Amsterdam: Einheit von unten

Der Amsterdamer EU-Gipfel ist vorbei, der Gegen-Gipfel auch. Über 1.000 Menschen aus allen Ländern der Europäischen Union (EU) und einigen darüber hinaus haben an seinen Veranstaltungen teilgenommen. Die dort verabschiedete Erklärung werden wir in der nächsten Ausgabe dokumentieren.

Am Samstag vor dem Treffen der Regierungschefs hatten (nach Polizeiangaben) 50.000 Menschen gegen deren Politik der Ausgrenzung und Austerität, gegen Arbeitslosigkeit und Armut in der EU in der Grachtenstadt demonstriert. Gekommen waren sie von überall her, aus Finnland, Norwegen, aus Griechenland und Marokko. Angeführt wurde der Zug von den ca. 600 Euromarschierern, die z.T. bis zu zwei Monate unterwegs gewesen waren. Eine schon in der Zusammensetzung derart internationalistische Demonstration dürfte bisher einmalig sein. Viele Teilnehmer, nicht zuletzt die Liverpooler Docker, waren tief beeindruckt.

Wie inzwischen üblich bei Gipfeltreffen, war die Reaktion der Staatsmacht reichlich paranoid. Die Euromarschierer wurden zwar vom Bürgermeister empfangen, der sich nicht entblödete, seinen Stolz zu bekunden, sie in seiner Stadt begrüßen zu dürfen. Gleichzeitig ließ er aber das Treffen im Rathaus von der ihm unterstellten Polizei filmen. Und da man ja nie wissen kann, ließ er seine Gäste von etlichen Dutzend Polizisten umstellen und die Toiletten sperren. Aus Sicherheitsgründen – versteht sich.

Seine Polizei scheint er, das bekamen etliche Demonstranten zu spüren, in Deutschland in die Schule geschickt zu haben. 131 Italiener wurden, gerade am Bahnhof angekommen, von der Amsterdamer Polizei festgenommen, gefesselt und in Polizei-Arrest gebracht. Der fadenscheinige Vorwurf: Sie hätten einige Zugabteile zerstört. Einen Tag später wurde in der Nähe eines Hausbesetzertreffs eine spontane Nachtdemonstration eingekesselt, noch bevor sie sich in Bewegung setzen konnte. Über 300 Menschen wurden nach mehreren Stunden verhaftet und dabei z.T. an den Haaren aus der Menge herausgezogen. Die Frauen unter den Arrestierten wurden von männlichen Beamten durchsucht und auf die Toilette begleitet. Unter den Festgenommenen befanden sich auch zwei dänische Journalisten. Der Vorwurf gegen sie, wie den Rest: Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung. Die meisten wurden ca. zwei Tage später direkt in ihre Herkunftsländer abgeschoben.

Einschüchtern konnte ein solches Vorgehen allerdings nicht. Die Euromarschierer und Gegen-Gipfelteilnehmer nutzten die Tage in Amsterdam, Kontakte zu knüpfen und sich über die oftmals recht ähnliche Lage in den EU-Ländern auszutauschen.

LinX hatte in Amsterdam die Gelegenheit, mit Anders Lange aus Kopenhagen zu sprechen, der sich per Fahrrad der Nordroute des Euro-Marsches angeschlossen hatte. (Die hatte übrigens Anfang Juni auch eine Etappe in Kiel). Anders ist Mitglied der Zimmermann-Gewerkschaft, der Rot-Grünen Einheitsliste, der Sozialistischen Arbeiter Partei (IV. Intenationale) und gehörte in Dänemark zu den Koordinatoren des Marsches. (wop)

LinX: Kannst Du uns etwas über die Euro-Märsche in Dänemark sagen?

Anders Lange (AL): Wir sind am 18. Mai losgefahren. In Kopenhagen gab es eine Demonstration mit 300 bis 400 Teilnehmern. Auf deren Kundgebung sprachen Vertreter aller wesentlichen dänischen Anti-EU-Organisationen. Außerdem gab es Reden der Renault-Arbeiter aus Vilvoorde (Belgien), die von ihrem Kampf um Arbeitsplätze berichteten. Sie fordern dort die 35-Stunden-Woche und setzen dies gegen die Forderungen der Unternehmer nach mehr Flexibilität. Eines der Themen, mit denen wir mobilisiert haben, war die Arbeitslosigkeit. In Dänemark gibt es ein neues Gesetz gegen Jugendliche unter 25 Jahren. Sie werden gezwungen, entweder eine Ausbildung zu machen, oder schlecht bezahlte Jobs anzunehmen. Man zahlt ihnen nämlich nur die Hälfte des Arbeitslosengeldes.

LinX: Das heißt sie bekommen nur die Hälfte des üblichen Arbeitslosengeldes?

AL: Nicht ganz. Das hängt von ihrer Position ab. Leute, die nach einer Ausbildung ein Jahr gearbeitet haben, haben Anspruch auf das volle Arbeitslosengeld. Wenn du aber eben kein ganzes Jahr zusammenbekommst – und wenn du jung bist, ist das eine lange Zeit – gibt es nur die Hälfte.
Diese Politik greift junge Menschen in einer Phase an, in der sie dabei sind, sich zu etablieren. Viele heiraten, bevor sie 25 sind, und suchen einen Platz zum Leben. Außerdem kommt man gewöhnlich in Dänemark nicht ohne Verkehrsmittell aus, wenn man zur Arbeit will; und die sind bei uns reichlich teuer. Es sind also ziemlich harte Bedingungen für junge Leute, die sie in mies bezahlte Jobs zwingen. Um diese Frage hat es in der Gewerkschaft viel Ärger gegeben, denn die sozialdemokratische Führung unterstützt diese Politik. Die Gewerkschaftslinke ist natürlich dagegen, denn die Gewerkschaften haben durch sie große Probleme, die Leute zu organisieren. Viele haben nämlich einfach nicht das Geld, um Mitglied zu werden. Sie bekommen also nicht die Unterstützung von den Gewerkschaften, die sie erwarten. Und natürlich hat es auch Auswirkungen auf die Tariflöhne, wenn es einen Haufen junger Menschen gibt, die bereit sind jeden Job zu machen.

LinX: Das untergräbt doch die Position der Gewerkschaften. Es ist schwer zu verstehen, warum die Gewerkschaftsführer dem zustimmen.

AL: Ja. Ihnen ist es wichtiger, die Sozialpartnerschaft zu erhalten, bei der es darum geht, die Leute am Arbeitsplatz ruhig zu halten und die dänische Arbeitskraft so flexibel wie möglich zu machen, um der dänischen Wirtschaft zu helfen. Letzteres ist natürlich ziemlich merkwürdig angesichts einer total verzahnten EU-Ökonomie. Trotzdem haben sie diese Haltung. Außerdem haben wir eine sozialdemokratisch geführte Regierung, und es ist daher extrem schwierig, die Gewerkschaftsführung zu bewegen, in diesen Fragen etwas gegen ihre Parteigenossen zu unternehmen.

LinX: Verglichen mit anderen Ländern ist die Arbeitslosenrate in Dänemark niedrig. Wie kommt das?

AL: Das hat zwei Gründe: Zum einen geht es der dänischen Wirtschaft einfach gut. Sowohl im Baugewerbe, wo ich arbeite, als auch in der Industrie hat es eine Zunahme an Beschäftigung gegeben. Zum anderen gibt es verschiedene Formen von Zwangsarbeit („forced jobs“), wie bereits am Beispiel der Jugendlichen erwähnt. Die Kommunen haben in Dänemark die Möglichkeit, Sozialhilfeempfänger zu zwingen, für das Geld, was sie bekommen, zu arbeiten. Und in Dänemark bekommst du nicht besonders viel vom Sozialamt. Es kommt also dabei heraus, daß du schlechter bezahlt wirst, als die Leute, mit denen du zusammenarbeiten mußt. Auf diese Weise werden Tarifverträge unterhöhlt. In Kopenhagen gibt es beim Stadtrat z.B. ein großes Amt, das für Renovierungen und Neubau zuständig ist. Zeitweise hat jeder Vierte der dort Beschäftigten zwangsweise gearbeitet, und zwar für maximal 80 Kronen in der Stunde (ca. 20 DM) während seine Kollegen 120 bis 130 Kronen verdienten. Außerdem hat man viel an der Statistik manipuliert, indem die Leute, die zeitweise ausschieden, nicht mehr mitgezählt wurden. Das sind 20.000 bis 30.000. Aber es hat eine reale Abnahme der Arbeitslosigkeit gegeben, und das macht es sehr sehr schwer, über das Problem der Arbeitslosigkeit zu sprechen. Es gibt 200.000 Arbeitslose in Dänemark (Bev. ca. 5,3 Mio.), aber offiziell gibt es keine Arbeitslosigkeit. Niemand will darüber sprechen, niemand nimmt es als politische Aufgabe wahr. Und wenn doch, dann mit der Absicht, mehr Druck auf die Arbeitslosen auszuüben. Denn wenn man das Arbeitslosengeld weiter kürzt, wird der Zwang größer, auch niedriger bezahlte Stellen anzunehmen. Die Konservativen und Liberalen sind zutiefst überzeugt, daß alle Arbeitslosen betrügen und jeder eine Stelle finden kann, wenn er nur will.

LinX: In Dänemark soll es ein Modell geben, nach dem Leute für eine bestimmte Zeit aufhören zu arbeiten und Erwerbslose ihre Stelle einnehmen. Wie sieht das im einzelnen aus und was hältst Du davon?

AL: Die Idee kommt ursprünglich von den Müllarbeitern in Århus. Dort lief es so, daß aus einer Gruppe von vier Leuten einer gezwungen war, für eine Woche nachhause zu gehen. Er bekam dafür Arbeitslosengeld, war aber nicht verpflichtet, eine andere Arbeit anzunehmen. Jede Woche kam ein anderer dran. Das bedeutete, daß vier Leute die Arbeit von Dreien taten. Das Einkommen nahm zwar absolut um einige hundert Kronen ab, berechnet auf die geleistete Arbeitszeit nahm es aber zu. Diese Idee hat die Diskussion um das Teilen von Arbeit erheblich angeregt, denn im Augenblick ist es in Dänemark ziemlich schwierig, die Reduzierung der täglichen Arbeitszeit zu fordern. Gleichzeitig hat es eine Auseinandersetzung mit der Frage angestoßen, warum die Menschen so viel arbeiten, was in vielen Fällen ziemlich ungesund ist, z.B. wenn die Arbeit körperlich hart ist, wie bei den Müllarbeitern.
Die sozialdemokratische Arbeitsministerin Jule Anderson hat diese Idee aufgegriffen, aber was dabei herauskam, hat wenig zu tun mit dem, was die Müllarbeiter wollten. Es gibt jetzt die Möglichkeit, aus verschiedenen Gründen zeitweilig mit der Arbeit aufzuhören. Je nach angegebenem Grund bekommt man dann bis zu 80% des Arbeitslosengeldes, niemals aber den vollen Betrag. Zwischenzeitlich ist da sogar noch weiter gekürzt worden, so daß es nun in einigen Fällen nur noch 60% des Arbeitslosengeldes gibt. Man kann heute also sagen, daß dieses Konzept nichts mehr taugt, auch weil es v.a. Frauen sind, die zeitweilig ausscheiden. In dänischen Familien sind es nämlich meistens die Männer, die mehr verdienen, weshalb es an den Frauen hängen bleibt, sich für Kinderbetreuung beurlauben zu lassen. Ich denke, dieser Aspekt ist wichtig. Die Idee, den Arbeitsmarkt zeitweilig zu verlassen und dann auf die gleiche Stelle zurückzukehren, die ein Arbeitsloser in der Zwischenzeit ausfüllen konnte, ist gut. Aber da ist diese Sache, daß es hauptsächlich Frauen betrifft. Ich denke, wir sollten nicht eine Politik unterstützen, die es den Unternehmern erleichtert, die Frauen vom Arbeitsmarkt zu verdrängen oder aus ihnen einen hochflexiblen Arbeitskräftepool zu machen. Frauen und Männer sollten die gleichen Rechte auf dem Arbeitsmarkt haben. Das Konzept der Arbeitsministerin geht aber in die andere Richtung.

LinX: Auf dem Gegen-Gipfel hat es auch Treffen von Gewerkschaftern gegeben. Waren sie ein Erfolg?

AL: Ja. Zum einen ist es für einige Leute einfach wichtig zu sehen, daß es in anderen Ländern Leute in der gleichen Situation wie der ihren gibt. Es ist einfach wichtig für die Moral. Dann ist es natürlich für die Liverpooler Docker und die Renault-Arbeiter wichtig gewesen, Leute zu treffen, die die Solidarität mit ihnen organisieren. Zum anderen ist es wichtig, daß wir uns organisieren. Denn die Bosse sind auf der europäischen Ebene ziemlich gut organisiert, sowohl durch ihre eigenen Organisationen als auch durch die EU. Dort haben sie einen extrem großen Einfluß auf die Direktiven der EU-Kommission und in einigen Gebieten einen hohen Einfluß auf die Entscheidungen der Ministerkonferenzen. Z.B. hat der Europäische Gewerkschaftsbund zusammen mit den europäischen Unternehmerverbänden eine Erklärung über Teilzeitarbeit herausgegeben. Das würde den Bossen mehr Flexibilität ermöglichen und es schwerer machen, diese Leute zu organisieren. Teilzeitarbeiter sind leichter zu feuern. Zur gleichen Zeit gab es von der EU-Kommission ein sogenanntes „Grünes Papier“, das totale Flexibilisierung fordert. Die Arbeitszeit soll schon in wenigen Jahren nicht mehr auf Tages- oder Wochen-, sondern auf Jahresbasis gezählt werden. Im Baugewerbe würde das bedeuten, daß im Sommer dann zehn oder zwölf Stunden pro Tag gearbeitet werden, im Winter, wenn die Wetterbedingungen gewöhnlich schlecht sind, dafür weniger. Ich denke, wir müssen auf der lokalen Ebene, der Ebene der Betriebsräte und Vertrauensleute viele internationale Kontakte aufbauen, um diese Dinge, die unsere Gewerkschaftsführer da in vielen Ländern tun, zu bekämpfen. Wir brauchen dringend eine Konferenz, die dies diskutiert. Denn wenn wir zusammenhalten, können sie in Dänemark nicht mehr sagen „Wir müssen es tun, weil es in Deutschland auch gemacht wird“ und umgekehrt. Ich denke also, daß das Zusammenschließen der Gewerkschaftsbasis in der EU eine sehr wichtige Aufgabe ist. Das Treffen in Amsterdam war ein Schritt in diese Richtung, wenn auch kein besonders großer.

LinX: Die Kollegen von „Solidariteit“ aus den Niederlanden planen, für Dezember zu einer solchen Konferenz der Gewerkschaftsbasis einzuladen.

AL: Ich habe davon hier in Amsterdam zum ersten Mal gehört und wäre sehr froh, wenn sie dazu die Möglichkeiten haben. Aber ich denke auch, daß es wichtig ist, einige der großen linken Gewerkschaften in ein solches Vorhaben einzubeziehen. Diese Konferenz wird nur dann Einfluß haben, wenn in den wichtigen Ländern wie Frankreich, Deutschland, Italien oder Großbritannien große Gewerkschaften bereit sind, ihre Ideen aufzugreifen. Es müssen also einige Gewerkschaftsführer für diese Idee gewonnen und in die Aktivitäten einbezogen werden.

LinX: Vielen Dank für das Gespräch.