Die Biedermänner sind die Brandstifter

Resolution der PDS S.-H. zum Brand des Asylbewerberheims in Lübeck

Am frühen Morgen des 18. Januars 1996 brannte das Asylbewerberheim in der Lübecker Hafenstraße völlig aus. Dabei kamen mindestens 10 Menschen ums Leben, weitere Schwerverletzte kämpfen noch mit dem Tod.

Die PDS Schleswig-Holstein weigert sich, in das allgemeine Betroffenheitsgeschwafel von PolitikerInnen und der Medien mit einzustimmen. Wenn die Verlautbarungen der Herrschenden und ihrer Helfershelfer dieser Tage den Anschein von Trauer und persönlicher Betroffenheit vorgaukeln wollen, so ist dies nichts anderes als Heuchelei, dies unabhängig davon, ob die Brandursache ein fremdenfeindlicher Anschlag oder ein technischer Defekt war. Es ist Heuchelei in einem Land, ...

– in dem nach der sog. „Wiedervereinigung“ seit nunmehr mindestens 6 Jahren eine beispiellose Kampagne der Kriminalisierung und Denunziation von bei uns vor Krieg, Verfolgung und Armut Asyl suchenden Menschen betrieben wird, dies nicht nur von einigen Rechtsextremen, sondern von der Mitte der Gesellschaft aus. Wir erinnern hier nur an die Aufforderung des damaligen CDU-Generalsekretärs Volker Rühe an seine Partei, die „Asylantenfrage“ zum Wahlkampfthema zu machen, und an den „Zählappell“ des damaligen schleswig-holsteinischen Sozialministers Jansen, der den „Mißbrauch“ von sozialen Leistungen durch Asylsuchende anprangern sollte.

– in dem – mit Hilfe und Unterstützung der SPD, vor welchem Hintergrund die Beileidsbekundungen von Ministerpräsidentin Heide Simonis wenig glaubwürdig scheinen – das grundgesetzlich verankerte Recht auf Asyl faktisch abgeschafft wurde, in dem zufolge der „Drittstaatenregelung“, nicht mehr rechtstaatlichen Beschneidungen von Widerspruchsrechten gegen die Ablehnung eines Asylantrags, der sog. „Flughafenregelung“ und der Errichtung einer neuen Mauer aus Greiftrupps und elektronischen „Frühwarnsystemen“ an der Grenze zu Polen Asylsuchende zu fast völlig rechtlosem „Freiwild“ werden.

– in dem abgelehnte AsylbewerberInnen auf unmenschlichste Weise in „Abschiebeknästen“ wie in Glasmoor bei Norderstedt eingepfercht und seelisch gebrochen werden, um sie dann in einer Kette von Abschiebungen in ihr Herkunftsland zurück zu verfrachten, wo ihnen wenn nicht Folter und Mord ein „Leben“ in Armut und Unterdrückung droht. Und der Gipfel des Zynismus: abgelehnten AsylbewerberInnen, die über etwas Geld verfügen können, werden sogar noch die Kosten für die Abschiebehaft und die Abschiebung selbst auferlegt.

– in dem die offen oder latent fremdenfeindliche rechtskonservative Hegemonie fast alle gesellschaftlichen Bereiche erfaßt hat, beispielhaft sichtbar z.B. daran, daß dem Kommentator der „Kieler Nachrichten“ zu dem Ereignis in Lübeck nichts besseres einfiel, als nicht nur vor den Fremdenfeinden, sondern auch vor den „ideologisch verblendeten Befürwortern einer allzu liberalen Asylpolitik“ zu warnen, die „die Ängste vor Fremden in der Bevölkerung“ ignorierten und „die Augen vor wachsender Ausländerkriminalität“ verschlössen (zitiert nach KN vom 19.1.96, S. 2).

Uns scheint es symptomatisch, daß – auch wenn noch nichts bewiesen ist – sowohl PolitikerInnen als auch, noch vorschneller, die Medien sofort von einem Brandanschlag ausgehen. Keine linke Paranoia vor Neonazis also prägt die Stimmung in diesem Land. Nein, Fremdenfeindlichkeit ist so selbstverständlich und alltäglich geworden, daß selbst bürgerliche Kräfte einen Anschlag sofort für möglich und wahrscheinlich halten, wenn ein Flüchtlingsheim in Flammen aufgeht.

Nicht minder fragwürdig als die Heuchelei ist die Eingemeindung der Betroffenheit in die „Sicherung des Standorts Deutschland“. Der erste Aufschrei nach dem Brand in Lübeck war (belegt durch diverse Zeitungsüberschriften): „Schon wieder Lübeck?!“ Die Sorge vieler PolitikerInnen galt zuvorderst dem Ansehen von Stadt und Land nach solch einem Ereignis, erst in zweiter Linie den Opfern, die Familienmitglieder und Freunde verloren haben. Im Ausland kommen Ereignisse wie in Hoyerswerda, Rostock, Solingen, Mölln und nun auch und wieder in Lübeck nicht gut an. Sie gefährden psychologisch den „Standort Deutschland“. Hier zeigt sich deutlich der Stimmungswandel in Deutschland. Nicht-Deutsche und Flüchtlinge sind die Sündenböcke, sie schaden vermeintlich Deutschland als Lebende und sogar noch als verbrannte Tote.

Ob es sich in Lübeck um einen Anschlag oder einen tragischen Unfall infolge möglicherweise eines technischen Defektes gehandelt hat, ist noch offen. Wir meinen: Das ist für die Bewertung dieses Vorfalls fast einerlei. Denn selbst, wenn es „nur“ ein Unfall war, so spricht dieser doch Bände. Warum, so fragen wir die Verantwortlichen, werden Asylsuchende in überbelegten, rotten Häusern am Rande der Städte und Gemeinden untergebracht? Warum gewährt man ihnen nur solchen Wohnraum, der menschenunwürdig ist und in dem aufgrund des schlechten Zustands der Bausubstanz technische Defekte, die zu Bränden führen können, wahrscheinlicher sind als anderswo? Wer Menschen in solchen Unterkünften mit geringen Sicherheitsstandards unterbringt, nimmt in Kauf, daß sie bei einem Unfall ums Leben kommen, und macht sich dadurch mittelbar schuldig, so wie ein Brandstifter unmittelbar.

Nach den jüngsten Ermittlungen soll nun ein Bewohner des Flüchtlingsheims selbst das Feuer gelegt haben. Auch in diesem Fall bleibt zu fragen, wie es dazu kommen konnte. Ein Teil der Schuld liegt auch hier bei jenen, die Menschen unterschiedlicher Herkunft und Kultur willkürlich auf engem Raum zusammenpferchen und die durch die finanzielle und soziale Ungleichbehandlung verschiedener Flüchtlingsgruppen zusätzlichen Nährboden für Konflikte und Verzweiflungstaten schaffen.
 

Wir fordern:

– sofortige Rücknahme des sog. „Asylkompromisses“ und seiner begleitenden Regelungen (z.B. „Drittstaatenregelung“). Das Asylrecht muß wieder vollständig und im Falle der Ablehnung eines Antrags mit allen Rechtsmitteln des Widerspruchs für alle Schutzsuchenden gewährt werden.

– die Anerkennung von Asylgründen wie Bürgerkrieg, wirtschaftliche Not, Armut, Vergewaltigung und Verfolgung wegen sexueller Orientierung. Es geht nicht an, daß Industrienationen wie Deutschland nach wie vor den Ländern des Trikonts und im zusammengebrochenen Ostblock keine Chancen zu selbständiger wirtschaftlicher, politischer und sozialer Entwicklung gewähren und eine gerechte Weltwirtschaftsordnung verhindern, andererseits aber sich gegenüber den Flüchtlingsströmen abschotten, die diese fehlerhafte und menschenverachtende Politik erzeugt. Letztlich müssen die vielfach von den Industrienationen mit erzeugten Fluchtgründe beseitigt werden, damit die heutigen Flüchtlinge in ihren Herkunftsländern menschenwürdig leben können. Wir fordern offene Grenzen!

– einen sofortigen vollständigen Abschiebestop für abgelehnte AsylbewerberInnen. Bleiberecht für alle!

– die sofortige Schließung von „Abschiebeknästen“ wie Glasmoor und menschenwürdige Unterbringung von Asylsuchenden. Dies bedeutet auch, jegliche Ghettoisierung bei der Unterbringung zu vermeiden. Wir wollen, daß die AusländerInnen mit uns solidarisch zusammenleben können.

– Beseitigung von rassistischen Sondergesetzen (z.B. Asylbewerberleistungsgesetz) für Flüchtlinge und MigrantInnen.

– statt billigendem Verständnis für „Ängste vor den Fremden“ die Förderung einer Kultur des solidarischen Miteinanders, die das Fremde als Chance für die eigene Identität und Entwicklung begreift, ohne es „multikulturell“ einzugemeinden oder zu absorbieren, sondern ihm vielmehr seine Eigenständigkeit und Würde lassend.

Den Opfern von Lübeck gilt unser Mitgefühl, und wir fordern dazu auf, tätige Solidarität mit ihnen zu üben, die, wenn sie etwas bewirken soll, über bloße Aufrufe zu Toleranz und Lichterkettenaktionen hinausgehen sollte. Dies ist nachhaltig nur möglich, wenn wir im Sinne der obigen Forderungen auf eine radikale Veränderung der Gesellschaft hin zu einer solidarischen, wahrhaft selbstbestimmten und demokratischen – sprich sozialistischen – zielen, in der der Mensch dem Menschen ein Helfer ist.

PDS S.-H., 21.1.1996