„Hier wird Krieg gegen die Bevölkerung geführt.“

Reise zum Newrozfest nach Kurdistan

Ein alter Mann. Blut läuft aus einer Platzwunde an der Stirn. Groß prangt das Bild auf der Titelseite der Sonntagszeitung in Istanbul. Der Mann ist Kurde, verrät die Bildunterschrift. Einstimmung auf Kurdistan, das nächste Reiseziel? Nicht ganz. Die Aufnahme wurde in Dortmund geschossen.

„Das harte Vorgehen gegen die Kurden in Deutschland kommt für unsere Regierung in Ankara wie gerufen, ist Wasser auf die Mühlen ihrer Propaganda“, erklärt Aslan Yildiz von der Tageszeitung Demokrasi seinen deutschen Besuchern. Eine Einschätzung, die der Delegation aus Norddeutschland in den nächsten Tagen noch öfter begegnen soll.

Doch zunächst einmal nutzt man einen Zwischenstop am Bosporus, um sich bei türkischen Journalisten über die politische Situation zu informieren. In wenigen Tagen werden die Kurden ihr Neujahrsfest Newroz feiern, und schon jetzt zieht der Staat die Schrauben an. Allein am Vortag, so erfahren die Gäste, sind beim örtlichen Menschenrechtsverein rund 300 Verhaftungen gemeldet worden. Mitunter würden ganze Familien mitgenommen und gewöhnlich foltere man die Inhaftierten.

Als Adressen ausgetauscht sind und Abschied genommen wird, bleiben die Zeitungen, in denen eben noch interessiert geblättert wurde, liegen. Demokrasi gilt als linke Zeitung, wurde oft verboten und unter anderem Namen neu herausgebracht. Man weiß nicht, was die Delegation in Kurdistan erwartet. Frühere Reisegruppen waren regelmäßig durchsucht worden. Also lieber kein Risiko eingehen, um die kurdischen Gesprächspartner dort nicht zusätzlich zu gefährden.

Am nächsten Tag landen die deutschen Newroz-Beobachter in einer anderen Welt - im Kriegsgebiet, wie es auch türkische Polizisten freimütig nennen. Batman: Erdölzentrum an der Grenze zu Syrien, schlaglochübersäte Straßen, schmutzige Häuser, zahllose halbfertige Rohbauten, Slums. Alles inmitten einer fruchtbaren aber traurig-baumlosen Landschaft, durch die sich träge der Tigris schlängelt.

Am Flughafen Erstaunen, daß keine Sicherheitsbeamten warten. Als aber der Bus die Passagiere in die Stadt bringt, ist die Gruppe schnell von auffällig-unauffälligen Gestalten umgeben. Die scheinen zunächst etwas verwirrt. Man hat, wie später zu erfahren ist, finnische Parlamentarier erwartet. Doch schon bald hat sich das Durcheinander gelegt, und die Beschattung ist organisiert. Rund um die Uhr wird über die deutschen Besucher gewacht werden, in ihrer Abwesenheit wird man täglich ihre Hotelzimmer durchsuchen, im Restaurant mit gespitzten Ohren am Nebentisch sitzen. Natürlich alles nur zum Schutz der Gäste.

Der Ort ist voll von Militärs und Polizei. Allenthalben sind Bewaffnete zu sehen, in den Straßen patrouillieren gepanzerte Fahrzeuge mit aufgesetztem MG und Manschaftswagen, auf den Pritschen Soldaten mit schußbereiten Gewehren. Hin und wieder sind auch Panzerspähwagen zu sehen.

In zwei Tagen ist Newroz, die Stimmung in der Stadt ist gespannt. Hier, im Herzen Kurdistans, sind alle Feiern verboten. Weiter im Westen, in den türkischen Metropolen, gibt es offizielle Feiern. Nicht ungeschickt versucht die türkische Regierung, aus dem kurdischen Freiheitsfest einen Nationalfeiertag zu machen. Im Südosten jedoch, in den Kriegsgebieten, wird alles Feiern unterdrückt.

„Die Türken dürfen Newroz feiern, die Kurden nicht“, meint bitter Mehmet Dogu, zweiter Mann der Erdölgewerkschaft Petrol Is am Ort. „In Batman ist es wie in Deutschland: Alle Newroz-Feiern werden verboten“, klagt man bei der Demokratischen Volkspartei (HADEP). Dort hatte man ein Fest zum kurdischen Neujahrstag beantragt, aber keine Genehmigung bekommen.

Dieses Jahr wird es in Batman ruhig bleiben. Relativ ruhig im Vergleich zur blutigen Repression der vergangenen Jahre. In der Stadt wird es zwar vereinzelt Schießereien geben, aber im Vergleich zum letzten Jahr wird das nichts sein, wie man den Deutschen versichern wird. Das mag auch am Waffenstillstand der PKK liegen. Kleine Feiern, die hier und da spontan organisiert werden, lösen Militär und Polizei schnell auf. Es gibt einige Verhaftungen, darunter auch Schüler. Die genaue Zahl wird am Freitag noch nicht bekannt sein, wenn die Delegation Batman wieder verläßt.

Unübersehbar die Ölanlagen: 50.000 Barrel werden pro Tag in der Region gefördert, doch der Reichtum fließt mit dem Rohöl in den Westen. „Kurdistan soll nicht industrialisiert werden“, erläutert Mehmet Dogu einen der Gründe für die verfahrene Situation: „Es gibt daher bei uns keine Anlagen zur Weiterverarbeitung.“

Der erbärmliche Zustand der Infrastruktur bestätigt seine Aussagen: Vor allem in den Außenbezirken sind die Straßen nicht einmal geteert. Dort leben in slumähnlichen Behausungen einige hunderttausend Flüchtlinge, die vom Militär aus ihren Dörfern vertrieben wurden. Offiziell hat Batman 120.000 Einwohner, inoffiziell ist diese Zahl seit 1990 auf 500.000 angewachsen.

Die deutschen Besucher wollen sich die Flüchtlingssiedlungen anschauen. Doch man verwehrt ihnen, aus dem Wagen zu steigen. Die ständige Beschattung verhindert den Kontakt zu den Bewohnern. So bleibt nur eine Rundfahrt durch die Elendsquartiere.

Das Dorf ist in ihnen noch allgegenwärtig. Schafe, Ziegen, Hühner suchen zwischen den rohen Steinbauten nach Eßbarem. Einige haben sich mit aufgetrennten und plattgehämmerten Ölkanistern einen kleinen Hof abgetrennt, in dem Gemüse gezogen wird. Das Motiv eher Not, als Schrebergarten-Mentalität: Die Vertriebenen erhalten keinerlei Unterstützung vom Staat, und Arbeit ist mies bezahlt und schwer zu finden.

Die meisten der neuen Einwohner, so ist später bei der Gewerkschaft zu erfahren, sind nicht registriert. Ihnen fehlen meist Papiere, die sie sich vom Gouverneur ihrer Provinz ausstellen lassen müßten. Doch dahin gibt es kein Zurück. So bleiben sie denn von den Wahlen ausgeschlossen und können mitunter nicht einmal die Kinder zur Schule schicken.

Eine Fahrt übers Land vermittelt eine Idee von dem, wovor die Menschen geflohen sind. Es geht nach Mardim, unmittelbar an der syrischen Grenze gelegen. In den Dörfern um Mardim herum siedelten einst viele syrisch-orthodoxe Christen. Das war bis in die 80er Jahre so. Inzwischen leben die meisten in Europa.

Ein Kloster ist geblieben. Die Gäste werden herumgeführt und bekommen die Schätze aus alten, für die christlichen Gemeinden besseren Zeiten gezeigt. Der Ort hatte schon den Zoroastern in vorchristlicher Zeit als Tempel gedient.

Auch die Herren in Zivil zeigen sich sehr interessiert an der Geschichte des Klosters. Ein Gespräch über die Gründe der Emigration verbietet sich. Den Mönchen steht das Bedauern ins Gesicht geschrieben. An der Stirnseite des prunkvollen Empfangszimmers hängt an prominenter Stelle und durch die Größe hervorgehoben Atatürk zwischen den Bildern von Metropoliten und Patriarchen.

Der Weg zurück führt - noch in Mardim - vorbei an einem riesigen Gefängniskomplex. Abseits der Straße - mal in der Ferne, mal näher - zeigen sich gelegentlich halbverfallene Ansiedlungen. Brandspuren sind nicht zu sehen, doch verbrannte Weinstöcke und Obstbäume zeugen von dem, was vorgefallen ist. Das Militär gräbt das Wasser ab, in dem die Guerilla wie ein Fisch schwimmt.

Vor und hinter jedem Dorf Militär- oder Polizeiposten. Alle Autos werden kontrolliert, nur das der Deutschen nicht. Ihnen soll Normalität demonstriert werden. In den Kasernen am Wegesrand und an den Sperren immer wieder Panzerspähwagen, mancher davon mag aus NVA-Beständen stammen. An einem besonders ausgebauten Posten wird auch die deutsche Delegation angehalten. Halbwüchsige fuchteln lachend mit Gewehren rum. Hinter den Häusern, halbverdeckt von einer Gartenmauer, stehen zwei Schützenpanzer.

Zurück in Batman stehen Gespräche mit Petrol Is und HADEP auf dem Programm. Die Gewerkschaft residiert in einem großen Haus, vom Hotel nur durch die Bahngleise getrennt, die die Stadt teilen. Alles wirkt normal, etabliert, sieht man von den Zivilpolizisten ab, die die Menschenrechtsbeobachter bis ins Foyer begleiten.

Man nimmt im Konferenzraum im obersten Stock Platz. Der Sitz des Vorsitzenden bleibt leer. Nimettullah Sözen sitzt seit sechs Monaten in Untersuchungshaft. Er soll die PKK unterstützt haben. „Ein Standardvorwurf. Natürlich gibt es dafür keine Beweise, aber das Verfahren wird durch die Verschleppungstaktik des Staatsanwalts immer weiter in die Länge gezogen“, meint Mehmet Dogu, Sözens Stellvertreter.

Die Verhaftung des Gewerkschafters ist kein Einzelfall. Erst am Vortag wurde ein weiterer Petrol Is-Funktionär, Abdulkadir Ekinci, verhaftet. Keiner weiß, wo er ist. Auch das ein Baustein des Terrors: Das Verschwindenlassen gehört in der Türkei und Türkisch-Kurdistan zum Alltag. Später ist zu erfahren, daß man ihn auf der Polizeiwache festhält. Daß dort gefoltert wird, ist ein offenes Geheimnis. Nicht nur Mehmet Dogu kennt das aus eigener Erfahrung: Jeder einzelne seiner Vorstandskollegen hat schon die Bekanntschaft der uniformierten Schinder machen müssen.

„Die Türkei führt in Kurdistan Krieg gegen die Bevölkerung“, erklären die kurdischen Gewerkschafter der Delegation. „Vor drei Monaten hat die PKK einseitig einen Waffenstillstand erklärt. Das Militär denkt jedoch nicht daran, darauf einzugehen. Verhaftungen und Verfolgungen gehen weiter.“ Über 500 Oppositionelle seien in den letzten zwei Jahren in Batman auf offener Straße ermordet worden, darunter auch drei Vorstandsmitglieder der Erdölarbeiter.

Daß das türkische Militär seinen Krieg nicht zuletzt mit deutschen Waffen führt, ist in Kurdistan für niemanden ein Geheimnis: „Sorgt bei Euch zuhause dafür, daß die Waffen, die man hier auf uns richtet, zurückgenommen werden“, bekommen die deutschen Besucher zum Abschied mit auf den Weg.

Auch HADEP hat schon eine ganze Reihe seiner örtlichen Funktionäre durch staatlich gedeckten Mord verloren. Zweimal wurde die Partei bereits verboten und unter anderem Namen neugegründet. Aber die kurdische Bevölkerung sieht in ihr offensichtlich ihre Vertretung: Bei Wahlen erhält sie in Batman über 60% der Stimmen.

Bei HADEP erkundigen sich die Deutschen nach dem Schicksal abgeschobener Flüchtlinge. „Sie werden gleich nach der Ankunft verhaftet und gefoltert“, lautet die Antwort. Der Oberstaatsanwalt in Ankara habe gerade verkündet, daß diejenigen, die jetzt aus Deutschland abgeschoben werden sollen, vor‘s Staatssicherheitsgericht gestellt würden.

„Sagt den Menschen in Deutschland, daß wir unser Land nicht verlassen wollen. Wir wollen hier kämpfen und in Freiheit leben“, bittet Sahin Altun, als es heißt, Abschied zu nehmen. Inzwischen befindet er sich selbst in Haft. (wop)

Die Tageszeitung „Demokrasi“ ist einigen in Deutschland noch unter dem Namen „Yeni Politika“ oder „Özgür Ülke“ bekannt. Das oppositionelle Zeitungsprojekt hat eine wechselvolle Geschichte, in der es seit 1990 immer wieder zu Neugründungen kam, um Verboten auszuweichen. Vor sechs Jahren erschien „Halk Ercili“ als Wochenzeitung, aus der bald „Yeni Ülke“ wurde. Schließlich entstand daraus „Gündem“, die erstmalig täglich herauskam. Im Dezember 1993 stürmten Polizeieinheiten die Büros der Zeitung. Die Einrichtung wurde verwüstet, die Mitarbeiter verhaftet. Ein Jahr später - „Gündem“ ist inzwischen verboten und „Özgür Ülke“ neugegründet - zerstört eine Bombe das Redaktionsgebäude. Ein Mensch stirbt, zwanzig werden verletzt. Dokumente belegen Äußerungen der damaligen Regierungschefin Tansu Ciller, die sich kurz vor dem Anschlag über die „Unterstützung des Separatismus“ in einigen Zeitungen beklagt hatte. Dagegen müsse etwas unternommen werden.

Im Februar ’95 muß nach einem Gerichtsbeschluß auch „Özgür Ülke“ schließen. Ihr folgen „Yeni Politika“ und ab August ’95 „Özgür Yasa“ als Wochenzeitung. Seit Dezember ’95 erscheint schließlich wieder eine Tageszeitung, diesmal unter dem Namen „Demokrasi“.

25 Mitarbeiter der Zeitung wurden im Laufe der Jahre ermordet, hunderte verhaftet und dabei gefoltert. Auch im Augenblick befinden sich einige noch in Haft. Mit hohen Strafgeldern und Beschlagnahmungen hat man versucht, die Zeitungsmacher zu ruinieren. Bisher zum Glück erfolglos.