Albanien: Der Bedrohte Aufstand

Der albanische Aufstand ist in der Defensive. Doch niemand kann ausschließen, daß es zu einer Welle der Konfrontation zwischen der Bevölkerung und der multinationalen „Friedenstruppe“ kommt. Auch gibt es immer noch das Risiko aggressiver Manöver des diskreditierten Präsidenten Sali Berisha.

Nach dem euphorischen Beitrag des Athener SoZ-Korrespondenten bringen wir diesmal eine etwas nüchernere Analyse, einen Vorabdruck aus Inprekorr 307 (Internationale Pressekorrespondenz). Der Autor Nicos Yannopoulos organisiert in Griechenland das „Netzwerk für die Verteidigung politischer und sozialer Rechte“. Zwei Wochen nach Beginn des albanischen Aufstandes hielt er sich zehn Tage lang im Süden des Landes auf. Er führte dort lange Diskussionen mit den Leitern des „Nationalen Komitees für die öffentliche Rettung“ und Mitgliedern der Volkskomitees in verschiedenen Städten, darunter Saranda, Vlore, Tepelene und Gjirokaster. (wop)
 

Seit dem 10. März ist der Aufstand in Wartestellung. (An diesem Tag einigten sich Berisha und die Opposition auf Neuwahlen im Juni und die Bildung einer Übergangsregierung, die je zur Hälfte aus Vertretern der (bisherigen) Regierungs- und Oppositionsparteien zusammengesetzt ist - d. Red.) Unglücklicherweise bedeutet dies aber wohl nicht, daß der „Bewegungskrieg“ von Anfang März in einen „Stellungskrieg“ übergegangen wäre, sondern einen deutlichen Rückgang der Bewegung. Dies hat seine Ursache teils in der Ermüdung, teils in der Unfähigkeit der Bewegung, einen glaubwürdigen Plan zur weiteren Auseinandersetzung mit Präsident Berisha zu entwerfen. Ein weiterer Faktor ist das Fehlen von Strukturen und Organisationen, die die Aufstände vereinen und ihnen neuen Mut einhauchen könnten.

Tausende weigern sich, ihre Waffen abzugeben, bevor Berisha abtritt. Aber während einige wenige die Geduld verlieren oder gegen irgendwelche Entscheidungen der Interimsregierung unter Bashko Fino revoltieren, ist das generelle Klima nicht das sozialer Polarisierung oder verschärfter politischer Konfrontation. Im Gegenteil, die meisten Menschen sagen: „Wir müssen unsere Differenzen überwinden.“ Es gibt Menschen, sogar unter den Aufständischen, die sagen, die Wiederherstellung der Ordnung habe höchste Priorität oder sei zumindest sehr wichtig. Gleichzeitig verschwindet die Forderung nach Rücktritt von Präsident Berisha allmählich aus den Köpfen der Aufständischen und wird immer mehr als „parlamentarische“ Frage gesehen.

Bezeichnenderweise hat niemand gewagt, den repressiven Charakter der „multinationalen Truppe“ deutlich zu benennen. Am 7. April haben die Volkskomitees gefordert, die Kommandeure dieser Truppe sollten sich nicht mit Präsident Berisha treffen. Aber sie waren zurückhaltend, die Stationierung ausländischer Truppen in Albanien irgendwie zu kommentieren. Tatsächlich haben viele Rebellenführer ihre Unterstützung für den „internationalen Schutz humanitärer Hilfe“ bereits Mitte März angedeutet. Was besonders kurios ist, wo doch jeder weiß, daß humanitäre Hilfe eher durch korrupte Würdenträger als von Aufständischen oder gar bewaffneten Banditen bedroht ist.

Volkskomitees

In Albanien sind die Volkskomitees ausgesprochen demokratische Körperschaften, die die Aufstandszonen organisieren und verwalten. Sie sind nicht wirklich eine Form direkter Demokratie, da die Delegierten weder direkt gewählt noch absetzbar sind. Sie spiegeln nicht wirklich eine Politisierung der Bevölkerung und einen entsprechenden Zerfall der hierarchischen Struktur der Gesellschaft wider. Dennoch repräsentieren sie deutlich die „Durchschnittsmeinung“ und die Gefühle der Mehrheit der aufständischen Bevölkerung. Ganz sicher sind sie nicht Teil eines Projekts zum Wiederaufbau des Staatsapparates in den aufständischen Städten. Aber sie sind widersprüchliche Kollektive, die auf der einen Seite die Instabilität aufrechterhalten und die Forderungen der Aufständischen ausdrücken. Auf der anderen Seite legitimieren sie durch ihre Zusammenarbeit die politischen Parteien der Regierung der nationalen Versöhnung und der von Tirana anerkannten Präfekten und Lokalbehörden, mit dem Ziel der Wiederherstellung der Ordnung. Die meisten Komitees versuchen, die Polizei wiederaufzubauen, statt Volksmilizen oder lokale Selbstverteidigungskomitees zu entwickeln.

Mitglieder der Komitees sind meist Leute mit militärischer oder Verwaltungserfahrung, die ein gewisses soziales Prestige hatten und eine wichtige Rolle spielten, als der Aufstand begann. Die meisten waren weder vorher schon „Aktivisten“, noch sind sie die natürlichen Führer, die jeder Aufstand hervorbringt. Meist sind es ältere Männer aus den konservativen Sektoren der Bevölkerung.

Die Militärpersonen in den Komitees spielen eine sehr widersprüchliche Rolle. Ihre entscheidende Rolle bei der Hilfe für die Aufständischen beim Kampf und der Bezwingung der Repressionstruppen des Berisha-Regimes wird allgemein anerkannt. Aber diese Leute werden kaum die Entwicklung von Selbstverteidigungsstrukturen in der Erhebung fördern. Ihre Tradition und Mentalität werden dies eher blockieren. Natur und Arbeit der Komitees werden auch vom Fehlen „aktivistischer“ Erfahrung und jeglicher subversiver oder Gegenkultur beeinflußt - und natürlich vom Fehlen von Netzwerken entschiedener Revolutionäre.

Ermüdung und Verwirrung

Das andere große Problem ist die Ermüdung. Tausende Aufständische haben das Land verlassen oder versuchen dies. Als Gruppe sind die Aufständischen im ideologischen Sinne verworren. Und diese Verwirrung bestimmt die Grenzen und Widersprüche der albanischen Erhebung. Dies ist ein bewaffneter Massenaufstand. Aber als die Elite in Tirana ihre „Regierung der nationalen Versöhnung“ gebildet hatte, standen die Aufständischen ohne Projekt zur Ausweitung ihres Kampfes mit Präsident Berisha und zur Ausweitung ihrer eigenen Machtbasis da. Ergebnis scheint zu sein, daß die Erhebung unfähig ist, ihre eigenen Lösungen durchzusetzen oder eine drastische Veränderung des sozialen und politischen Kräfteverhältnisses zu erreichen. Doch gleichwohl repräsentieren die Rebellen eine wichtige Dynamik in der Gesellschaft. Würde Berisha eine rasche Wende versuchen, um die Kontrolle zurückzuerlangen, könnte dies den Aufstand erneut zünden. Und wenn Berisha geht, könnten sich Teile der Aufstandsbewegung in eine neue soziale Opposition verwandeln.

Probleme

Die europäischen Medien beschäftigen sich viel mit der Gewalt in Albanien. Meist versäumen sie jedoch, zwischen der Gewalt des Aufstands (Exekution von Agenten der Geheimpolizei), der politischen Gewalt des Regimes (seine Vergeltungsschläge und sein „anonymer“ Terrorismus, der den Aufstand spalten und schwächen soll) und natürlich der Gewalt der einfachen Menschen, die jeden Aufstand, jede Unruhe oder Revolution begleitet, zu unterscheiden. Aus den kapitalistischen Massenmedien und von Berishas PR-Team kommt dieselbe Botschaft: Albanien stecke in einem Teufelskreis von Chaos und Anarchie, der mit dem Aufstand begann.

Wollen wir deutlich sein. Jeder Aufstand ist von einem Anwachsen politischer und sozialer Gewalt begleitet. Stets gibt es unweigerlich eine Zunahme von Verletzungen der bisherigen Gesetze. Wo immer eine Machtstruktur zusammenbricht, versuchen verschiedene Individuen, sich die Rollen und den Besitz anzueignen, die ihnen ihrer Meinung nach rechtmäßig zustehen.

Diese Individuen können teilweise vom Geist der Solidarität motiviert sein, aber ihr Tun ist auch das Ergebnis von jahrelanger materieller Armut und Manipulation ihrer Persönlichkeit. Teile von dem, was sie sich aneignen, wären ganz sicher besser in den Händen anderer Individuen und Gruppen aufgehoben - nicht notwendigerweise in jenen der bisherigen Eigentümer nach den Gesetzen des alten Regimes.

Bis ein Aufstand der Unterdrückten seine „gerechten Ziele“ in ein Gesetzessystem auf Grundlage von Freiheit, Gleichheit und Solidarität überführen kann, muß man mit einer Reihe kleinerer Veränderungen der früheren Gesetze vorliebnehmen. In allen bisherigen Revolutionen und Aufständen wurde dies irgendwann als Vorwand für die Wiedererrichtung eines autoritären, hierarchischen Systems benutzt.

Diese weitverbreiteten Verstöße sind sicher ein großes Problem für den albanischen Aufstand. Unter anderem desorientieren sie große Teile der Bewegung und lassen viele Menschen konservativer werden. Nostalgikern von „Ordnung“ und starkem Staat dienen sie als Argumente. Diese Verstöße sind nicht durch den Aufstand ausgelöst worden, aber er ermöglicht jetzt ihr Auftreten. Die wirkliche Ursache der Verstöße sind dieselben sozialen Verhältnisse, die auch zum Aufstand geführt haben: die materielle Not und das Gefühl, von den Herrschenden im Stich gelassen worden zu sein.

„Kriminelles“ Verhalten in den Rebellengebieten nimmt offensichtlich auch die Tradition von Verstößen aus der albanischen Gesellschaft auf. Ein großer Teil der Bevölkerung, vor allem in dem von Rebellen kontrollierten Süden, hatte schon immer ein sehr distanziertes Verhältnis zur Legalität. Das Berisha-Regime tolerierte, ja ermutigte dieses Verhalten, da es für vielen Menschen kaum andere wirksame Überlebensstrategien gab. Die Menschen waren auch stark beeinflußt von der unglaublichen Korruption des Berisha-Regimes bis hinunter zu den untersten Funktionären. Wir können daher kaum überrascht sein, daß der Süden seit Beginn des Aufstandes so viel „kriminelles“ Verhalten erlebte.

Die Volkskomitees waren nicht in der Lage, auch nur die asozialsten und verwerflichsten dieser allgemeinen Verstöße zu kontrollieren. Wo sie es versucht haben, sind sie in der Regel gescheitert. Und sie haben, um solches Verhalten zu stoppen, Methoden aus der „alten Zeit“ benutzt. Weil sie den Polizeikräften des Berisha-Regimes nicht völlig trauen, haben sie ehemalige Polizisten des früheren, stalinistischen Systems beauftragt, „ein Auge auf sie zu werfen“. Wie in den alten Tagen wurden öffentliche Versammlungen organisiert, um die Bevölkerung zu ermahnen, der Polizei zu vertrauen und sie zu unterstützen.

Was nicht geschah, ist die Entwicklung von Selbstorganisationsstrukturen des Aufstands, die Schaffung und Verallgemeinerung eines Systems lokaler Selbstverteidigungseinheiten und Volkstribunale. Wir wissen immer noch nicht, wieweit solche Strukturen am Beginn des Aufstands funktioniert haben. Aber seit dem 15. März waren die meisten Aufständischen wirklich passiv gegenüber den um sich greifenden Verstößen. Die Rebellen wissen nicht, was sie damit anfangen sollen, und ebensowenig, was gegen Initiativen der imperialistischen Mächte oder das Risiko eines Gegenangriffs des überlebenden Kerns des Berisha-Regimes zu tun wäre.

Um seine Rolle als Zentrum des politischen Lebens des Landes wiederherzustellen, scheint der Präsident eine „Strategie der Spannung“ zu verfolgen. Aus diesem und anderen offensichtlichen Gründen ist es wichtig, einen genauen Unterschied zu machen zwischen sozial motivierten Verstößen kleineren Stils einerseits und den kriminellen Machenschaften von Mafiagruppen und den kriminell-terroristischen Aktivitäten von Berishas Agenten andererseits. Es ist offensichtlich unmöglich, zwischen sozialen Verstößen und organisiertem Verbrechen genau zu unterscheiden.

Wenn aber die Aufständischen nichts dagegen unternehmen, werden die allgegenwärtigen Verstöße kleinen Stils vom Regime strukturiert, organisiert und auf die eine oder andere Weise ausgenutzt werden, um den Aufstand zu schwächen.

Es ist auch wichtig, den „weißen Terror“ zu beleuchten, den Berishas Generalstab in den Rebellengebieten und sogar in Tirana organisiert. Dieser Terror ist ein entscheidendes Instrument in Berishas diplomatischen Verhandlungen. Er stellt sich selbst gegenüber den ausländischen Mächten als den einzige Mann dar, der die Ordnung in dem „Chaos“ wiederherstellen könne, das seiner Meinung nach Albanien beherrscht. Innerhalb Albaniens nutzt Berisha die Gewalt in zwei Richtungen: um den Aufstand zu diskreditieren und zu schwächen und um die Konfrontation mit der Sozialistischen (ex-kommunistischen) Partei von Bashko Fino aufrechtzuerhalten. Die Sozialisten, die die einzige reale Alternative zu Berisha darstellen, dominieren die Regierung der nationalen Versöhnung. Berisha hofft, daß seine „Strategie der Spannung“ die Sozialistische Partei zu konservativeren Positionen bewegen und die Moral seiner eigenen, versprengten Unterstützer heben werde.

Es gibt einen wachsenden Trend von Attentaten auf Berishas politische Gegner - eindeutige Sabotageakte, wie die Brandanschläge auf Büros der Sozialistischen Partei. Und es gibt „blinde“ terroristische Angriffe, deren Ziel es ist, den Aufstand zu schwächen und Forderungen nach oder Tolerierung der Rückkehr zu einem „starken Staat“ zu befördern. Die nächsten Schritte in dieser Strategie werden wahrscheinlich die Verschiebung der für Juni geplanten Wahlen und Widerstand seitens Berishas gegen die Bildung der versprochenen Konstituierenden Versammlung sein.

Albaniens Feinde

Trotz aller Differenzen sind die ausländischen Mächte in ihrer kurzfristigen Strategie in Albanien einig. Der Aufstand muß unterlaufen und die „Stabilität“ wiederhergestellt werden. Die „westlichen Demokratien“ wollen den Aufstand, der die völlige Auflösung eines Nachbarstaats der EU auszulösen droht, liquidieren.

Keiner dieser Mächte geht es wirklich um die Leiden der Menschen in Albanien. Schließlich ist die Zahl der Opfer dieses Aufstandes unbedeutend gegenüber den Leichenbergen in Ruanda, Bosnien und Tschetschenien. Der albanische Aufstand bedroht die Stabilität des Balkans - aber nicht in der Weise, wie es die westlichen Medien meist unterstellen. Kein ernsthafter Beobachter würde erwarten, daß diese Rebellion einen ethnischen Krieg zwischen der albanischen Minderheit, der slawischen Mehrheit in Jugoslawien und Mazedonien auslösen könnte. Aber das Phänomen eines Volksaufstandes als Antwort auf einen Finanzkollaps könnte sich in diesen Ländern, in Bulgarien oder in Teilen der früheren Sowjetunion wiederholen.

Mit anderen Worten: Es geht nicht um die Albanierinnen und Albanier, um Frieden oder um Demokratie. Es geht um Zusammenhalt und Glaubwürdigkeit der „neuen Weltordnung“, die von einigen Albaniern bedroht wird. Deshalb werden 79.000 Tonnen Kriegsgerät nach Albanien geschickt, um ein paar Tonnen Reis und Milchpulver zu schützen.

Albaniens Freunde

Der albanische Aufstand ist kein Echo der Vergangenheit. Er ist nicht der letzte Überrest einer heroischen Vergangenheit. Er wurde nicht von ein paar „Nostalgikern“ ausgelöst. Im Gegenteil, die Revolte des albanischen Volkes kommt aus der Zukunft. Sie ist das erste Zeichen eines Widerstands der „Vierten Welt“ gegen die neue kapitalistische Barbarei, die sich auf dem Planeten ausbreitet.

Dies ist nicht die Morgendämmerung der sozialistischen Weltrevolution. Aber es ist ein Alptraum für die Kräfte der Reaktion und Konterrevolution. Es ist die Untergrabung der bestehenden Ordnung des „neuen Europas“. Es zeigt auf, daß die bürgerliche Hegemonie nicht die einzige Möglichkeit ist.

Die radikale Linke sollte nicht einfach nur ihre Sympathie mit dem albanischen Aufstand ausdrücken oder die Tatsache bedauern, daß es keine genaueren Informationen über das Leben in den Aufstandsgebieten gibt. Sie sollte entschieden gegen die Teilnahmslosigkeit der westlichen Herrscher gegenüber dem menschlichen Leiden protestieren und die eigennützigen und zynischen Manöver der europäischen Mächte in Albanien beleuchten. Internationaler Widerstand ist nötig, um die internationalen Pläne zur Niederschlagung dieses Aufstands zu durchkreuzen.

(Nicos Yannopoulos, FI-press, 18.4.1997, Übers.: Björn Mertens)