Sozialist und Nestor der deutschen Gesellschaftswissenschaften

Im jüngst erschienenen 2. Teil seiner Memoiren behandelt Jürgen Kuczynski die Jahre 1989 bis 1994. Gegenüber den Jahren 1987-1989, deren Tagebuchblätter er im Auszug unter dem Titel „Schwierige Jahre – mit einem besseren Ende?“ im Jahre 1990 veröffentlicht hatte, behandelt dieses Buch den Zusammenbruch der Gesellschaft der DDR. und deren Verwandlung in eine Armenkolonie Westdeutschlands. Wer J. K. kennt (und wer kennt ihn nicht? – Ab in die Ecke: Schämen!), wird sich nicht wundern, eine für die Gegenwart negative Analyse, für die nächste Zukunft, dito Prognose, für die fernere Zukunft jedoch eine fröhliche Aussicht vorzufinden. „In der Ex-DDR ist die Rate der Arbeits-losigkeit heute etwa achtmal so hoch wie in der alten BRD. In der Ex-DDR ist die Rate der Inflation heute etwa viermal so hoch wie in der alten BRD. In der Ex-DDR ist die Zahl der Obdachlosen bei nur einem Viertel der Bevölkerungszahl fast ebenso hoch wie in der alten BRD.“ (S. 140f)

Was mich – als „Besser-Wessi“ – beim Lesen des Buches am meisten berührt hat, waren jedoch nicht diese „irgendwie bekannten“ Tatsachen, sondern die in den Tagebuchausschnitten enthaltenen Alltagsgeschichten aus einem besetzten Land, das industriell wie auch geistig schlicht plattgemacht werden soll. So finden sich etliche Aufzeichnungen über Besuche von Freunden aus der DDR-Intelligenz, die fast allesamt „abgewickelt“ worden sind. Die Akademie der Wissenschaften der DDR wird nicht als Nachfolgerin der Leibniz’schen anerkannt, die Pensionen der DDR-Professoren werden auf 2.000 DM gekürzt, um den Erhalt der Renten für Opfer des Faschismus muß gekämpft werden ...


Ganz im Gegensatz zu dieser tristesse steht das immer noch fröhliche, arbeitsame und – selbstkritische Leben des 92jährigen Gelehrten. Fröhlich: Freude an Veranstaltungen, Freude an seinen Kindern, Enkeln, Urenkeln und – though last, first: an seiner Frau Marguerite. Arbeit: Seit 1930 ist kein Jahr vergangen, in dem Jürgen Kuczynski nicht die Menschheit mit einigen Büchern von ihm beglückt hat (zugegeben, es gibt auch die, die nicht erfreut waren ...). Selbstkritik: „Den größten Schock meines wissenschaftlichen Lebens hat mir ein Brief von Doris Gercke versetzt ...“ Es ging darum, daß im 5. Bande der Geschichte des Alltags des deutschen Volkes „kein einziges Wort über das Verschwinden der Juden aus der deutschen Gesellschaft“ zu finden war. Bei J. K. löste dies offenbar geradezu Entsetzen aus: „Dabei war ich in den drei Jahren meiner illegalen Arbeit in Deutschland natürlich doppelt gefährdet als Kommunist und als „von jüdischer Rasse“. Das Ganze ist absolut unglaublich.“ (S. 143-145)

Die Zukunft: „Arbeite eifrig an dem Artikel-Band für PapyRossa und habe Freude daran, zu so manchen älteren Aufsätzen Vorbemerkungen im Rückblick zu schreiben. Ich glaube, Artikelsammlungen kann ich noch lange herausgeben. Dazu sind die Gegenwart und die Zukunft wahrhaftig interessant genug. Sie mit Artikeln zu begleiten, dazu bin ich noch wach genug.“ (S. 93f) Was die fernere Zukunft betrifft: „Der einzige Trost in der gegenwärtigen Situation ist, daß man weiß, wie auch Engels sagt, daß die Geschichte im Zickzack verläuft, und daß sich letztlich stets die fortschrittliche Zicklinie durchsetzt.“ (S. 92) (hap)

Jürgen Kuczynski: „Ein hoffnungsloser Fall von Optimismus?“, Aufbau-Verlag Berlin 1994, 332 S., ISBN 3-351-02420-7, 39,90 DM.