„Radikal ins nächste Jahrtausend!“

Rund 5.000 Menschen demonstrierten am 16.12.95 in Hamburg gegen die Verfolgung der Zeitschrift „radikal“

Am 13. Juni 1995 waren vier Männer aus Lübeck, Berlin, Rendsburg und Münster verhaftet worden. Der Vorwurf: Sie sollen der Redaktion der verbotenen linken Zeitschrift „radikal“ angehören und damit eine kriminelle Vereinigung unterstützen bzw. für sie werben. Diverse linke Organisationen aus verschiedenen Städten hatten daher aufgerufen, in Hamburg gegen diese Kriminalisierung linker Presse und für die Freilassung der Vier zu demonstrieren. Zwar waren die Verhafteten eineinhalb Wochen vor der Demo überraschend auf Kaution freigekommen, doch bedeutet diese „Freiheit“ nicht viel: Sie dürfen untereinander keinen Kontakt aufnehmen, auch nicht über Dritte, und erhielten für die Dauer des Verfahrens weitere scharfe Auflagen wie z.B. wöchentliche Meldepflicht bei der Polizei.

Propagandistisch groß aufgemacht, hatte die Bundesanwaltschaft (BAW) in einer konzertierten Aktion im Sommer bundesweit zahlreiche Privatwohnungen, Arbeitsplätze und Büros durchsuchen lassen. In zehn Städten standen zeitgleich morgens um sechs Uhr maskierte Sondereinsatzgruppen vor 55 Einrichtungen und Wohnungen und rissen Menschen mit vorgehaltener Waffe aus den Betten, darunter auch ein sechsjähriges Kind. Die Durchsuchungsbefehle wurden nach Belieben ausgelegt. Im schleswig-holsteinischen Neumünster wurden auch die Räume des Notrufs für vergewaltigte Frauen und Mädchen durchkämmt, da er mit dem Infoladen Omega – auf den der Durchsuchungsbefehl lautete – im gleichen Haus untergebracht ist. Erst nach mehreren Stunden ließen sich die Beamten davon abbringen, Adreßdatei und Beratungsprotokolle des Notrufs weiter zu filzen.

In Lübeck wurden die Räume einer Arbeitslosen-Initiative durchsucht, die an den Lübecker Infoladen untervermietet, das eigentliche Objekt der bundesanwaltschaftlichen Begierde. Hier wurden zufällig anwesende Initiativenmitglieder willkürlich zu Zeugen erklärt, sobald sie gegen das Vorgehen der Beamten protestierten. So konnten sie zur Einschüchterung mit auf die örtliche Wache genommen werden. Hier sollen auch Sätze gefallen sein wie: „Entweder Sie sagen jetzt aus, oder wir fliegen sie nach Karlsruhe (zur BAW), und das kann lebensgefährlich für Sie sein.“

Der Öffentlichkeit wurde der Schlag zunächst als gegen die Antiimperialistischen Zellen (AIZ) und K.O.M.I.T.E.E. gerichtet verkauft, die in den letzten Jahren beide durch Anschläge von sich Reden gemacht hatten. Das erwies sich allerdings als haltlos angesichts dessen, daß von den polizeilichen Überfällen vor allem legal arbeitende Gruppen, darunter auch antifaschistische Initiativen, betroffen waren. So gab Bundesinnenminister Kanther schon am Abend des 13.6. unumwunden zu, daß es ihm um eine „zielgerichtete präventive Maßnahme zur Einschüchterung gegen die linksradikale Szene“ gegangen sei.

Offensichtlich hatte man zu diesem Zweck eine ganze Reihe von oftmals wackligen Ermittlungsverfahren zusammengezogen, um die martialischen Überfälle medienwirksam zu timen. Die Durchsuchungsbeschlüsse waren jedenfalls schon drei Monate alt.

Am Ende war von AIZ und K.O.M.I.T.E.E. nicht mehr die Rede. Den Vieren, die schließlich verhaftet wurden, warf man vor, mit der Herstellung und Verbreitung der „radikal“ die „Bildung einer kriminellen Vereinigung“ betrieben zu haben, mit dem Ziel für „terroristische Vereinigungen“ zu werben. Das ist allerdings neu in der bundesdeutschen Justizgeschichte. Bisher war es immer wieder vorgekommen, daß einzelne Artikel Gegenstand strafrechtlicher Verfolgung waren. Nun aber wird das Herstellen einer Zeitschrift zur kriminellen Tat. Die „radikal“, die über autonome Diskussionsprozesse berichtet, Erfahrungsberichte aus verschiedenen Initiativen veröffentlicht und auch schon mal Bekennerschreiben, z.B. der AIZ abdruckt, sei kriminell, weil sie die Kommunikation der militanten Gruppen erst ermögliche.

Wie wenig den Staatsschutzorganen die Pressefreiheit wert ist, zeigte auch folgender Vorgang: Als der Journalist Oliver Tolmein einen der Inhaftierten interviewen wollte, wurde ihm das verweigert. Begründung des zuständigen Ermittlungsrichters Dr. Beyer: Es gebe kein allgemeines öffentliches Interesse an dem Verfahren, sondern nur das der „Sympathisanten-Szene“.

Um gegen solche Einschränkungen der Grundrechte zu demonstrieren, fanden sich am 16.12. 4.700 Menschen, so die Angaben der mit etwa ebenso vielen Beamten aus fast allen westlichen Bundesländern angetretenen Polizei, um 12.30 Uhr auf der Moorweide zur Demonstration ein. Im Vorfeld des von der Hamburger PDS/Linken Liste angemeldeten Protests unter dem Motto „Radikal ins nächste Jahrtausend!“ hatte die bürgerliche Presse (u.a. „Morgenpost“ und „Hamburger Abendblatt“) massiv dagegen mobil gemacht und die Furcht vor „Chaostagen“ und „linken Gewalttätern“ geschürt. Zur konsequenten Strategie der Herrschenden gehört inzwischen offenbar auch schon die Kriminalisierung von Demonstrationen gegen die Kriminalisierung linker Politik. Die Demonstrationsleitung hatte eine Route durch die Hamburger Innenstadt beantragt, um möglichst viele Menschen mit ihren Forderungen zu erreichen. Trotz diverser Verhandlungsangebote der Veranstalter schaltete die Hamburger Polizei unter ihrem leitenden Direktor Hans-Joachim Dittrich auf stur: Die Demo sollte weiträumig um die Innenstadt herumgeführt werden.

Dem zum Trotz versuchte der Demonstrationszug, in die Innenstadt vorzudringen und in Verhandlungen mit der Polizei vor Ort die ursprünglich geplante Demo-Route durchzusetzen. Gegen das mit Dutzenden Wasserwerfern und gepanzerten Beamten martialische Auftreten der Ordnungshüter war dies jedoch nach halbstündigem Hinundher am Gänsemarkt nicht durchzusetzen. So mußte nolens volens und unter Protest die von der Staatsmacht vorgesehene Route fortgesetzt werden. Die Demo-Leitung sah in dem Verbot, die Innenstadt zu betreten, eine massive Einschränkung des Demonstrationsrechts.

Im Verlauf der Demonstration gab es mehrere Kundgebungen, bei denen nicht nur gegen das Verbot der Zeitschrift „radikal“ und die Verfolgung vermeintlicher Mitarbeiter gesprochen wurde. Demonstranten der verbotenen kurdischen PKK forderten die Einstellung der Unterstützung der BRD für die türkische Regierung bei deren Ausrottungskampf gegen die kurdische Bevölkerung. Ebenso wurde die Beendigung der Verfolgung von politischen Gefangenen in der BRD allgemein gefordert. Vor allem wurde an vier weitere Linke erinnert, gegen die ein Haftbefehl wegen Mitarbeit bei „radikal“ vorliegt und die inzwischen untergetaucht sind, ferner an vier Frankfurter Linke, die sich in Beugehaft befinden, weil sie sich weigerten, Aussagen über weitere nach § 129a StGB Verfolgte aus ihrem Umfeld zu machen.

Drei der vier „radikal“-Gefangenen beteiligten sich an der Demonstration und berichteten in Redebeiträgen von den Auswirkungen der fast sechsmonatigen Isolationshaft. Sie machten deutlich, daß sich auch nach der vorläufigen Aussetzung der Haftbefehle ihre politische Isolation fortsetze, weil es ihnen unter Androhung erneuter Haft verboten sei, sich weiter politisch zu betätigen. Der Berliner Häftling, Werner, wollte die Forderung nach Einstellung aller Verfahren allerdings nicht ohne Bedenken unterstützen. Seine und der drei anderen Inhaftierten Entlassung ändere nichts an den unmenschlichen Haftbedingungen in deutschen Knästen. Zudem gebe es zahlreiche politische Gefangene, für die es „draußen“ keine Solidaritäts-Kampagnen wie die für die „radikal“-Gefangenen gebe und die drohten, in Vergessenheit zu geraten.

Die Demonstration verlief trotz subtiler Provokationen der Polizei (mit dem Schlagstock gegen Parkpfeiler schlagen) friedlich. Erst nach deren Auflösung auf dem Neuen Pferdemarkt kam es zu vereinzelten Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstranten im Schanzenviertel und z.T. auch in der Innenstadt, in die kleinere Gruppen von Demonstranten trotz der noch bestehenden Abriegelung eingedrungen waren.

In den bürgerlichen Medien wurden diese „Krawalle“ aufgebauscht, bzw. die Berichterstattung reduzierte sich vielfach darauf. Insbesondere gegen Andreas Grünwald, den Landesgeschäftsführer der Hamburger PDS, der die Demonstration angemeldet hatte, wurde heftig polemisiert, dies auch aus den Reihen der Hamburger PDS selbst. Von letzteren wurde ihm vorgeworfen, er habe die Beteiligung der PDS an der Demonstration nicht zur Abstimmung gestellt und eigenmächtig entschieden, die Demo anzumelden. (wop, jm)