkeit haben, auf die politische Komponente dieser begonnen Literaturfehde hinzuweisen, wird das als "Linksschwulst" (Tagesspiegel, 23.8.) verunglimpft.

Nur wenige deutsche Leitartikler finden den Mut wie Manfred Bissinger in der "Woche" (25.8.), das erstaunliche Geschehen des Literaturkrieges auf den Punkt zu bringen: "Hier verkommt Literaturkritik zu politischer Denunziation, hier wird ein Dichter an seiner nationalen Zuverlässigkeit gemessen."

Wenn die Ermahnung zu political correctness (Literarisches Quartett, 24.8.) zu einem Maulkorb-Gebot für politisch wache Autoren wird, dann erhält Grass' Wort vom "Auswanderungsland Deutschland" einen weiteren Hintergrund. (kh)