Kommentar:

Objekt Opfer

Im September 1996 wurde Bianca Scholz nach der Arbeit in einem Kieler Fitness-Studio von zwei jugendlichen Tätern niedergestochen. Die Täter erbeuteten 2.000 DM. Die 29jährige ist seither querschnittgelähmt. Begleitend zum Prozeßbeginn am 11.2. im Kieler Landgericht haben insbesondere die „Kieler Nachrichten“ eine Spendenaktion für Bianca Scholz ins Leben gerufen, die seither immer größere Kreise zieht. Inzwischen finden sich auch in den Fenstern der der „Werbegemeinschaft untere Holtenauer Straße“ angeschlossenen Geschäfte flächendeckend Spendenplakate.

Eines vorweg: Es geht hier nicht darum, das Opfer und sein Schicksal in irgendeiner Weise herabzuwürdigen. Es geht hier vielmehr darum, mit welcher infamen Demagogie insbesondere seitens der bürgerlichen Medien das Opfer zum Objekt für Zwecke gemacht wird, die mit Mitleid nur scheinbar etwas zu tun haben.

Der Fall Bianca Scholz ist kein ungewöhnlicher. Daß Menschen zur Erlangung vergleichsweise geringer Beute das Leben anderer Menschen zerstören, ist leider normal. Ein Sozialhilfeempfänger, dem die Hilfe zum Lebensunterhalt gestrichen wird, bringt der Gemeinschaft der Rechtschaffenen eine Ersparnis von vielleicht eben jenen 2.000 DM im Monat. In einer kapitalistischen Gesellschaft gibt es legale Methoden, das Leben anderer zu zerstören. Sie werden z.Z. ausgebaut, was sich verharmlosend „Sozialabbau“ nennt. Es handelt sich um sanktionierten Diebstahl und Raub. Die Folgen des institutionalisierten rücksichtslosen Kampfes aller gegen alle liegen inzwischen buchstäblich, handgreiflich im Sinne von die Hand ausstreckend, auf der Straße, z.B. auf dem Ehmsenplatz als drogenkonsumierender „Abschaum“ oder als BettlerInnen rund um den Bahnhof - alles nur wenige Beispiele.

Für diese Opfer gibt es keine Spendenaktionen, für sie gibt es nur Maßnahmen zur Abschiebung und Kriminalisierung - von den KN übrigens ebenfalls kräftig angeheizt in den dafür beliebten selektiven Leserbriefspalten. Der Grund liegt auf der Hand. Diese Opfer sind aus der bürgerlichen Sicht Opfer aus eigener Schuld, also keine Opfer, sondern Täter!

Man lese den Artikel von Tim Holborn in den KN vom 11.2. präzise: Bianca Scholz‘ Fall ist deswegen so zu Herzen gehend, weil sie gerade mit dem Studium fertig nach Hamburg umziehen wollte, den „Vertrag für einen interessanten Job ... in der Tasche“. Offenbar bedarf es dieser Beschreibung zur Definition des Opfers als Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, also als wirkliches Opfer? Oder anders gefragt: Wäre die „ebenso hübsche wie sportliche Frau“ (KN, Tim Holborn) ein so perfektes Objekt für eine imageträchtige Spendenaktion (nun auch noch verkaufsfördernd für die „untere Holtenauer“) geworden, hätten Holborn & Co. diese Eigenschaften nicht herausstellen können?

Bianca Scholz sind die Spenden zu gönnen. Helfen werden sie ihr nicht, sie wird kurz nach der letzten Scheckübergabe blitzlichtbleich aus den Augen, aus dem Sinn sein. Sie helfen dagegen einer zutiefst unbarmherzig gewordenen Gesellschaft, sich den Anschein von Barmherzigkeit zu geben, publicityträchtig inszeniert und in ihrer perversen Heuchelei durch nur einen einzigen Blick auf den Bahnhofsvorplatz entlarvbar. (jm)