„Freiheit der Wissenschaft – ein asoziales Ideal!“

Jan Philipp Reemtsma über Wissenschaft und Verantwortung

Zögerlich aber dann doch mit dem Bemühen der Wohlmeinenden beschäftigt man sich an der Universität Kiel seit nunmehr zwei Jahren in Ringvorlesungen und Vortragsreihen mit der „Geschichte der Christian-Albrechts-Universität vor und nach 1945“, wie das Generalthema etwas euphemistisch heißt. In der Veranstaltung zum Volkstrauertag sprach am 27.11. Jan Philipp Reemtsma, Germanist und Philosoph am Hamburger Institut für Sozialforschung, über das Thema in „grundsätzlicherer Ausprägung“, wie Uni-Rektorin Prof. Peschel einleitend bemerkte. „Gibt es eine besondere politische Verantwortung der Wissenschaft?“, so Reemtsmas Frage.

Der Knalleffekt kam gleich am Anfang, denn Reemtsma beantwortete die Frage rundum mit Nein, wobei sich dieses Nein vor allem auf das Adjektiv „besondere“ im Titel des Vortrags bezog. Reemtsmas zentrale These: WissenschaftlerInnen können als solche in der Wissenschaft keine besondere Verantwortung für ihr Tun wahrnehmen. Sowohl die Organisation des Wissenschaftsbetriebs wie auch das Dogma von der „Freiheit der Forschung“ verhindern dies. Verantwortung für die Ergebnisse und Auswirkungen ihres Tuns können WissenschaftlerInnen nur als StaatsbürgerInnen, als Menschen überhaupt wahrnehmen, d.h. wenn sie von ihrer Rolle als WissenschaftlerIn abstrahieren. Daß WissenschaftlerInnen gleichwohl immer mal wieder ihre besondere Verantwortung thematisieren, wie im Falle des Atomphysikers und Leiters des „Manhattan“-Projekts J. R. Oppenheimer, dessen bekannter Fall Reemtsma als Beispiel diente, sei, so Reemtsma, durch die Betonung der Besonderheit ihrer Verantwortung letztlich nichts als ein positiv gekehrter Standesdünkel, eine Form des Elitedenkens in moralischer Verbrämung. Oder anders formuliert: Diese Form, Verantwortung wahrnehmen zu wollen, sei nur die Verlängerung einer Art „Priesterschaft“ des Wissenschaftlers, der Funktion dessen, der uns vor dem Bösen bewahrt oder – faustisch – ihm verfällt.

In der Gesellschaft gebe es ein übersteigertes Bild vom Wissenschaftler als eines Menschen, der privilegierten Zugang zu dem „eigentlich Wichtigen“ (dem, „was die Welt im Innersten zusammenhält“) hat. Allein aus diesem Rollenverständnis heraus, das sich auch die WissenschaftlerInnen selbst durch den Initiationsritus der Ausbildung aneignen, erwachse auch in der Gesellschaft die Forderung, WissenschaftlerInnen müßten eine besondere Verantwortung wahrnehmen.

Am Fall des scheinbar besonders moralischen Oppenheimer machte Reemtsma diesen Irrtum deutlich: Oppenheimer habe bei seiner Wendung gegen das Wasserstoffbomben-Projekt in den 50er Jahren nicht vorrangig als verantwortlicher Mensch gehandelt, sondern letztlich als Lobbyist seines Berufsstandes. Ähnlich – und noch deutlicher – sei es bei den deutschen Atomphysikern gewesen, die unter den Nazis am Bau der Atombombe gearbeitet hatten. Die im englischen Farm Hall nach dem Krieg internierten Physiker seien bestürzt gewesen über den Abwurf der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki, dies aber nicht so sehr aus moralischen Skrupeln, denn ob der Enttäuschung, durch das eigene gescheiterte Bombenprojekt nunmehr nach den US-Amerikanern nur noch die zweite Garde der Atomphysiker zu sein. Carl Friedrich von Weizsäckers Diktum, daß die deutschen Wissenschaftler die Formel für die Bombe nur deswegen nicht gefunden hätten, weil sie die Bombe eigentlich nicht hatten bauen wollen, entlarvte Reemtsma als intelligente „Sprachregelung“ der Gruppe um den Nobelpreisträger Heisenberg, um als moralischer Mensch und „guter Physiker“ zugleich dazustehen.

Im folgenden führte Reemtsma diese These metaphernreich weiter aus. Verantwortung sei in der „scientific community“ nicht mehr als die Wahrung einer Art „Comment“ einer „Zunft“. Sprich: bestimmte Dinge darf man nicht machen, aber nicht weil sie moralisch verwerflich sind, sondern wissenschaftlich unredlich. So seien die Experimente des KZ-Arztes Mengele an Menschen von dieser „Zunft“ mehr wegen ihres geringen wissenschaftlichen Wertes angezweifelt worden als wegen der Menschenverachtung solchen Tuns.

Was den WissenschaftlerInnen bei der Wahrnehmung von Verantwortung als Menschen (weniger denn in der Rolle als WissenschaftlerIn) so sehr im Wege stehe, sei das Dogma von der „Freiheit der Forschung“, das als gruppenimmanentes und -konstituierendes Ideal letztlich asozial sei und demonstriere, wie die „Freiheit“ zum totalitären Anspruch verkomme. Jedoch sah Reemtsam hier ein besonderes Problem. Das „Freiheits“-Dogma, ein gewisses Maß an von der Gesellschaft den WissenschaftlerInnen erlaubter „intellektueller Anarchie“, sei eine „unverzichtbare Produktivkraft“ der Wissensproduktion in den Wissenschaften – zumindest die Vertretung dieses Dogmas nach außen und gegen jeden auch nur Verdacht der Gängelung von Wissenschaft. Im Inneren des Betriebes hingegen von „Freiheit“ keine Spur; dort herrschten, so Reemtsma, rigide gruppenhierarchische Mechanismen der Gängelung und gegenseitigen Ausgrenzung von „Schulen“ und „Richtungen“.

Trotz dieser Analyse sei es nicht möglich, nun das „Freiheits“-Dogma zu demontieren, zum einen, weil dieses Dogma die heutige Wissenschaft wesentlich mit konstituiere, zum anderen, weil sich als Schuld an den Auswüchsen von Wissenschaft weder eine totale Instrumentalisierung, noch eine völlige Libertinage nachweisen lasse. Vielmehr sei wohl das, so Reemtsma wörtlich, „Kuddelmuddel“ irgendwo zwischen Gängelung und „Freiheit“ die Crux des Wissenschaftsbetriebs, eine Orientierungslosigkeit zwischen gesellschaftlicher Erwartung und hilflosen Versuchen der Verantwortung von WissenschaftlerInnen.

Diese Bilanz des Wissenschaftsbetriebs fiel also bei Reemtsma durchweg negativ aus. In der Tat maß er ihm keine besondere Kompetenz in ethischen Fragen zu. Als Ausweg aus dieser verfahrenen Situation riet Reemtsma: WissenschaftlerInnen mögen sich des unauflösbaren Dilemmas bewußt sein und wenigstens ab und zu bemerken, daß sie außer WissenschaftlerIn auch noch denkender Mensch seien. Als solche seien sie – wie jede und jeder andere, also überhaupt nicht besonders – für ihr Tun und dessen Folgen verantwortlich. Die Ausrede, „ich bin doch nur Wissenschaftler“, dürfe nicht mehr gelten. (jm)