Vor Ort:

Alltägliche Demütigung

Gudrun lebt seit Jahren von Sozialhilfe. Weil das Geld natürlich nie für den ganzen Monat ausreicht, hatte sie sich überlegt, diesmal wöchentlich nur einen Teil des Geldes abzuheben, so daß sich nicht am Ende des Geldes noch ein Loch von einer Woche ohne Knete ergibt - besser am Ende jeder Woche 1 oder 2 Tage.

Womit Gudrun nicht gerechnet hatte, war die Tücke der Kieler Sparkasse. Das Konto war leicht überzogen, und nach der ersten Auszahlung von 150 DM verrechnete die Bank den Rest von 380 DM gegen diesen überzogenen Betrag. Da das durchaus legal war (§ 55 SGB I schützt laufende Leistungen des Sozial- oder Arbeitsamtes nur eine Woche nach der Überweisung vor dem Zugriff der Bank), mußte Gudrun sich mittellos melden. Wegen ihrer Scheu vor Behörden bat sie mich, sie zu begleiten.

Erster Anlauf: am Freitag hin zum Sozialamt, dort Mitteilung, daß eine schriftliche Bestätigung der Sparkasse über Auszahlungssperre notwendig sei und ein Scheck über 24 DM fürs Wochenende. Zeitaufwand: 3 Stunden mal 2, „Stundenlohn“ also: 4,00 DM.

Zweiter Anlauf: Hin zur Sparkasse, dort längere Verhandlungen, daß die Bescheinigung nicht erst in ein oder zwei Tagen zugeschickt, sondern gleich ausgefüllt wird. Danach zum Sozialamt, warten, rein zur Sachbearbeiterin, diesmal ein Scheck über 56,00 DM. (Wegen Mittellosigkeit beantragte Gelder werden immer nur für höchstens eine Woche gezahlt.) Zeitaufwand diesmal „nur“ 2 mal 2 Stunden, also: „Stundenlohn“ 11,50 DM. Der dritte (und letzte) Anlauf steht noch aus.

Bleibt noch anzumerken, daß Gudrun nach einer Operation gehbehindert ist und der Weg von 1,5 km zum Sozialamt hin und zurück für sie eine große körperliche Belastung bedeutet.

Gudruns Freundin Heidi hat ein letztlich ähnliches Problem: Die Postbank hatte ihr einst einen Dispositionskredit gewährt - und vor einiger Zeit gekündigt. Die letzte Mietüberweisung hatte die Bank storniert. Heidi ist aufgrund ihrer Diabetes erwerbsunfähig. Sie erhält eine Rente von 1.254 DM. Ihre Miete beträgt 588 DM. Auch sie ist nach einer Operation gehbehindert und braucht von daher ein Telefon, das sie auch häufig benutzen muß. Mein Rat war, daß sie ergänzende Sozialhilfe beantragen sollte. Auch Heidi habe ich zum Sozialamt - nach Studium des „Leitfadens der Sozialhilfe in Kiel“ - begleitet.

Erste Pleite: Der im „Leitfaden“ angegebene Mehrbedarf für Verpflegung von 128 DM wird - nach Angaben der Sozialamts-Sachbearbeiterin - regelmäßig vom Gesundheitsamt nicht bestätigt. Bescheinigt werden Beträge um die 60 DM. Die Angabe im Leitfaden beruht auf einem Erlaß von 1991. Inzwischen hat sich offenbar die „schlanke Linie“ in der Sozialpolitik auch in Schleswig-Holstein voll durchgesetzt.

Zweite Pleite: Der Mehrbedarf wegen Erwerbsunfähigkeit wurde nur bis Juli 1996 gewährt. Durch das Programm der sozialen Grausamkeit gibt’s die 20%-Erhöhung des Regelsatzes nur noch bei Erwerbsunfähigkeit plus Schwerbehinderung (mit entsprechendem Ausweis).

Heidi - im Umgang mit dem Sozialamt unerfahren und wegen der nicht überwiesenen Miete in großen Ängsten - fing an zu zittern, als sie erfuhr, daß sie damit erstmal keinen Anspruch auf ergänzende Sozialhilfe hat. Es bedurfte der beruhigenden Worte der Sachbearbeiterin und von mir, daß sie sich einigermaßen beruhigte. Sie hat - ebenso wie Gudrun - mehrere schlaflose Nächte hinter sich. Was sie jetzt vor sich hat, ist eine Tortur an Marathonlauf durch die Bürokratie: Sie muß sich von ihrem Arzt neben der schon festgestellten Diabetes ihre Gehbehinderung bestätigen lassen, zum Versorgungsamt gehen, um einen Schwerbehindertenausweis zu beantragen, vermutlich danach noch zum Amtsarzt (der nicht unbedingt wegen übermäßiger Freundlichkeit bekannt ist), zum Gesundheitsamt, Anfang des nächsten Monats nochmals zum Sozialamt (nach Überweisung von Miete und Telefonkosten bleiben ihr zum Leben im September 100 DM, was natürlich hinten und vorne nicht ausreicht), um sich mittellos zu melden und dann für den Tag üppige 8 Mark zum Leben zu erhalten (das ganze vertmutlich auch vier Mal - siehe oben). Und wenn alle Stricke reißen, wird sie auch noch zur Wohnungssicherungsstelle am Wilhelmplatz laufen müssen, um nicht ihre Wohnung zu verlieren. Das heißt für Heidi: Wieder schlaflose Nächte, damit sicherlich auch erhöhte Blutzuckerwerte und Sich-elend-Fühlen.

Sich ein menschenwürdiges Leben zu erhalten, kostet also die/den, der/die am unteren Rand der Gesellschaft leben muß, einen erheblichen Aufwand. Die Verpflichtung der Gesellschaft, ein Sozialstaat zu sein, ist angesichts dessen weitgehend ein Hohn. Eigeninitiative ist gefragt. Und wer sie nicht aufbringen kann? Nun, der ist in dieser Gesellschaft verloren.

(Hans-Georg Pott)