Jürgen Kuczynski: Letzte Gedanken?

Zwei Schwierigkeiten gibt es beim Schreiben dieser Besprechung: Einmal den Titel des Buches „Letzte Gedanken?“ Zwar ist Jürgen Kuczynski mittlerweile 92 Jahre alt, dennoch gibt es die Hoffnung, daß er seiner zahlreichen Lesergemeinde noch lange erhalten bleibt. Die andere Schwierigkeit ist, daß J.K. sich in diesem Buch zu „Philosophie und Soziologie, Geschichtswissenschaft und Wirtschaftswissenschaft, schöner Literatur und zum Problem der deutschen Intelligenz“ äußert. Schon eine reine Inhaltsangabe sprengte daher den Rahmen dieser Besprechung.

Den größten Teil des Philosophie-Abschnitts nimmt die Erweiterung eines Vortrags an der Universität Salzburg mit dem Titel „Menschenpflichten“ ein. J.K. zitiert das Erste Gebot der Bibel: „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir“, im Anschluß den protestantischen Thelogen Hans-Georg Fritzsche: „In den Theologischen Blättern (Jahrgang 1936, Sp. 312f.) werden einige Beispiele – kommentarlos – aufgeführt. Auf einer Kundgebung wurde deklamiert: ’Wir glauben auf dieser Erde allein an Adolf Hitler, unseren Führer. Wir glauben an den Nationalsozialismus als den alleinseligmachenden Glauben für unser Volk’“ (S. 17) und fährt fort: „Ja – ganz ähnlichen Götzendienst trieben die Kommunisten, nein, ich bitte um Entschuldigung, wir Kommunisten, auch ich, mit Stalin.“ (S. 18) „Das erste Gebot hat als solches auch eine ganz große Bedeutung für den religiös-moralischen Blick auf jede Hierarchie, sei es eine religiöse, sei es eine weltliche – bis in unsere Zeiten. Es mahnt uns zur Menschenpflicht, jeden anderen, sei es den nächsten Freund, sei es den direkten oder den entferntesten Vorgesetzten, als Menschen auch mit allen seinen Schwächen zu sehen und ihm genau so, genau mit seinen Schwächen, gerecht zu werden. Was für eine große, bedeutungsvolle Pflicht legte doch das erste Gebot dem Menschen auf!“ (S. 19)


Ein zweites moralisches Gebot betrachtet J.K.: „Du sollst kein falsches Zeugnis reden wider deinen nächsten“ Dieses Gebot wird so oft nicht gehalten, ja soll und darf nicht gehalten werden, ebensowenig wie die Forderung von Jesus Christus, seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst. Oder soll etwa jemand seinen Mietnachbarn, einen antisemitischen Nationalisten, lieben wie sich selbst? Ich glaube, daß man nur einer Instanz gegenüber nicht lügen darf: seiner Partei oder seiner Glaubensgemeinschaft gegenüber.“ (S. 36) Einmal abgesehen davon, daß das Gebot der Nächstenliebe etwa 550 Jahre älter ist – es findet sich schon im 3. Buch Mose 19,18 – wirft diese Formulierung einige Fragen auf: Einmal: ist ein Antisemit noch mein Nächster? Gestehe ich ihm die gleichen Rechte zu wie dem Rest der Menschheit? – Wohl kaum. Das Recht, seine Meinung öffentlich zu äußern, sich in einer Partei seiner Wahl zu organisieren, spreche ich ihm ab. Nur die elementaren Menschrechte und seine Menschenwürde spreche ich ihm nicht ab.

Das Recht, in bestimmten Situationen zu lügen, gibt es natürlich. Nur: Wenn zwei das gleiche tun, dann ist es nicht dasselbe. Die Einschränkung „nur seiner Partei oder Glaubensgemeinschaft gegenüber“ nicht, gilt m.E. auch nicht uneingeschränkt. Daß die Partei- und Staatsführung in der DDR das eigene Volk systematisch über die Lage der Volkswirtschaft belogen hat, halte ich nicht nur für ein fehlerhaftes Verhalten, sondern auch für moralisch unhaltbar.

Im zweiten Teil seines Buches – Soziologie – weist J.K. nach, daß die Arbeiterklasse entgegen Behauptungen der DDR-Soziologie in den entwickelten kapitalistischen Staaten längst nicht mehr den Hauptteil der Bevölkerung bildet. Vor allem die undifferenzierte Zurechnung aller Angestellten (mit Ausnahme allenfalls des Managements) verfälschte (und verfälscht bis heute bei manchen sich marxistisch nennenden Soziologen) die Auflösung der Arbeiterklasse.

Im geschichtlichen Abschnitt untersucht J.K. „Lage und Leben der Arbeiter in Berlin sowie ihre Haltung zum Nationalsozialismus 1933-1945“. Insbesondere der Tatsache, daß es den Faschisten gelungen ist, bis 1939 die Arbeitslosigkeit – auf die schlimmstmögliche Art, versteht sich – zu beseitigen, schreibt er dabei zu, daß die Einstellung der Arbeiterklasse zum Faschismus sich zu eingeschränkter Zustimmung wandelte. Für ähnliche Analysen aus den Anfangsjahren faschistischer Herrschaft hatte er von seiner Partei – unberechtigte – Prügel bezogen.

Im Wirtschaftsteil provoziert J.K. mit dem Titel „Von den ’Nazis’ lernen und das Gegenteil tun – ein Rezept für den Kapitalismus heute“ das Interesse des Lesers. Er beschreibt Maßnahmen, Rahmenbedingungen und Erfolge der Faschisten bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Er entwickelt ein Programm, das dem Kapital erlaubt, weiterhin Profit zu machen, ja, die Arbeitslosigkeit zurückzudrängen, ohne den katastrophalen Weg der Hochrüstung zu gehen.

Drei Artikel über Anna Seghers und deren Auseinandersetzung mit Walter Janka bilden den Hauptinhalt des Abschnitts über schöne Literatur: ein älterer Essay „Über die Unpraktischheit der deutschen Intellektuellen“ (von 1944) samt heutiger Fortschreibung beenden den Band.

Es ist mal wieder ein typischer J.K.-Band: Immer zum Weiterlesen, oft zum Nach- und Weiterdenken, manchmal zum Widerspruch anregend. Zu hoffen ist, daß es nicht die „letzten Gedanken“ J.K.s bleiben werden. (hap)

Jürgen Kuczynski: „Letzte Gedanken?“, PapyRossa-Verlag Köln 1995, 24,80 DM, ISBN 3-89438-094-2.