Kippt der erste „radikal“-Prozeß?

Staatsschutzsenat Koblenz lehnt Anklageschrift ab - denoch keine Entwarnung im „radikal“-Verfahren

Am 13.6.1995 wurden auf Anordnung der Bundesanwaltschaft (BAW) bundesweit über 80 Privatwohnungen, Arbeitsplätze und linke Zentren von der Polizei gestürmt und durchsucht. Vier Männer wurden im Zuge dieser Maßnahme für ein halbes Jahr in Untersuchungshaft festgehalten, drei weitere Männer und eine Frau konnten sich nur durch ihr Abtauchen der Haft entziehen. Die bundesanwaltschaftlichen Begründungen für diesen Angriff auf linke Strukturen waren Ermittlungen gegen die Zeitung „radikal“ und die Gruppen Antiimperialistische Zellen (AIZ), das K.O.M.M.I.T.E.E und die RAF. Am selben Abend äußerte sich Innenminister Kanther dahingehend, es habe sich bei dieser Aktion um eine „zielgerichtete päventive Maßnahme“ gegen linken Widerstand gehandelt. Dieses war der Auftakt einer Repressionswelle von bedeutendem Ausmaß, die bis heute andauert.

Zum Hintergrund der Kriminalisierung

Der Angriff gegen die seit mittlerweile 20 Jahren bestehende Zeitschrift „radikal“ richtet sich gegen ein Projekt, das sich als Teil des linken Widerstandes in der BRD begreift. In Form einer unzensierten Widerstandspresse bietet die Zeitung ein Diskussionsforum für linke Geschichte, Theorie und eine daraus folgende Praxis. Gerade auch Beiträge und Kommentierungen einer militanten Praxis wurden von den bundesdeutschen Verfolgungsbehörden seit Bestehen der Zeitung immer wieder als Repressionshebel genutzt. Als Reaktion darauf und verbunden mit der Möglichkeit, auch weiterhin unzensiert zu informieren, wurde die Produktion und später auch der Vertrieb der „radikal“ seit Mitte der 80er Jahre verdeckt organisiert. Die „radikal“ steht also sowohl für eine Kontinuität linken Widerstandes und Diskussion als auch für einen Organisierungsansatz und die Option auf militante Politik.

Angesichts der massiven Repression gegen die verschiedensten Teile der revolutionären Linken ist es notwendig, den Angriff gegen die „radikal“ nicht isoliert zu betrachten. Bei jeglichen Repressionsmaßnahmen geht es einerseits immer auch um die generelle Einschüchterung von Menschen, die sich nicht nur verbal gegen die herrschenden Bedingungnen wehren und organisieren wollen. Andererseits geht es darum, linke Strukturen und Organisationen ganz real zu zerschlagen, indem z.B. Menschen für Monate oder Jahre in die Knäste wandern und Prozesse angestrengt werden, die einen Riesenaufwand an Arbeit und Geld für die Betroffenen bedeuten. Das Verfolgungsinteresse des Staates richtet sich dabei sowohl gegen bestimmte Inhalte als auch gegen bestimmte Widerstandsformen. Sobald der Widerstand die Ebene von Petitionen, Bittschriften und runden Tischen verläßt und ernsthaft versucht, etwas zu verändern, gerät er ins Visier des Staatsschutzes. Davon betroffen sind die verschiedensten Politik- und Organisierungsansätze, vom Antifaschismus über Anti-Atom-Bewegung bis MigrantInnen-Selbstorganisierung, um nur einige zu nennen. Die Repression gegen ausländische Organisationen, wie z.B. die PKK, ist besonders stark und wird von großen Teilen der bundesdeutschen Öffentlichkeit widerstandslos hingenommen. Der Versuch der Herrschenden, linken Widerstand auf allen Ebenen abzuwickeln und den Raum für die Propagierung politischer Inhalte immer enger zu machen, dokumentiert sich seit Jahren verstärkt auch über das massive Vorgehen gegen Demonstrationen.

Repression bis ins Internet

Im Herbst 1996 startete die BAW den Versuch, die „radikal“ auch im Internet mundtot zu machen. Über den niederländischen Anbieter „xs4all“ (access for all) konnte die „radikal“ im Internet abgerufen werden. Die BAW drohte dem Verein der deutschen Anbieter (ICTF) mit einem Verfahren wegen „Beihilfe zu Straftaten“, wenn er den Zugang zu den „radikal“-Seiten via „xs4all“ nicht sperren würde. Das führte letztendlich dazu, daß der ICTF eine totale Blockade des Providers „xs4all“ verhängte. Aber dieser Schritt erwies sich für die BAW und den ICTF als Bumerang:

Weltweit regte sich Widerstand gegen diese Form von Zensur im Internet. Die US-amerikanische EFF rief zu Widerstand und Solidarität auf und löste einen „weltweiten, dringenden Zensurarlam“ aus, woraufhin die „radikal“-Seiten innerhalb weniger Tage von Providern in Kanada, Japan und den USA kopiert wurden. Aus der Diskussion im Netz, wie Zensur zu umgehen sei, folgte, daß heute in weltweit über 8.000 Archiven die „radikal“-Seiten zu finden sind. Allein bei „xs4all“ werden sie monatlich bis zu 4.000 mal angeklickt.

Zur aktuellen Situation

Im Gegensatz zu früheren Kriminalisierungsversuchen der „radikal“, in denen es zumeist um Unterstützung sog. „terroristischer Vereinigungen“ nach § 129a ging, soll die Zeitung nach Meinung der verfolgenden Behörden das Produkt einer „kriminellen Vereinigung“ gemäß § 129 sein. Am 13.6.1995 sollten im Zusammenhang mit der bundesdeutschen Razzia acht Haftbefehle gegen angebliche Redaktionsmitglieder vollstreckt werden. Mittlerweile sind alle Haftbefehle außer Vollzug gesetzt bzw. aufgehoben.

Nachdem den vier ehemals Inhaftierten, deren Verfahren an das OLG Koblenz abgegeben wurde, Anfang Januar die Anklageschrift zugestellt wurde, war ein erster „radikal“-Prozeß in Koblenz in greifbare Nähe gerückt. Wie erwartet lag der Schwerpunkt deutlich auf der „Bildung einer kriminellen Vereinigung“, deren Ziel und Zweck es sein soll, „terroristische Vereinigungen“ wie RAF, AIZ und RZ zu unterstützen, zu Straftaten aufzurufen, dazu anzuleiten und sie nicht zuletzt auch noch zu billigen.

Der zuständige Staatsschutzsenat hat Mitte März die Zulassung der Anklageschrift und damit die Eröffnung des Hauptverfahrens in Koblenz abgelehnt. Er widerspricht der Auffassung der Staatsanwaltschaft in den wesentlichen Punkten: Die Voraussetzung für eine Anklage gemäß § 129 (Bildung bzw. Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung) seien deshalb nicht gegeben, da die Billigung, Aufforderung und Anleitung zu Straftaten anderer (im Original unterstrichen) nicht für die Strafbarkeit nach § 129 ausreichen. Auch die „Unterstützung terroristischer Vereinigungen“ gemäß § 129a als eine Hauptzielsetzung der „radikal“ wird verworfen, da eine direkte Unterstützung durch sog. „Nichtmitglieder“ der terroristischen Vereinigungen nicht vorliege. Im Prinzip handele es sich bei der Unterstützung, dem Aufruf oder der Billigung von Straftaten um Presseinhaltsdelikte, die einer Verjährung unterliegen. Der Senat lehnt seine örtliche und sachliche Zuständigkeit für ein Hauptverfahren ab.

Die Staatsanwaltschaft konnte nun innerhalb einer Woche Widerspruch beim Bundesgerichtshof einlegen. Dies ist am Freitag dem 14. März erfolgt. Wird dieser vom BGH anerkannt, kann ein Prozeß möglicherweise doch noch an einem anderen Gericht stattfinden. Auch für die anderen Hauptbeschuldigten, deren Verfahren beim OLG Düsseldorf liegt, gibt es mit der Ablehnung in Koblenz keine Entwarnung. Denoch bringt der Beschluß des OLG Koblenz eine Wende für das „radikal“-Verfahren und offenbart Widersprüche innerhalb der Justiz und Vefolgungsbehörden.

Die Verfolgung nach § 129 - eine Zeitung als „kriminelle Vereinigung“ - gerät ins Wanken. Es gilt, den § 129 vollständig zu Fall bringen, um ein Präzedenzurteil zu verhindern, mit dem den Staatsschutzbehörden ein weiteres Mittel zur Kriminalisierung linker Gruppen und Organisierungsansätze an die Hand gegeben würde.

Schon jetzt dient die Verfolgung der „radikal“ nach § 129 dazu, seit eineinhalb Jahren kontinuierlich größer angelegte Durchsuchungen bei vermeintlichen „radikal“-RedakteurInnen, UnterstützerInnen oder AbonnentInnen durchzuführen, Verfahren gegen sie einzuleiten und fortwährend Einblick in politische Strukturen zu nehmen. Mittlerweile summieren sich im Zusammenhang mit der „radikal“ weit über 30 Ermittlungsverfahren.

Die jüngste Staatsschutzaktion richtete sich am 30.1.1995 gegen drei BerlinerInnen, denen auch Mitgliedschaft bzw. Unterstützung der „radikal“ vorgeworfen wird. Einer der Beschuldigten ist der Redakteur der Zeitung „junge Welt“, Wolf-Dieter Vogel. Die Bundesanwaltschaft samt BKA-Gefolgschaft ließen es sich nicht nehmen, bei der Gelegenheit die Redaktionsräume der „jungen Welt“ auf den Kopf zu stellen und Computer und weiteres Arbeitsmaterial zu beschlagnahmen.

Nach wie vor gibt es also keinen Grund zur Entwarnung. Wir wollen den § 129 politisch abwehren und die angegriffenen Inhalte - die Notwendigkeit und das Recht, sich auf allen Ebenen mit verschiedenen Widerstandsformen gegen die reaktionäre Formierung dieser Gesellschaft zu wehren - verteidigen. Aus dem Bewußtsein, daß jeder erfolgreiche Schlag gegen ein Teilprojekt der radikalen/revolutionären Linken auch den Raum für allen anderen enger macht, ergibt sich die Notwendigkeit, sich gegen die Repression des Staates gemeinsam zu verhalten. (aus dem Internet)

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