Hungerstreik in türkischen Gefängnissen

Eine Zusammenfassung

Am 27. März 1996 begannen politische Gefangene in Diyarbakir einen Hungerstreik gegen die maßlose Gewalt des türkischen Staates in den Gefängnissen. Auslöser war ein Erlaß des damaligen Justiz- und heutigen Innenministers Mehmet Agar, aufgrund dessen viele Zeitungen, Bücher und andere Informationsquellen in den Gefängnissen zensiert, die Besuchszeiten verkürzt und immer wieder Gefangene in Isolationszellen und weit entfernte Gefängnisse verlegt wurden. Diese Verlegungen haben zur Folge, daß die Gefangenen oft in Ketten gelegt und zusammengepfercht mit dem Wachpersonal stundenlange Fahrten zu ihren Gerichtsterminen machen müssen und dort meist schon verhandlungsunfähig ankommen.

Außerdem verschlechtert die große Entfernung zwischen Gericht und Gefängnis die Zusammenarbeit mit den RechtsanwältInnen, die kaum Kontakt zu ihren KlientInnen halten können. Weiterhin stellte Mehmet Agar vorwiegend Faschisten als Wachpersonal in den Gefängnissen ein, die linke Gefangene durch sinnlose Zählappelle schikanierten und immer wieder Häftlinge brutal zusammenschlugen.

Kranke werden nicht in ein Krankenhaus eingeliefert oder einem Facharzt vorgestellt, sondern bekommen von Gefängnisarzt (wenn einer da ist) Schmerzmittel in kleinen Tütchen, deren Wirkung oder Zusammensetzung sie nicht kennen. Auch die in türkischen Gefängnissen verbreitete Tuberkulose wird auf diese sehr schlichte Weise „geheilt“.


Das Einsperren in Isolationszellen, Absonderung von anderen Gefangenen, Angriffe von Polizei- und Militäreinheiten sowie systematische Folter sind traurige Normalität. Von 1993 bis 1995 wurden 140 Gefangene ermordet, 271 Menschen „verschwanden“ in Polizeigewahrsam.

Isolationsknäste nach deutschem Vorbild

Der erste Hochsicherheitstrakt der Türkei in Eskisehir (nach dem deutschem Vorbild Stammheim) wird von türkischen Gefangenen „der Sarg“ genannt. Dieses Modell erfreut sich in der türkischen Regierung zunehmender Beliebtheit. So erklärte der jetzige Justizminster Sevket Kazan von der islamistischen „Refah Partisi“, man solle doch alle Gefängnisse zu Hochsicherheitstrakten umbauen. Doch die Einrichtung eines zweiten Isolationsknastes in Ümraniye/Istanbul führte zu einem Gefängnisaufstand im Januar 1996.

Dort protestierten die Gefangenen gegen die Einrichtung eines Istanbuler „Sarges“ und verlangten die Schließung von Ümraniye. Nachdem Gefangene verhinderten, daß einzelne von ihnen vom Wachpersonal verschleppt wurden, stürmte die Gendarmerie das Gefängnis. Zunächst wurde Betäubungsgas in die Zellen geworfen, dann schlug die Polizei erbarmungslos zu. Vier Menschen starben bei diesem Sturm auf das Gefängnis, sie waren laut einer Vertreterin von amnesty international „brutal zugerichtet worden und kaum noch zu erkennen“.

Nach dem Regierungswechsel hatte die „Refah Partisi“ Gefängnisreformen versprochen, doch einem Justizminister wie Sevket Kazan, der die Mörder von Sivas, welche das Hotel ansteckten, in dem eine alevitische Versammlung tagte, als Rechtsanwalt so beredt und erfolgreich verteidigt hatte, konnte nicht getraut werden. Und tatsächlich hatten sich unter der Erbakan/Ciller-Regierung die Bedingungen in den Gefängnissen weiter verschärft.

Etwa 6.000 Gefangene schlossen sich dem Hungerstreik an und wurden unterstützt von ihren Angehörigen, vom türkischen Menschenrechtsverein IHD, der HADEP und vielen anderen Organisationen. Und obwohl Sevket Kazan so fest davon überzeugt war, daß „die Gefangenen nicht sterben werden, weil sie heimlich Brot essen“, erlag am 21. Juli 1996 Ugur Aydin den Folgen des Hungerstreiks.

Die Demonstration am gleichen Tag vor dem Gefängnis Ümraniye wurde von der Polizei gnadenlos zusammengeknüppelt. Polizisten zerrten Menschen an den Haaren über die Straße, traten ihnen ins Gesicht und schlugen noch auf am Boden Liegende ein. Der Journalist Metin Gökdemir wurde während der Demonstration verhaftet und später ermordet aufgefunden.

Am 23. Juli starb nach 65 Tagen Todesfasten Altan Bertan Kerimgiller im Gefängnis Bayrampasa/Istanbul, am 24. Juli Ilginc Özkeskin ebenfalls in Bayrampasa. Ihre Leichname wurden nicht den Angehörigen übergeben, sondern irgendwo verscharrt.

Jetzt erst bequemte sich Herr Sevket Kazan, einen Krisenrat mit dem Provinzgouverneur und den Gefängnisdirektoren einzuberufen. Das Ergebnis war beeindruckend: Er drohte den Häftlingen, jede von ihm veranlaßte Verbesserung ihrer Situation wieder zurückzunehmen.

Protestaktionen in der BRD

Der Hungerstreik lief weiter, unterstützt auch durch Aktionen in Deutschland: So wurden mehrere Brandanschläge auf türkische Reisebüros und Vereine verübt. In Frankfurt besetzten TürkInnen und KurdInnen das SPD-Haus, bis sie von SEK-Beamten geräumt wurden. Auf ihre Forderung, eine Delegation in türkische Gefängnisse zu schicken, ging die SPD nicht ein. Etwa 60 Häftlinge in Fuhlsbüttel begannen einen Solidaritätshungerstreik.

In Kiel wurden eine Postfiliale und das Landeshaus besetzt, Irene Fröhlich unterhielt sich höflich, aber ahnungslos mit den DemonstrantInnen. Vorschriftsmäßig betroffen versprach sie, mal im Bundestag nachzufragen, was da eigentlich los sei in der Türkei. Ihr Büro wollte sie aber für einen solidarischen Hungerstreik keinesfalls zur Verfügung stellen.

Der CDU war selbst dieses fröhliche Sit-In zuviel „Unterstützung“. Die Grünen würden sich mit linksextremen TerroristInnen zusammensetzen, wurde gegeifert. Diese hätten doch sofort rausgeschmissen werden müssen. Immerhin seien diese Gruppen in Deutschland verboten. Dabei war doch Frau Fröhlich in der Sache immerhin weniger zusagefreundlich als z.B. Herr Lummer bei der PKK.

Und wenn selbst Herr Kanther sagt, die Türkei müsse „die menschenrechtlichen Verhältnisse in ihrem Lande mit größter Intensität verbessern“, kann den Grünen doch nun wirklich kein Vorwurf gemacht werden, oder?

In der Türkei starben mittlerweile weitere fünf Häftlinge, als Außenminister Kinkel in einem Brief an Tansu Ciller humanere Haftbedingungen forderte. Nach dem zwölften Toten in der Türkei drohte das Europaparlament endlich mit der schrittweisen Einstellung von Finanzhilfen. Inzwischen wurde Kazan selbst von den eigenen Medien kritisiert, und am 26. Juli konnte die VermittlerInnengruppe um den Schriftsteller Yasar Kemal die türkische Regierung zum offiziellen Einlenken bewegen. Kazan sicherte dieser Gruppe in einem Protokoll zu, daß das türkische Gefängnisgesetz im Sinne der Forderungen der Gefangenen reformiert würde, diese beendeten daraufhin ihren Hungerstreik.

Zwölf Menschen waren umgekommen, gestorben an der sinnlosen Härte des türkischen Regimes, aber auch an der späten Reaktion der europäischen Öffentlichkeit auf die - seit Jahren! - unmenschlichen Verhältnisse in den Gefängnissen eines NATO-Landes.

Immer noch schweben viele der Gefangenen in Lebensgefahr, einige werden irreparable Schäden wie Lähmungen und geistige Behinderungen zurückbehalten. Und schon ist das Thema wieder aus den Medien verschwunden - the show must go on. Welch ein Signal an die Türkei und Sevket Kazan! Dieser bestreitet mittlerweile die Existenz eines Protokolls über Zusicherungen an die Gefangenen und träumt von einem neuen Supergefängnis in Kartal/Istanbul.

Sicher, zunächst wird es einige Verbesserungen geben, solange die ganze Welt zusieht. Aber diese zwölf Menschen werden nicht die letzten Opfer des türkischen Terrorregimes sein, denn die Türkei bleibt bei ihren Morden doch meistens weitgehend unbelästigt von allzu großem Druck durch eine internationale Öffentlichkeit... Und so wird der Terror gegen KurdInnen, Yesidi, Alivi, Linke, DemokratInnen, GewerkschaftlerInnen, JournalistInnen, KünstlerInnen, StudentInnen, ArbeiterInnen usw. usw. fortgeführt werden - mit deutschen Waffen und deutschem Geld.

(kwa)