Betrieb & Gewerkschaft

2 DM die Stunde - Ein Scheiß-Job im Neoliberalismus

Schwer erkämpfte bzw. aus Gründen der Systemkonkurrenz zugestandenene Mindeststandards für Arbeitsbedingungen und Entlohnung gelten in Deutschland spätestens seit 1989 immer weniger. Die zynischen Ausfälle von Vertretern einer knallharten Martwitschaft ohne das lästige Attribut „sozial“, wie Murmann oder Rexroth, unterstreichen das. Alldies ist zumindest für kritische ZeitgenossInnen nichts Neues. Der Blick auf den konkreten Einzelfall jedoch kann auf Grund der Dreistigkeit der Ausbeutung selbst hartgesottene Systemkritiker noch vom Hocker hauen:

Anlaß für diesen Artikel war ein Zettel auf der Kundentoilette von Karstadt Kiel mit folgendem Wortlaut:

„Sehr geehrte Kundschaft, aus Gründen der Sauberkeit hat Karstadt diese Toilettenräume unter Aufsicht gestellt. Unser Personal arbeitet auf Trinkgeldbasis. Wir freuen uns, wenn Sie der Toilettenaufsicht für unseren Service 0,50 DM geben würden.“

Die an das Reinigungs- und Aufsichtpersonal gestellte Frage, ob die dort Tätigen tatsächlich keinen festen Lohn erhalten, zog ein längeres Gespräch nach sich. Um das schier Unglaubliche, das dort berichtet wurde - unter anderem war von 2 DM Stundenlohn die Rede - nachzurecherchieren, waren Gespräche mit zwei früher zum dortigen Personal gehörigen Personen notwendig. Es ergab sich folgendes Bild:

Ende der 80er kam die Besitzerin einer Kneipe auf dem Kieler Ostufer (im Folgenden Chefin, Unternehmerin oder eben Wirtin genannt) auf die Idee, Kieler Kaufhäusern wie Karstadt vorzuschlagen, ihr Reinigung und Aufsicht der Kundentoiletten in voller Eigenverantwortung zu übertragen. Vorteil des Deals für das Kaufhaus: kein Personal zu Tariflöhnen einstellen zu müssen. Vorteil für die clevere Wirtin: die Möglichkeit, unbemerkt krumme Geschäfte auf Kosten ohnehin Benachteiligter zu machen. Ihr Kalkül: das Trinkgeld einzusacken - ein Klo bringt pro Tag zwischen 150 und 250 DM - und einen Bruchteil davon für Löhne und Reinigungsutensillien auszugeben. Wie das funktionierte? Über Mundpropaganda ließ sie verbreiten, SozialhilfeempfängerInnen könnten sich bei Ihr für 5 Std. Arbeit täglich 180 DM pro Woche verdienen. 7,20 DM Stundenlohn liegen natürlich weit unter Tarif, können jedoch für jemand, der nur rund 400 DM im Monat zum Leben hat, verlockend sein, allzumal die schlaue Unternehmerin versprach, beim Sozialamt alles zu regeln. Dies tat sie allerdings genauso wenig, wie sie sich an Lohn- und Arbeitszeitabsprachen hielt. Arbeitete jemand bei ihr, hieß es dann, es seien natürlich 6 (bzw. im Sophienhof 7 Tage) die Woche vereinbart worden und zwar 10-11 Stunden täglich, was einem Stundenlohn zwischen 2,33 DM und 3 DM entspricht. Ein Informant, der natürlich nach dem er dies erfahren hatte, den Dienst quittierte, bekam für ca. 40 Stunden Arbeit 90 DM
Weitere Dreistigkeiten der Chefin:

- Die Unternehmerin notiert seit 1988 die täglichen Trinkgeldsummen und errechnet danach die Durchnittswerte pro Klo. Liegt das Trinkgeldaufkommen in einem Klo unter diesem Durchnittswert, kann es passieren, daß der zuständigen Reinigungskraft Diebstahl unterstellt und der entsprechende Betrag vom „Lohn“ abgezogen wird.

- Den Aussagen der InformantInnen zufolge besitzt die Chefin einen Schlüssel für die Kleidererspinde der MitarbeiterInnen und kontolliert von Zeit zu Zeit deren dort aufbewahrte Portemonais. Viele Silbermünzen bedeuten für sie „geklautes“ Trinkgeld und werden eingezogen.

- Ein chronisch kranker Mitarbeiter, der eine dringenden Arzttermin in seiner „Dienstzeit“ wahrnehmen mußte, wurde vor die Wahl gestellt: Rausschmiß oder selber um Vertretung kümmern. Ein „Kollege“ erklärte sich zum Einspringen bereit - aber nur für 30 DM Cash.

- Sylvester, Weihnachten und zum Geburtstag der Chefin wurde den MitarbeiterInnen von eben jener 20 DM abgenötigt - u.a. für ein Geschenk für sie!!!

- Um die Kosten für Klopapier und Reinigungsmittel zu sparen, sollen nach übereinstimmenden Angaben von zwei Informanten, MitarbeiterInnen zum Diebstahl dieser Utensilien angestiftet worden sein.

Wem diese Vorwürfe zu hanebüchen vorkommen - diese kriminelle Abzockerei funktioniert weil:

a) es eine extrem hohe Fluktuation der MitarbeiterInnen mit den 2-3 DM-Stundenlöhnen gibt (logisch, wer macht sowas schon lange),

b) das Geldeintreiben, Kontrollieren, und Einschüchtern von langjährigen MitarbeiterInnen mit sehr viel höheren Löhnen besorgt wird (Das nicht nur in Deutschland bewährte „Kapo-System“),

c) die Betroffenen aus Angst, Ärger mit dem Sozialamt zu bekommen bzw. weil sie Repressionen von Seiten der Wirtin fürchten, nichts gegen diese unhaltbaren Zustände unternehmen.

Es funktioniert also aus den Gründen, aus denen hier in dieser Gesellschaft wohl das meiste funktioniert - das sich natürlich nur selten in solch dreister und extremer Form darstellt.

Der Karstadt-Betriebsrat und die Gewerkschaft HBV fühlen sich nicht zuständig. Ersterer mit der Begründung, die Betroffenen seien keine KarstadtmitarbeiterInnen, zweitere, weil es sich nicht um Gewerkschaftsmitglieder handelt. (CS)