Aufstand in Albanien

Die Revolution der Verdammten dieser Erde

Sie werden als unkultivierte Wilde und Plünderer diffamiert. In Wirklichkeit sind sie die Ärmsten der Armen, ein Volk, das zum bewaffneten Aufstand übergegangen ist. Sie verursachen nicht Chaos und Anarchie, sondern sie schaffen eine neue revolutionäre politische Ordnung. Vollversammlungen, Gemeinderäte, eine Koordination von Komitees der Aufständischen: Schritt für Schritt nimmt die Revolte organisierte Formen an, in einer Atmosphäre des Enthusiasmus und der Entschlossenheit. Natürlich ist das nicht nach dem Geschmack der bürgerlichen Kräfte des Westens, die den Tyrannen und Betrüger Sali Berisha mit in den Sattel gehoben und unterstützt haben.

Am 28. Februar begann der Aufstand, als die Bevölkerung von Vlora die Waffenarsenale von Polizei und Armee stürmte. Nach einem kurzen Kampf, der fünf Menschenleben kostete, nahmen die Aufständischen ihre Stadt in Besitz, während eine unübersehbare Menge die Sieg feierte und „Nieder mit Berisha!“ skandierte.

Die Nachricht von der Befreiung Vloras führte unmittelbar zum Aufstand in Saranda. Die vom griechischen Fernsehen übertragenen Bilder waren ergreifend: Waffen aller Art wurden in einer Volksfeststimmung an die Stadtbevölkerung verteilt, während eine Gruppe von Jugendlichen die verhaßten Symbole des Regimes in Brand setzten (Gefängnisse, Polizeiwachen, Büros der Demokratischen Partei). Panzerfahrzeuge, Artilleriegeschütze und sogar drei Kriegsschiffe fielen den Aufständischen ohne jeglichen Widerstand in die Hände. Gebürtige Albaner und Angehörige der im Süden Albaniens lebenden griechischen Minderheit riefen ihre Parolen abwechselnd in ihrer jeweiligen Muttersprache.

Das (durchaus relative) „Chaos“ dauerte nur drei Tage an. In Vlora, Saranda und Delvino entdeckten die Einwohnerinnen und Einwohner sehr rasch die Möglichkeiten der Selbstorganisation mit Vollversammlungen und der Wahl von Gemeinderäten, die beauftragt wurden, die Versorgung, die öffentliche Sicherheit und die Verteidigung der Städte zu organisieren. Der ursprünglichen „Anarchie“ folgte eine revolutionäre Ordnung. Durchgesetzt wurde sie von den Selbstverteidigungsgruppen, in denen auch die übergelaufenen Offiziere und Soldaten mitarbeiten.

„Nieder mit Berisha!“

Währenddessen gab sich Sali Berisha noch nicht geschlagen. Die Versuche seiner Gefolgsleute, die Strukturen der Aufständischen zu infiltrieren, nahmen zu, und die Stadt Gjirokaster wurde von seinen Truppen wiedererobert. Auf einer Barrikade am Ortseingang von Saranda schlug ein bewaffneter 14jähriger Junge Alarm, weil ein von zwei Offizieren begleiteter Hauptmann der Geheimpolizei sich einzuschleichen versuchte. Der Kampf währte nicht lange. Die Granaten und Bazookas der Milizionäre trafen gut. Bei den Begleitern des Geheimpolizisten fand man Dokumente, aus denen hervorging, daß dieser beauftragt war, die Führer des Aufstands zu ermorden. In der Westpresse konnte man von „Aufrührern“ lesen, „die einen Polizisten bei lebendigem Leib verbrannt“ hätten.

Die nächsten Tage waren von dem Dilemma geprägt, ob man in den Stellungen verbleibt, um die Städte zu verteidigen, oder ob man der Bevölkerung der benachbarten Städte helfen soll, sich ihrerseits zu befreien. Die improvisierte Miliz entschied schnell: Angriff ist die beste Verteidigung! Mit Hilfe eines einzigen Panzers griffen die Partisanen zunächst Tepelene, dann Premete an, wo sie jeweils von einer begeisterten Menge begrüßt wurden. Dutzende heiter gestimmter Soldaten unterstellten sich den neuen Autoritäten und erklärten den Journalisten, daß sie auch in Uniform Brüder der Aufständischen blieben. Bei den Vebrüderungsszenen mit endlosen Umarmungen wurde immer wieder die populärste Parole gerufen: „Nieder mit Berisha!“ Inzwischen verfügten die Aufständischen bereits über ein rundes Dutzend Panzer. In Premete war ihre Ausrüstung jetzt beeindruckend genug: Dutzende von Artillerie- und Luftabwehrgeschützen gaben die Sicherheit, daß Berisha nicht mehr in der Lage sein würde, die Stadt erfolgreich militärisch anzugreifen. In wenigen Tagen waren die bewaffneten Kräfte der Aufständischen zu einer Partisanentruppe geworden, um sich in einem weiteren Schritt in eine regelrechte revolutionäre Armee zu verwandeln.

Inzwischen hatte sich Gjirokaster aus eigener Kraft befreit. Die Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt hatten sich völlig unbewaffnet um die von Tirana geschickten, mit Soldaten vollbesetzten Hubschrauber massiert. Dieses Auftauchen der zornigen Menge genügte, um die Soldaten dazu zu bewegen, sich entweder zu ergeben oder in die nahegelegenen, die Stadt umgebenden Hügel zu fliehen. Wieder wurden in Volksfeststimmung Tausende von Gewehren und Kalaschnikows verteilt. Der Chef des örtlichen Senders der Geheimpolizei und der Garnisonschef wurden verhaftet. Die Befreiung von Gjirokaster machte einen Angriff der Armee unter Kommando der Regierung auf den Süden Albaniens endgültig unmöglich und schuf zugleich die Basis für eine Ausdehnung der Revolte auf das Zentrum und den Norden des Landes.

Von da an war der Aufstand nicht mehr örtlich begrenzt. Die von den Aufständischen in den verschiedenen Städten ins Leben gerufenen Komitees entschieden, sich zu koordinieren, und wählten eine regionale Führung aus fünfzehn Volksbeauftragten, die sich beeilten, Berisha und seinen Gefolgsleuten ihre eigenen Bedingungen zu stellen. Im Süden und in der Mitte des Landes wurden die Führungen der Oppositionsparteien, die sich mit den lächerlichen „Zugeständnissen“ Berishas begnügen wollten, offen desavouiert. Die Aufständischen erklärten übereinstimmend, daß sie nicht bereit seien, die Waffen niederzulegen, „bevor der Diktator gestürzt“ sei. Bezeichnenderweise begannen diejenigen, die gerade erst die Straßen und Brücken gesprengt oder vermint hatten, die den Süden und den Norden Albaniens verbinden, sie wieder instandzusetzen, um auf Tirana marschieren zu können. Tatsächlich verbreitet sich der Austand, der in keiner Weise das Werk „einiger roter Terroristen“ ist, wie ein Lauffeuer.

Zum Hintergrund

Vom Himmel gefallen ist der Aufstand nicht. Das Regime von Berisha hatte auf fast tägliche Massendemonstrationen breiter Teile einer nicht nur um ihre Ersparnisse, sondern auch bei den Wahlen betrogenen Bevölkerung mit Drohungen und Repression reagiert. Das Platzen der berühmten Finanzoperationen („Pyramidenspiel“), die 90 Prozent der Bevölkerung über 2 Mrd. Dollar raubten - das sind 80 Prozent des albanischen Bruttoinlandsprodukts - war in Wirklichkeit nur der Auslöser für eine Explosion des Zorns, deren Bedingungen herangereift waren. Die Opposition wurde nach den gefälschten Wahlen vom Mai 1996 immer stärker. Die ökonomischen Statistiken, die den entzückten „Experten“ des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank den Mythos eines grandiosen Wachstums vorgegaukelt hatten, erwiesen sich als gefälscht. Dieselben Experten sprechen heute von einem Desaster.

Die Albanerinnen und Albaner waren kompetenter. Sie kennen das extreme Elend, in dem sie leben. Sie wußten, daß das Regime von Berisha immer diktatorischer und korrupter wurde und sich nach der Inhaftierung des Oppositionsführers Fatos Nano (von der Sozialistischen Partei) 1994 mit dem Abschaum der nationalen und internationalen Lumpenbourgeoisie verbündete, bis hin zur italienischen Mafia, die ihre schmutzigen Gelder im „Pyramidenspiel“ wusch.

Nach dem Ende des Krieges in Bosnien krachte alles zusammen. Die Quelle fabulöser Profite aus dem (wegen des internationalen Embargos) illegalen Waffenhandel versiegte, und die Mafia, beunruhigt über die wachsende internationale Aufmerksamkeit für Albanien, lenkte ihre Gelder nach Bosnien um, wo das Bankwesen ihr noch undurchsichtig genug erscheint. Zugleich setzte der Schwindel mit Papieren ein, die bis zu 200 Prozent Zinsen in drei Monaten versprachen, was zum Krach vom Januar dieses Jahres führte. Millionen von Albanerinnen und Albanern wurden vollständig ruiniert. Premierminister Alexander Mexhi erklärte, die Betrogenen brauchten sich nicht zu beklagen, sie hätten „gespielt und verloren“.

Arroganz der Mächtigen

Doch alle wußten, daß das „Pyramidenspiel“ von den Regierenden gepuscht und gedeckt worden war und daß die Scheinbanken, die es organisierten, die Wahlkampagnen des Präsidenten Berisha und seiner Demokratischen Partei finanzierten. Die Logos des größten dieser Institute, das zur Holding Vefa gehört (ein Handels- und Finanzimperium, das über 240 Unternehmen in ganz Albanien kontrolliert), zierten die Tribünen der Kandidaten der Demokratischen Partei.

Von Dezember an gingen Hunderttausende ruinierter und frustrierter Albanerinnen und Albaner auf die Straße, forderten die Rückerstattung ihrer mageren Ersparnisse und die Bestrafung der Verantwortlichen. Über 500.000 illegale Immigranten, die jahrelang in Griechenland und anderswo wie Sklaven gearbeitet hatten, waren über Nacht die paar tausend Dollar los, die sie sich mühsam zusammengespart hatten, aber auch ihre Felder, Möbel, oft sogar ihre Häuser, die sie verkauft hatten, um alles zu investieren, was sie konnten. Einer von ihnen erklärte in Saranda: „Wir haben nur noch unser Leben, das im übrigen nichts wert ist.“ Marx paraphrasierend fügte er hinzu: „Wir haben nur noch unsere Ketten!“

Berisha und seine Regierung ließen die Nöte ihrer Landsleute völlig kalt. Die Rüpel ihrer politischen Geheimpolizei (Shik) schossen in die Demonstrationen, schlugen Führer der Opposition öffentlich zusammen, steckten die Redaktionsräume unabhängiger Zeitungen in Brand. So geriet Albanien Zug um Zug in eine vorrevolutionäre Situation.

Doch fehlte der mobilisierten Bevölkerung schmerzlich eine politische Führung, die die passenden Antworten auf die Provokationen der Regierung gefunden hätte. Verängstigt und viel zu gesetzestreu, hatte die (ex-stalinistische) Sozialistische Partei gerade ihre Wende zur Sozialdemokratisierung vollzogen, während die anderen - aus Abspaltungen von der Demokratischen Partei entstandenen - Oppositionsformationen in der Bevölkerung über viel zu wenig Verankerung verfügen.

So wiederholte sich die Geschichte nicht zufällig: Wie 1991 beim Aufstand gegen das alte Regime der Partei der Arbeit (der damaligen albanischen Staatspartei) setzte sich die studierende Jugend an die Spitze der Bewegung. Die Hungerstreiks einer ganzen Reihe von ihnen in Vlora und Gjirokaster lösten das Bedürfnis der Bevölkerung dieser Städte aus, sich zu bewaffnen, um die Hungerstreikenden vor Verhaftungsversuchen zu schützen. Von da an waren Berishas Tage gezählt. (Georges Mitralis)