Aufgeblättert:

Ein anderer Geschichtsverlauf

Robert Harris beschreibt in seinem Roman einen anderen Geschichtsverlauf als den real stattgefundenen: Den Zweiten Weltkrieg haben die Nazis gewonnen, sich Europa bis zum Ural unterworfen, England besiegt und den USA einen Frieden aufgezwungen, der diesen keinen Gewinn brachte.

Die Handlung des Romans setzt im April 1964 ein. Ein führender Nazi wird ermordet. Der Sturmbannführer Xaver März wird mit der Aufklärung des Mordes beauftragt. Es stellt sich heraus, daß das Opfer Josef Bühler ist. Während der Untersuchung kommt März allmählich dahinter, daß es im Laufe der letzten Monate mehrere ungeklärte Todesfälle führender Nazis gegeben hat. März bemüht sich, die Verbindungen zwischen diesen Personen herzustellen, wobei er - als Kriminalist - mit der Gestapo, genauer dem SS-General Odilo Globocznik, zusammenstößt. Dennoch findet er die Verbindung: Alle Teilnehmer an der Wannsee-Konferenz sind nacheinander „ausgeschaltet“ (sprich: ermordet) worden. Es gelingt März, das Protokoll dieser Konferenz aufzutreiben, obwohl sich die Gestapo krampfhaft bemüht hat, alle Spuren der Judenvernichtung zu beseitigen.

Die Morde wurden begangen, als sich ein Apeasement-Politiker in den USA, Joseph P. Kennedy, zu diesem Zeitpunkt Vizepräsident, vorher (1938) Botschafter in Deutschland, um eine Verbesserung der Beziehungen bemühte.


Faszinierend an diesem Roman fand ich die Vermischung von Fiktion und Dokumentation; so zitiert Harris an etlichen Stellen authentische Dokumente der Nazis, und außer den ermittelnden Kriminalisten haben fast alle Personen im Roman tatsächlich gelebt. Ihr Lebensweg bis 1942 ist der reale. Da tauchen denn auch die Akten des Reichsaußenministeriums (speziell Ausarbeitungen des Unterstaatssekretärs Martin Luther) auf. Erst der folgende Verlauf wird dann fiktiv: So ist die Mehrzahl der erwähnten Nazis unmittelbar nach 1945 verurteilt und hingerichtet worden, nur Arthur Nebe und Heinrich Müller gelten seit Kriegsende als verschollen, Adolf Eichmann wurde 1962 in Jerusalem hingerichtet.

Und noch eins macht den Reiz des Romans aus: Die Atmosphäre, die Harris beschwört, ist die der Adenauer-Republik. Die Verdrängung hat tatsächlich annähernd so stattgefunden, wie sie im Roman durchklingt. Und wenn sich führende Kriminalisten der BRD der 60er Jahre auch nicht mehr als „Sturmbannführer“ bezeichnen - nur zu viele haben sich mit entsprechender Vergangenheit in die Polizei der Bundesrepublik hinübergerettet. Daß die Hauptpersonen des Romans, neben dem Helden März, allenfalls nominell der SS angehörten (mit „Ehrenrängen“ versehen), läßt begreifen, weshalb der Verlag dieses Buch im Waschzettel als „umstritten“ bezeichnet: Sowenig die Wehrmacht eine annähernd gleiche Mitschuld an der Schoa haben darf, sowenig dürfen es die führenden Bürokraten der diversen Ministerien: Zuviele davon wurden in gleicher oder höherer Position in den Apparat der Bundesregierung übernommen, in der Realtität eben auch. Diese Tatsache allerdings muß der Leser sich aus anderen Quellen erschließen. (Hans-Georg Pott)

Robert Harris: Vaterland. Aus dem Englischen von Hanswilhelm Haefs. Wilhelm Heyne Verlag, München 1994, Heyne Taschenbuch 8902, 16,90 DM