Schlendrian oder Strategie?

„Ohne Beweise einen Schuldigen konstruiert“

„Ich fühle mich erleichtert, daß kein Deutscher die Tat von Lübeck begangen hat.“
Helmut Markwort, Chefredakteur des Focus am 29.1.

Nach über fünf Monaten wurde am 2. Juli in Lübeck Safwan Eid aus der Untersuchungshaft entlassen. Die Richter der Jugendkammer des Landgerichts kamen, nachdem der Fall endlich in ihre Zuständigkeit übertragen worden war, zu dem Schluß, daß der dringende Tatverdacht fehlt. Damit erlitt die Staatsanwaltschaft, die Safwan vorwirft, am 18. Januar das Feuer in der Lübecker Neuen Hafenstraße gelegt zu haben, das zehn Bewohnern eines Flüchtlingheims der Diakonie das Leben kostete, eine schwere Niederlage. Doch hält sie hartnäckig daran fest, mit dem jungen Libanesen den Schuldigen gefunden zu haben, und unternimmt keinerlei Anstrengungen, andere Spuren zu verfolgen. Auch wenn Safwan zunächst freigekommen ist, die Anklage wird weiter aufrecht erhalten und nur einen Tag nach dem Beschluß über die Freilassung von der gleichen Kammer angenommen. Der für den 20. Juli in Lübeck geplante Aktionstag behält damit seine volle Berechtigung.

Während sich der überwiegende Teil der deutschen Medienlandschaft nach der Verhaftung des Beschuldigten, der mit seiner Familie selbst zu den Opfern gehört, erleichtert zurückgelehnt hatte und den jetzt richterlich bestätigten Zweifeln an den Thesen der Ankläger wenig Beachtung schenkt, erregt der Fall im westeuropäischen Ausland einiges Aufsehen. Ende April gründete sich eine internationale Kommission, die sich die Aufgabe gesetzt hat, die Ermittlungen in Lübeck kritisch zu begleiten. Ihr gehören eine Reihe italienischer, französischer und niederländischer Juristen an. Bekanntestes Mitglied dürfte Beate Klarsfeld sein, die sich einen Namen mit der Verfolgung von Nazi-Verbrechern gemacht hat.

Ende Juni stellte die Kommission Ergebnisse ihrer Arbeit vor. Sie hatte Gespräche mit Lübecks Bürgermeister Bouteiller geführt und bei der Verteidigung die Ermittlungsakten eingesehen. Die Staatsanwaltschaft hatte es abgelehnt, mit der Kommission zusammenzuarbeiten. Begründet wurde das damit, so der niederländische Rechtsanwalt Hans Langenberg, daß es für deren Untersuchungen keine Rechtsgrundlage gebe.

In ihren Gesprächen habe Bouteiller, berichtet Beate Klarsfeld, zugesagt, daß alle Opfer eine Duldung bis zum 8. November haben und man sich danach um eine Verlängerung bemühen werde. Ungeachtet dessen erklärte eine Mitarbeiterin der Lübecker Einwohnerbehörde einer Schwester Safwan Eids, daß nach Abschluß des Verfahrens die Abschiebung drohe (jw, 5.7.96). Eines der überlebenden Opfer aus der Hafenstraße, Victor Atoe, wurde bereits im Mai nach Nigeria abgeschoben. Er, der sich unberechtigt in Lübeck aufgehalten hatte, da er im Kreis Ostholstein gemeldet war, hatte auf die Zusagen Bouteillers und Simonis vertraut und sich bei den Eutiner Behörden gemeldet. Die haben sich an die Versprechen der Politiker nicht gebunden gefühlt und ihn gleich verhaftet. Ministerpräsidentin Simonis hatte am 24. Januar in der Landtagsdebatte über den Anschlag erklärt: „Ich habe in Lübeck mit den Opfern gesprochen, die viele Jahre in Deutschland leben. Asylbewerbern, die so lange bei uns sind, müssen wir aus humanitären Gründen ein Bleiberecht einräumen.“

Soviel sind also Regierungserklärungen wert.

Victor Atoe, so die internationale Kommission in einer Erklärung, müsse unverzüglich die Erlaubnis zur Wiedereinreise erhalten, falls er dies wünsche. Das ist nicht nur ein Gebot der Menschlichkeit, sondern auch wichtig für die Ermittlungen. Schließlich sind alle Opfer auch Zeugen, die Aufenthaltsgarantien brauchen.

Befürchtungen, daß Beweise abhanden kommen könnten, haben die internationalen Beobachter auch in anderer Hinsicht. So habe man feststellen müssen, daß das Brandhaus nur unzureichend gesichert sei. Unbefugte könnten ohne weiteres eindringen und etwaige Spuren vernichten. Noch besorgniserregender seien Informationen über Pläne, die Ruine ganz abzureißen.

Ganz unbegründet sind diese Ängste nicht, denn wichtige Beweisstücke haben sich bei Staatsanwaltschaft und Kripo bereits in Luft aufgelöst. So ist zum Beispiel das Schloß der Außentür, mit dem bewiesen werden sollte, das Haus sei zur Tatzeit verschlossen gewesen, ein Täter von außen käme mithin nicht in Betracht, auf wunderliche Weise verschwunden. Ebenso eine Bodenplatte aus dem ersten Stock, die eine wichtige Rolle in der These der Ankläger vom Ausbruch des Brandes im Hausinneren gespielt hat.

Was die Ermittlungen angeht, so kommt die Kommission zu dem Ergebnis, daß es ihnen an Ausgewogenheit und Objektivität mangelt.

Der Brandausbruch

Erhebliche Zweifel habe man zum Beispiel an den Thesen der Staatsanwaltschaft zum Brandausbruch. Die Ermittler waren schon sehr früh davon ausgegangen, daß der Brand im ersten Stock ausgebrochen ist, und hatten darauf im wesentlichen Anschuldigungen gegen Safwan gestützt. Er habe gegenüber dem Rettungssanitäter Angaben zum Brandort gemacht, die nur der Täter kennen konnte. Tatsächlich steht aber weder der Ort des Ausbruchs, noch der genaue Zeitpunkt fest. Die Richter der Jugendkammer stellen sich gar die Frage, ob es nicht mehrere Brandherde gegeben habe. Aussagen von Feuerleuten sprächen dafür.

Der von der Verteidigung um eine Stellungnahme gebetene Brandexperte Prof. Achilles schließt sogar einen Ausbruch des Brandes an der im staatsanwaltschaftlichen Gutachten angegebenen Stelle aus. Der dort zu findende geringe Verbrennungsgrad spräche dagegen. Die Jugendrichter weisen in ihrer Begründung für die Freilassung Safwans auch daraufhin, daß an seiner Kleidung keinerlei Spuren von Benzin oder sonstigen Brandbeschleunigern gefunden wurde. Deren Gebrauch liege aufgrund der schnellen Ausbreitung des Feuers aber zumindest nahe.

Die Behauptung, der Brand könne nur von Bewohnern gelegt worden sein, läßt sich nach Achilles Untersuchungen nicht mehr aufrecht erhalten. Er fand in einem Vorbau ein Fenster, daß nicht zu verschließen war, und durch das man - auch nach Aussagen von Heiminsassen - jederzeit in das hat kommen können, wenn die Tür verschlossen war.

Schließlich hat man an Safwan auch keine der bei Brandstiftern nicht unüblichen Versengungen gefunden. Wohl aber bei den zunächst verhafteten und dann wieder frei gelassenen Grevesmühlenern. Die gaben sehr hierfür sehr widersprüchliche Gründe an. Einer meinte sich Anfang Januar Haare und Augenbrauen versengt zu haben, ein anderer nannte den 14.1. Derartige Spuren verschwinden aber, so Hans Langenberg, bereits nach zwei Tagen. Die Kommission habe in den Akten keinerlei Hinweise gefunden, daß diesen Widersprüchen nachgegangen worden sei. Auch die Angaben eines der Verdächtigten, es sei passiert, als man versucht habe einen Hund anzuzünden, sind offensichtlich nicht überprüft worden.

Ein mysteriöser Toter

Rätsel gibt eines der Todesopfer auf. Der Leichnam Sylvio Amoussous wurde im besagten Vorbau gefunden. Eine Autopsie ergab, daß er nicht an Rauchvergiftung als Todesursache ausgeschlossen ist. Was es sonst gewesen sein könnte, ist immer noch unklar. An der Leiche fand man einen Draht, der möglicherweise als Fessel gedient hat.

Das fehlende Motiv

Neben den Ungereimtheiten der Ermittlung ist das Fehlen eines Motivs nach wie vor eine Schwachstelle der Anklage. Nach dem keiner mehr an die albernen Eifersuchtgeschichten glauben mag, bleibt die Staatsanwaltschaft jede Erklärung schuldig, was Safwan zu der unterstellten Tat getrieben haben sollte. Deshalb mußte sie den Mordvorwurf auch schnell wieder fallenlassen. Wie es in der erwähnten Erklärung der Beobachter heißt, entbehrt es jeder Logik, „daß jemand das Haus anzündet, in dem er wohnt, und dann mit seiner ganzen Familie darin bleibt.“

Die Grevesmühlener Spur

Ein Motiv könnten aber die in der Tatnacht in der Nähe des Tatorts gesehenen und später festgenommenen Grevesmühlener Jugendlichen gehabt haben: Rassismus. Ihnen werden Verbindungen zur Neo-Nazi-Szene nachgesagt, einer von ihnen ist derzeit der Schändung jüdischer Gräber angeklagt.

Ihr Alibi scheint jedenfalls nicht so wasserdicht zu sein, wie von der Staatsanwaltschaft behauptet. Die gibt an, die Verdächtigen seien zur Tatzeit an einer Shell-Tankstelle und am Bahnhof gesichtet worden, also nur wenige Autominuten von der Neuen Hafenstraße entfernt. Da aber der genaue Zeitpunkt des Brandausbruchs nicht bekannt ist, scheint das Alibi wackelig.

Hinzu kommen die bereits erwähnten an ihnen festgestellten Brandspuren.

Die internationale Kommission empfiehlt aufgrund dieser Fakten dringend, daß die Ermittlungen gegen die Grevesmühlener wieder aufgenommen werden.

Auf dem rechten Auge blind?

„Hinter dem Vorgehen der Staatsanwaltschaft steckt eine Strategie“, meint Beate Klarsfeld. Sie habe bei ihrer früheren Zusammenarbeit mit deutschen Staatsanwälten eine Hochachtung für deren Sorgfalt erworben. Aber der Einblick in die Ermittlungsakten habe sie davon überzeugt, daß ohne Beweise und Indizien ein Schuldiger konstruiert worden sei. Ganz soweit mochten die anderen Kommissionsmitglieder nicht gehen, Hans Langenberg wies darauf hin, daß man aufgrund der Aktenlage nicht sagen könne, ob die Staatsanwalt bewußt nur in eine Richtung ermittelt hat. Wohl könne man sagen, daß viele Fehler gemacht wurden. „Das Verfahren ist nicht gelaufen, wie es in einem Rechtsstaat hätte laufen sollen.“

(wop)