Tugend ist die wahre Gewalt!

Lessings „Emilia Galotti“ im Schauspielhaus

„Verführung ist die wahre Gewalt!“ ruft die entehrte Emilia Galotti aus, als sie am Schluß von Gotthold Ephraim Lessings Klassiker den ehrenrettenden Tod von der Hand ihres Vaters erbittet. Und dieses Zitat hat sich die Neue Künstlerische Leitung (NKL) der Bühnen Kiels als Motto für die gesamte Spielzeit gewählt. Insofern durfte man äußerst gespannt sein, wie NKL-Mitglied Nikolaus Büchel dieses Stück bürgerlichen Bildungsgutes inszenieren würde.

Lessings als „bürgerliches Trauerspiel“ tituliertes Meisterwerk steht an sich für ein Aufbegehren der Moralvorstellungen der Aufklärung gegen die amoralische Dekadenz des Adels am Vorabend der Französischen Revolution. Par Excellence entwickelt Lessing hier (Uraufführung 1772) den Moralbegriff der aufstrebenden Klasse des Bürgertums, die kurz vor der Machtübernahme steht. Der Prinz von Guastalla ist der Unsympath, der sich das Bürgerkind Emilia nimmt, weil er glaubt, daß sie ihm als eine seiner Untertanen gehört wie seine Ländereien. Unterstützt wird er bei diesem Unterfangen von der intriganten Hofschranze Marinelli, dem keine Kabale zu hinterhältig ist, um das Begehren des Prinzen zu befriedigen. Die positiven Figuren sind die keusche Emilia und ihr tugendsamer Vater Odoardo Galotti, der nicht zuletzt wegen seiner moralischen Standfestigkeit schon seit langem mit dem Prinzen im Clinch liegt.
 




So die Anlage des Stücks, oder besser eine mögliche und verbreitete Lesart, denn Büchel und sein Ensemble wählen eine ganz andere, ungewöhnliche Sicht auf den Klassiker, ja bürsten ihn geradezu gegen den Strich. Schon am Ausmaß des Premierenapplauses wurde deutlich, welchen Figuren folgerichtig die Sympathie des Kieler Publikums galt, nicht etwa der farblos-hysterischen Emilia und ihrem zum bloßen Tugendbold verzerrten Vater, auch nicht der gluckenhaften und vor lauter Moral völlig beschränkten Mutter (Gabriele Isakian). In Büchels Inszenierung glänzten der Prinz, von Matthias Klie meisterhaft als gelangweilter aber dennoch um so leidenschaftlicherer und leidensfähiger Bohemien gegeben, und - allen voran - Jürgen Winks Marinelli, ein trotz, oder vielleicht gerade wegen seiner Abgefeimtheit, liebenswerter Schelm.

Schon in Lessings Vorlage sind der Prinz und Marinelli allein von der Menge des ihnen zugewiesenen Dialogs die eigentlichen - heimlichen - Hauptfiguren. Büchel hält sich daran und widmet diesen beiden die größte Aufmerksamkeit. In seiner Inszenierung sind nicht die Galottis die Opfer und „die Marinellis“ die Täter, nein, der Prinz wird als Opfer seines dekadenten Ästhetizismus gezeigt, Marinelli wiederum als Opfer seiner Intelligenz, die er im bedingungslosen Dienst für seinen Herrn instrumentalisiert findet. Fast faustisch mutet dieses Paar an, der Prinz als begehrender Intellektueller, Marinelli als unfreiwilliger Mephistopheles - mit deutlichen Ambitionen auf die Seele des ihm sich Anvertrauenden und einem diabolischen Lächeln, das sich entgegen aller Hof- und Theateretikette immer wieder über seine Lippen schleicht.

Auch Marinellis Helfershelfer bei den Intrigen, Pirro (Matthias Unruh) und Angelo (Imanuel Humm), kommen unter Büchels Regie gut weg. Aus eigentlich verschlagenen Meuchelmördern werden Figuren, die sich mit Bauernschläue und einer gehörigen Portion Selbstironie - visualisiert nicht zuletzt durch die hervorragenden Kostüme von Annette Wolters - durchs Leben lavieren, das ihnen den Part der bösen Buben zugewiesen hat. Mitten im bürgerlichen Trauerspiel verlangen sie als Vollblutkomödianten dem Adressaten, dem Bürgertum in den Theatersesseln, so manchen herzlichen Lacher ab.
 


Und die eigentlichen Hauptfiguren, die Galottis? Fast schon bestürzend, wie sie ihrem hohen Anspruch an Moral zum Opfer fallen und dabei zu dem werden, was auch aus dem einstmals revolutionären Anspruch des Bürgertums geworden ist: die Moral des Spießers. Besonders Odoardo wirkt in seinem moralinsauren Rigorismus lächerlich und ist mit dem zurückhaltend-hilflosen Rainer Jordan fast perfekt besetzt. Elisabeth Antoinette debütiert in der Rolle der Emilia recht unglücklich, freilich genau die Anlage der Regie befolgend: Ihre Emilia ist keine „starke Frau“ (in deutlichem Gegensatz zu Andrea Schönings enorm überzeugender Gräfin Orsina), sondern ein naives Kleinchen, das den hohen moralischen Anspruch des Vaters eben nur oberflächlich internalisieren konnte. Wenn der Prinz vor ihr kniet, sie zu umgarnen, dann breitet sie in einer dann fast schon wieder rührenden Kindfraugeste die Arme. Und ihre Augen sprechen Bände der Wollust, wenn sie dem Prinz bebend in dessen Gemach folgt. Emilia ist die, der Gewalt angetan wird, ohne Zweifel - doch wohl weniger von den linkischen Verführungskünsten des Prinzen, sondern von den Stacheln der Tugend, die ihr der Vater lange vor dem abschließenden Dolch ins Herz gesenkt hat. Am Widerstreit zwischen dem Anspruch der bürgerrevolutionären Tugend gegen die Dekadenz des Adels und der „Sprache des Blutes“, nämlich auch ihrerseits heftigem Begehren, zerbricht sie, nicht an der Entehrung.

Gegen Lessings Stück wurde noch von Zeitgenossen eingewandt, daß der Freitod Emilias aufgrund einer vielleicht noch nicht einmal stattgefundenen, sondern möglicherweise nur heimlich-unheimlich ersehnten Entehrung reichlich konstruiert wirkt. Offenbar ähnliche Probleme hatte Regisseur Nikolaus Büchel mit dem Stoff - und hat mit seiner Lesart auf dieses Problem kongenial reagiert. Wann ist „Verführung die wahre Gewalt“? Büchels Inszenierung gibt Antwort, eine Antwort die 200 Jahre nach der Revolution gegeben wird, die Lessing wohlmeinend herbeizumoralisieren versuchte: Verführung ist dann Gewalt, wenn vorher ein in seinen Anforderungen unmenschlich gewordenes Moral- und Ehrensystem denjenigen zum Verführer stempelt, der wie der Prinz einer Liebe auf den ersten Blick besinnungslos verfällt. Und so verwundert es nicht, daß der aufmerksame Zuschauer - wenn auch geheim und nicht ausgesprochen - eher die Unbedingtheit der Liebe eines zugegebenermaßen dadurch auf Abwege geratenden Prinzen goutiert statt die Unbedingtheit moralischer Perfektion, wissend, „die Organe der Volksmacht (die nach dem Bürgertum kommen werden), helfen auch gefallenen Mädchen“.

(jm)