Umstieg statt Ausstieg

In Bonn wird mal wieder zu Energie-Konsensgesprächen geladen. Am 17. April - nach Redaktionsschluß - wollen sich Vertreter der Bundesregierung, der SPD und der Energieversorgungsunternehmen (EVU) zusammensetzen. Die Sozialdemokraten schicken wieder den niedersächsischen Ministerpräsidenten Gerhard Schröder, der schon bei den bisherigen Gesprächen keinen Hehl daraus gemacht hat, daß er vom Ausstiegsbeschluß seiner Partei nicht viel hält.

Seit nunmehr fast sechs Jahren wird auf der Bonner Bühne mit wechselnder Besetzung das Stück „Konsens-Gespräche“ aufgeführt. Aber was da Ergebnisoffenheit suggeriert und zunächst auch im grünen Lager fast euphorisch begrüßt wurde, war von Anfang an nichts anderes als der Versuch der Wiedererlangung gesellschaftlicher Hegemonie der Atomlobby, d.h. der Wiederherstellung der Meinungsführerschaft. Die SPD, die 1986 unter dem Eindruck der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl den Ausstieg aus der Atomenergienutzung beschlossen hatte, soll wieder in den Konsens der bürgerlichen Parteien eingebunden werden.

Im Oktober ’92 hatten die damaligen Chefs der beiden größten deutschen Atomenergieproduzenten VEBA (Muttergesellschaft von Preußen-Elektra) und RWE, Klaus Piltz und Friedhelm Gieske, der Bundesregierung einen „Entwurf für einen Energiekonsens“ vorgelegt. In dem schlugen sie das Aus für die Wiederaufbereitung (auch im Ausland) und einen Verzicht auf das Gorlebener Endlager vor. Gleichzeitig hieß es in ihrem Papier unter „2. Langfristige Kernenergieoptionen“: „Ziel der Vereinbarung ist der geordnete Ausstieg bzw. Umstieg aus der heute genutzten LWR-Technik (LWR = Leichtwasserreaktor, die Red.). Die Entscheidungsfreiheit zukünftiger Generationen für oder gegen Kernenergienutzung soll jedoch offen gehalten werden. Deswegen bleibt die Weiterentwicklung der Technologie wie andere Energieerzeugungsalternativen Gegenstand von Forschungs- und Technologiepolitik.“ (FR 5.12.1995) Nicht von ungefähr sprachen die Autoren von „Umstieg“, bastelt doch Siemens zusammen mit der französischen Framatom bereits an der nächsten Kraftwerksgeneration, dem EPR (Europäischer Druckwasserreaktor).

Doch anderen EVUs, z.B. dem Bayernwerk, gingen diese Zugeständnisse schon zu weit. Auch Tyll Necker vom Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) war die Festlegung für die Zukunft zu „unbestimmt“. Er stellte fest, daß „die Absicherung einer realistischen Zukunftsperspektive unerläßlich (ist) als Basis für ein nennenswertes industrielles Engagement in der weiteren Kernenergieentwicklung sowie für den Erhalt hochqualifizierten Personals“ (FR 20.2.1993). Nachdem inzwischen über zehn Jahre seit der letzten Inbetriebnahme eines AKW in Deutschland vergangen sind, haben nämlich die Kraftwerksbauer, d.h. vor allem Siemens, das Problem, ihren technischen Stab zusammenzuhalten. Sie brauchen neue Aufträge, um nicht ihre wissenschaftlich-technische Infrastruktur zu verlieren. Davor warnte im Januar ’96 auch Wirtschaftsminister Rexrodt auf der Wintertagung des Deutschen Atomforums, eines Zusammenschlusses von Kraftwerksbauern, Banken, EVUs, Wissenschaftlern und Politikern: Ein Ausstieg aus der Kernenergie würde den Verlust an Know-How bedeuten. Dadurch „würden wir unweigerlich unsere wichtige Rolle bei der (...) Umstrukturierung der Energiewirtschaft in Mittel- und Osteuropa verlieren“. Dort ist die deutsche Atomwirtschaft nicht nur dabei, die alten Reaktoren sowjetischer Bauart nachzurüsten oder gar zuende zu bauen (Mochovce in der Slovakei), sondern man kauft sich auch nach Kräften ein. In Ungarn gehören z.B. die RWE, die Energieversorgung Schwaben und die Bayernwerke zu den großen Profiteuren der Privatisierung der Elektrizitätsunternehmen.

Know-How-Erhalt und Absicherungen eines vielversprechenden Exportzweiges sind also für die Spitzen der deutschen Industrie zwei wesentliche Motive, eine Lösung des Entsorgungsproblems und Garantien für eine neue AKW-Generation einzufordern. Hinzu kommt, daß ab 2005 die ersten Entscheidungen über Ersatzinvestitionen für alte AKWs fallen müssen. Anfang des Jahres machte daher Jürgen Hareus, Vorsitzender des BDI-Energieausschusses, nocheinmal deutlich: „Eine Verabschiedung von der Kernenergie in Deutschland hätte irreparable Schäden zur Folge.“

In Bonn hat man die Botschaft vernommen. Im Vorfeld der jetzigen Gespräche hat es bereits Ende letzten Jahres Treffen auf der „Experten-Ebene“ zwischen dem Umweltministerium, dem Kanzleramt und der niedersächsischen Staatskanzlei gegeben. Die Anregung soll vom CDU-Chef Kohl und dem SPD-Vorsitzenden Lafontaine gekommen sein. Heraus kam ein „Positionspapier“, das ganz nach den Vorstellungen des BDI sein dürfte.

Es fängt damit an, daß die Wiederaufbereitung mit keinem Wort erwähnt wird, und das, obwohl zumindest Teile der Atomwirtschaft von ihr längst Abschied genommen haben. Es hat den Anschein, als wolle man sich auch diese Option offen halten. Auch von Restlaufzeiten für die bestehenden AKWs ist nicht die Rede, ein Zugeständnis, was bisher stets von der SPD für ihr Entgegenkommen gefordert worden war.

Was das Endlager Gorleben angeht, soll die Erkundung 2005 abgeschlossen sein. Mit dem Bau eines Endlagers will man aber nicht vor 2030 anfangen, da bis dahin der Müll in den Zwischenlagern abklingen müsse. Das hebt die zentrale Bedeutung hervor, die diese für den Entsorgungsnachweis haben. Kraftwerksbetreiber müssen nämlich den Behörden Rechenschaft darüber ablegen, wo ihr strahlender Müll bleibt. Andernfalls droht ihnen der Widerruf der Betriebsgenehmigung.

Angesichts des Widerstandes im Wendland gegen die Einlagerungen ins dortige Zwischenlager hat Schröder die Forderung erhoben, auch in Süddeutschland entsprechende Kapazitäten zu bauen. Dem Papier nach zu urteilen, läßt sich die Bundesregierung darauf ein. Auch einige EVUs haben bereits Zustimmung signalisiert. In Gorleben soll dann „nur“ noch der Müll aus den norddeutschen AKWs und den ausländischen Wiederaufbereitungsanlagen landen. Weiter wird mit dem Gedanken gespielt, auch das Zwischenlager im nordrhein-westfälischen Ahaus mehr zu nutzen. Ob das Kalkül aufgehen wird, dort auf weniger Widerstand zu stoßen, dürfte fraglich sein. In Gorleben bereitet man sich jedenfalls schon darauf vor, mit einigen Bussen die Ahauser Bürgerinitiative zu ihrem traditionellen 1. Mai-Fest zu besuchen.

Weiter haben sich die Experten darauf geeinigt, daß „in das Atomgesetz eine Rechtsgrundlage für Enteignung zur Erkundung, Errichtung und zum Betrieb von Endlagern eingefügt“ wird. Das richtet sich ganz offensichtlich gegen den Gorlebener Grafen Bernstorf, der am Salzstock Salzrechte hat, die er an eine kürzlich von Atomkraftgegnern gegründete Abbau-Gesellschaft verpachten will. Nach bisher geltendem Recht könnte diese Salinas GmbH demnächst mit dem Abbau beginnen. Merkel müßte sich dann nach einem neuen Endlager umsehen.

Auch in der Frage neuer Atomkraftwerke ist man sich näher gekommen: „Forschung und Entwicklung im Bereich der Kerntechnik sind frei. Frei ist demnach auch die Entwicklung und Prüfung neuer Technologiekonzepte wie des European Pressurized Water Reactor (EPR).“ Hierzu wird es voraussichtlich in nächster Zeit die ersten Anträge geben. In der Diskussion ist seit längerem, für die neuen Kraftwerke ein standortunabhängiges Verfahren zu ermöglichen. Das soll auch in die Novelle des Atomgesetzes aufgenommen werden, die „noch in dieser Legislaturperiode einvernehmlich erfolgen“ soll.

Schließlich läßt das „Positionspapier“ keinen Zweifel daran, daß an einen Ausstieg nicht gedacht ist: „Der Staat hält die Rahmenbedingungen für die Kerntechnik aufrecht. (...) Die Entwicklung neuer Kernkraftwerke ist Sache der Industrie. Die Bundesregierung leistet hierzu keine finanziellen Hilfen. Der Staat setzt die Sicherheitsforschung fort“ - die Jahr für Jahr über eine halbe Milliarde DM verschlingt. „Hierdurch erhält sich die Bundesregierung u.a. auch die Möglichkeit, die internationale Diskussion über Sicherheitsstandards bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie positiv beeinflussen zu können. Dies gilt insbesondere für die Erhöhung der Sicherheit der Kernkraftwerke in Osteuropa. [Feststellung der Bundesregierung: Ohne diesen Teil ist die gesamte Verständigung hinfällig.]“

Die Bundesregierung erklärt also den Bau neuer AKWs zum Essential und verbindet dies mit dem Ziel des Zugriffs auf den osteuropäischen Markt. Daß es ihr dabei nicht in erster Linie um die Sicherheit der dortigen Atommeiler geht, darf man getrost voraussetzen. Das zeigt nicht zuletzt die Tatsache, daß Siemens im slovakischen Mochovce einen Reaktor fertigstellen will. Sowjetische Technologie soll dort mit Siemens-Produkten kombiniert werden. Bei einer baugleichen Investitionsruine in der Nähe von Greifswald hatte man davon abgesehen, weil keine westdeutschen Sicherheitsstandards erreicht werden könnten.

Fazit: Die Vertreter der Industrie und ihr geschäftsführender Ausschuß in Bonn halten unbeirrt an der Atomenergienutzung fest und wollen sich die Mitwirkung der sozialdemokratischen „Opposition“ sichern. Dafür scheinen gute Aussichten zu bestehen. Zumindest in den Vorverhandlungen haben sich die SPD-Vertreter meilenweit vom Ausstiegsbeschluß ihrer Partei entfernt. Abzuwarten bleibt, ob sich Schröder damit durchsetzen kann. (wop)

Das „Positionspapier“ ist leicht gekürzt in der „antiatomaktuell“ Nr.78 abgedruckt, erhältlich für 5 DM im Zapata. In der gleichen Nummer sind auch eine Reihe Berichte und Debattenbeiträge von und über die Aktionen Anfang März im Wendland nachzulesen.
 

Marginalien:
 

Zum Vergleich:
Ausgaben im Bundesforschungsetat 1993
Nukleare Energieforschung: 560,9 Mio. DM
Kernfusionsforschung: 206,1 Mio. DM
Beseitigung kerntechnischer Anlagen: 193,6 Mio. DM
Erneuerbare Energien und rationeller Energieeinsatz: 348,1 Mio. DM
 

„Die Genehmigung für den Betrieb eines Kernkraftwerkes wird gemäß den Entsorgungsgrundsätzen von dem laufenden Nachweis der Entsorgungsvorsorge abhängig gemacht. Der Verbleib eines ausgedienten Brennelementes muß jeweils für sechs Jahre im Voraus mit entsprechenden Fortschreibungen nachgewiesen werden. Entscheidend ist, daß bei lückenhafter Entsorgungsvorsorge die Betriebsgenehmigung für ein Kernkraftwerk zurückgenommen werden kann. Wenn Castor-Transporte in Deutschland nicht mehr möglich sind, ist der Einstieg in den Ausstieg der in Betrieb befindlichen Kernkraftwerke erzwungen. Die Blockade der Entsorgungswege ist für verschiedene politische Gruppierungen der entscheidende Hebel, mit dem der Ausstieg aus der Kernenergie umgesetzt werden soll.“ (Energiemärkte im Umbruch - Die energiepolitischen Positionen des BDI, Januar 1997)