Ein Sozialist aus Freundlichkeit

Zum 40. Todestag von Bertolt Brecht

Am 14. August jährte sich zum 40. Mal der Todestag von Bertolt Brecht. Aus diesem Anlaß einige Anmerkungen über den „Stückeschreiber“, wie er sich selbst in bewußter Opposition zum bürgerlichen Begriff des „Dichters“ nannte.

Brecht 1940

Bertolt Brecht, eine Legende - in der DDR ein halbgeliebter Sozialist auf dem Terrain des „deutschen Kulturerbes“, in der BRD ein ungeliebter Klassiker, der neben Goethe und Schiller gestellt wird. Die Großen im Reich des Wortes werden von allen nach Belieben vernutzt, eingeordnet, beurteilt, je nach ideologischer Präposition. Brecht selbst ahnte das und liebäugelte auch durchaus damit, einer unter den von allen verbräuchlichen „Großen“ zu sein. Allein, dies wissend, schon zu Lebzeiten ein „Klassiker“ zu sein, war er auch ein Meister des Understatements, wenngleich er dann, wenn er tiefstapelte, zu seiner wahren Gestalt als Literat zurückfand. Auf seinem Grabstein, so wünschte er, sollte stehen: „Er hat Vorschläge gemacht“. Und nur IronikerInnen fügten hinzu: „Wir haben sie angenommen“.

Brechts Vorschläge anzunehmen, freilich, ist nicht das Verkehrteste. Er war einer der wenigen dem Selbstverständnis nach sozialistisch-proletarischen Schriftsteller, die die Widersprüche zwischen Anspruch an die Integrität der eigenen Person und des Werkes und dem zutiefst menschlichen Scheitern an diesem Anspruch nicht nur aushielten, sondern, zumindest gelegentlich, auch thematisierten. Eines seiner weitschauendsten Gedichte ist das „An die Nachgeborenen“. Darin schreibt Brecht:

„Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!
Das arglose Wort ist töricht. Eine glatte Stirn
Deutet auf Unempfindlichkeit hin. Der Lachende
Hat die furchtbare Nachricht
Nur noch nicht empfangen.

Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
Weil es Schweigen über so viele Untaten einschließt!
(...)

Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut
In der wir untergegangen sind
Gedenkt
Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht
Auch der finsteren Zeit
Der ihr entronnen seid.

Gingen wir doch, öfter als die Schuhe die Länder wechselnd
Durch die Kriege der Klassen, verzweifelt
Wenn da nur Unrecht war und keine Empörung.

Dabei wissen wir doch:
Auch der Haß gegen die Niedrigkeit
Verzerrt die Züge.
Auch der Zorn über das Unrecht
Macht die Stimme heiser. Ach, wir
Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit
Konnten selber nicht freundlich sein.

Ihr aber, wenn es so weit sein wird
Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist
Gedenkt unser
Mit Nachsicht.“

Geschrieben hat Brecht dieses Gedicht in der Erfahrung der Emigration (im dänischen Svendborg), also einer Erfahrung der völligen Ohnmacht gegenüber dem Faschismus, der in Deutschland und seit 1939 in Europa tobte und vor dem er erst nach Dänemark, dann über Schweden in die USA floh. Warum findet er diese Worte, die nichts von Anklage haben, sondern um Nachsicht bitten für die, die das Gemetzel und den Völkermord nicht zu verhindern wußten? In der Tat stellt dieses Gedicht an die Nachgeborenen, also an uns, einen Grad von Menschlichkeit dar, der unübertroffen ist. Kein berechtigter Haß drückt sich hier aus, nein, Brecht spricht von „Freundlichkeit“. Und er bemängelt, daß denen, die wollen, daß „der Mensch dem Menschen ein Helfer ist“, die Stimme heiser wird im Kampf gegen den Faschismus.

Die Literaturkritik in Ost und West hatte gerade mit dieser Art von Äußerungen Brechts ihre Probleme. Über das zitierte Gedicht sind dem Autor dieses Nachrufes etwa ein dutzend Interpretationen bekannt. Nur die wenigsten dieser erkennen das humanistische Anliegen des Autors, das, so naiv es angesichts der damaligen (und unter anderen Bedingungen gegenwärtigen) Lage zu sein scheint, das benennt, was Sozialismus ausmacht. Brecht nennt diese Quintessenz „Freundlichkeit“. Die Kategorie Mensch steht für ihn im Vordergrund, ein Mensch der zweifeln, verzweifeln und fehlgehen kann. Dem oder der mit dem Text Umgehenden bleibt es überlassen, diese Botschaft anzuwenden, vielleicht auch auf manchen Stasi-Offizier, dem die denunzierende Stimme und das Handeln im Glauben, für die gute Sache zu kämpfen, „heiser“ wurde? Vielleicht sollten wir auch derer „mit Nachsicht gedenken“.

Brecht 1928

Schwerer noch wiegt Brechts Bekenntnis der „Unmöglichkeit“ von Ästhetik („Gespräch über Bäume“) in den „finsteren Zeiten“. Jedoch forderte er auch diese Möglichkeit ein. „In den finsteren Zeiten / Wird da auch gesungen werden? / Da wird auch gesungen werden. / Von den finsteren Zeiten.“ Dieses einfache Motto stellte er dem zweiten Abschnitt der „Svendborger Gedichte“ voran und schrieb damit Generationen von linksorientierten Literaten ein Programm ins Stammbuch.

Doch Brecht war nicht nur bedingungsloser Humanist, sondern auch ein scharfer und seit der Mitte der 20er Jahre auch marxistisch geschulter Analytiker des sich ausentwickelnden Kapitalismus. Beispielhaft, weil auch die Entwicklung eines zunächst anarchistischen, später marxistischen Literaten zeigend, ist der „Dreigroschen“-Komplex. Vier Variationen über das Thema von John Gays „Beggar‘s Opera“ hat Brecht verfaßt. Die Reihe beginnt mit der „Dreigroschenoper“, einem Theaterstück, das die Vorlage bereits kongenial adaptiert, aber noch im „kulinarischen“ Theater, wie Brecht es nennt, vernutzbar verharrt. Mit der „Dreigroschenoper“ gelingt Brecht in der Zusammenarbeit mit Kurt Weill, der die Musik für die zahlreichen Songs schrieb, einer der großen Theatererfolge der „Goldenen Zwanziger“. Wissend, „in eine böse Sache geraten“ zu sein, transformierte Brecht den Stoff zum „Dreigroschenfilm“. In diesem Drehbuch wird deutlicher als im Theaterstück die industrielle Organisation des Gaunertums thematisiert. Der Satz fällt, daß derjenige ebenso Verbrecher ist, der eine Bank betreibt, wie der, der eine ausraubt. Die deutsche zeitgenössische Filmindustrie mag dem nicht folgen, verwirft das Drehbuch und schreibt es um. Brecht erwidert mit dem „soziologischen Experiment“ des „Dreigroschenprozesses“. Er strengt einen Urheberrechtsprozeß an, mit dem einzigen Ziel zu demonstrieren, daß unter den Bedingungen der kapitalistischen Verwertung ein Autor damit rechnen muß, daß sein Werk entgegen der ursprünglichen Intention benutzt wird. Sein Bericht über den Prozeß, den er geplanterweise verliert, gerät zu einer der ersten medientheoretischen Studien über das neue, damals noch junge Medium Film, die bis heute Gültigkeit hat. Auf den „Dreigroschenprozeß“ folgt der „Dreigroschenroman“, in dem der Autor den ursprünglich von John Gay stammenden Stoff in einen Roman konvertiert, der den Kapitalismus im Analogon des organisierten Verbrechens als Raubzug der Reichen gegen die Armen entlarvt.

In den 30er und 40er Jahren gießt Brecht sein marxistisches Studium in die Lehrstücke, die das Theater revolutionierten. Der ausgeprägteste Verteter des Lehrstückes, einer Art von Theater, in der weniger die Zuschauer, vor allem aber die Spielenden „etwas lernen“ sollen, ist „Die Maßnahme“. Darin schildert Brecht die Verwirrungen eines jungen Revolutionärs, der „das Gute“ wollend dauernd Fehler macht, sprich den Herrschenden in die Hände spielt, mit der Konsequenz, daß er von Genossen einverstanden, also auf eigenen Willen, ermordet in einer Kalkgrube landet. Mit diesem Werk hat Brecht einerseits die stalinistischen Prozesse der späten 30er Jahre vorweggenommen, andererseits die RAF inspiriert, die das Werk zur Pflichtlektüre erkor. Die Frage, die er stellt und die nicht minder virulent war als zur Zeit des „Deutschen Herbstes“, den die RAF 1977 hervorrief, lautet: Darf der revolutionäre Kampf im Kampf für die Menschlichkeit auch unmenschliche Mittel anwenden? Heiner Müller konterkarierte Brechts wohl unversöhnlichstes Lehrstück in seinem Stück „Mauser“ später mit dem Satz: „Das Gras noch müssen wir ausreißen, damit es grün bleibt.“

Aus der US-amerikanischen Emigration zurückkehrend siedelte sich Brecht in der DDR, in Ost-Berlin an. Dort war der kritische Geist, wenngleich mit dem „Berliner Ensemble“ mit einem eigens für ihn eingerichteten Theater ausgestattet, nicht bedingungslos beliebt. Zu stark war für die Herrschenden seine Opposition gegen einen von oben oktroyierten Sozialismus. 1953, nach dem Aufstand vom 15./16./17. Juni, schrieb er die berühmten und von vielen im Westen mißbrauchten Sätze, daß, wenn das Volk die Regierung kritisiere, die Regierung vielleicht lieber ein neues Volk wählen möge. Wenig später aber machte er den Kottau vor der DDR-Regierung und nahm seine kritische Äußerung zurück, was ihm noch heute - zurecht - angekreidet wird. Erneut war Brecht in der (inneren) Emigration, wovon seine „Buckower Elegien“ beredtes Zeugnis ablegen. In der ersten Elegie wird dies deutlich:

„DER RADWECHSEL“

Ich sitze am Straßenrand
Der Fahrer wechselt das Rad.
Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.
Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.
Warum sehe ich den Radwechsel
Mit Ungeduld?“

Brecht, ein Reisender in Sachen Sozialismus, der überall und nirgends beliebt und zuhaus war. Zu kritisch war sein Geist, zu widersprüchlich seine Praxis (auch und gerade in Bezug auf seinen Umgang mit Frauen), zu ästhetisch sein Schaffen. Aber: „Die Widersprüche sind die Hoffnungen“ schrieb er als Motto über den „Dreigroschenprozeß“. Und so mag auch ein abschließend zitiertes Gedicht aus seiner Feder („Lesebuch für Städtebewohner“, 1926) mehr Hoffnungen als Verzweiflung bewirken, vor allem, wenn mensch den letzten, von Brecht wohl bewußt in Klammern gesetzten und mit Rufzeichen versehenen Satz liest:

„Laßt eure Träume fahren, daß man mit euch
Eine Ausnahme machen wird.
Was eure Mutter euch sagte
Das war unverbindlich.
Laßt euren Kontrakt in der Tasche
Er wird hier nicht eingehalten.

Laßt nur eure Hoffnung fahren
Daß ihr zu Präsidenten ausersehen seid.
Aber legt euch ordentlich ins Zeug
Ihr müßt euch ganz anders zusammennehmen
Daß man euch in der Küche duldet.

Ihr müßt das Abc noch lernen.
Das Abc heißt:
Man wird mit euch fertig werden.

Denkt nur nicht nach, was ihr zu sagen habt:
Ihr werdet nicht gefragt.
Die Esser sind vollzählig
Was hier gebraucht wird, ist Hackfleisch.

(Aber das soll euch nicht entmutigen!)“

(jm)