Wissenschaftler bekräftigen Leukämie-Verdacht gegen AKW Krümmel

Der Verdacht, daß die v.a. bei Kindern gehäuft auftretende Leukämie in der Elbmarsch, durch das Atomkraftwerk Krümmel bei Geesthacht ausgelöst worden sind, hat sich aufgrund neuer Indizien eher noch verstärkt. Vermeintliche Entlastungsargumente für das Kraftwerk, die in den letzten Monaten durch die Medien geisterten, erweisen sich als nicht haltbar. Die Bürgerinitiativen aus der Elbmarsch werfen dem grünen Energiestaatssekretär Voigt angesichts dieser Tatsachen Untätigkeit und mangelnden Ausstiegswillen vor.

Schwarze Schafe und seriöse Wissenschaftler

Einige der prominentesten atomkritischen StrahlenforscherInnen hatten sich auf Einladung des IPPNW (Internationale Ärzte zur Verhinderung eines Atomkriegs) am 19. Juni in Kiel versammelt, um auf einer Veranstaltung über Leukämie durch das Atomkraftwerk Krümmel zu referieren und zu diskutieren.

Für die „etablierte“ Wissenschaft in Gestalt des Gemeinschaftsausschusses Strahlenforschung und anderer honoriger Organisationen war dies ein Anlaß, schon bevor die Veranstaltung überhaupt begonnen hatte, per Pressemitteilung kundzutun, diese sei „ausschließlich mit wissenschaftlichen Außenseitern besetzt“, es handele sich um die „schwarzen Schafe der Zunft“. Unter den deutschen Strahlenforschern verträten „die fünf ’kritischen‘ Wissenschaftler eine so verschwindende Minderheit“, daß sie „gemeinhin als Geisterfahrer“ gälten. Unterzeichnet worden war die Erklärung von den Professoren Horst Jung (Uni-Klinik Eppendorf) und Christian Streffer (Uni-Klinik Aachen).

Fast schon genüßlich zitierte Professor Edmund Lengfelder vom Strahlenbiologischen Institut der Uni München, der die Veranstaltung leitete, aus dieser Erklärung. Und er illustrierte die Kompetenz der „seriösen“ Gremien mit einem Hinweis auf die Ergebnisse des internationalen Tschernobyl-Projekts 1990/91, an dem hochrangige Organisationen wie die Internationale Atomenergie-Agentur IAEA und die WHO sowie 700 WissenschaftlerInnen beteiligt waren: Diese waren 1991 zu dem Fazit gekommen, daß es keine Gesundheitsschäden gebe, die direkt einer Strahlenbelastung zugeordnet werden könnten. Schon 1990, so Lengfelder, sei jedoch allein die Schilddrüsenkrebsrate in Weißrußland 30fach erhöht gewesen. Solche Fakten seien vom Expertengremium als nicht existent dargestellt worden.

Nebelkerzen: Elbmarsch-Leukämie kann gar nicht durch Strahlung verursacht werden

Anlaß dafür, daß die „schwarzen Schafe“ jetzt in Kiel an die Öffentlichkeit gingen, waren mehrere Medienberichte, die in den vergangenen Monaten einigermaßen großes Aufsehen erregt hatten und die alle zum Inhalt hatten, die Leukämie in der Elbmarsch könne grundsätzlich überhaupt nicht durch das Atomkraftwerk Krümmel verursacht worden sein. Insbesondere hatte sich in dieser Sache im vorigen Oktober der Kieler Hämatologe Professor Winfried Gaßmann hervorgetan: Er hatte behauptet, die Art der Leukämie, die bei den Kindern in der Umgebung des AKW überwiegend (in acht von neun Fällen) diagnostiziert worden sei, die sogenannte Akute Lymphatische Leukämie (ALL), könne prinzipiell gar nicht durch ionisierende Strahlung hervorgerufen werden. Insofern, läßt sich daraus schlußfolgern, sei die ganze Arbeit der Leukämiekommissionen und der Verdacht gegen kerntechnische Anlagen (AKW oder GKSS-Forschungsreaktor in Geesthacht) gegenstandslos.

Dieser Ansicht widersprachen die kritischen WissenschaftlerInnen vehement. Gaßmann habe sich bei seinen Aussagen, so Dr. W. Hoffmann aus Bremen, auf  Studien an Patienten nach einer Strahlentherapie bezogen. Tatsächlich handele es sich bei diesen Patienten jedoch um eine in hohem Maße strahlenexponierte und hochselektierte Bevölkerungsgruppe. Diese Daten seien für die Situation in der Elbmarsch deshalb völlig irrelevant. Hoffmann ist Epidemiologe und auch an der gerade angelaufenen norddeutschen Fall-Kontroll-Studie zu Leukämierisiken beteiligt.

Professor Inge Schmitz-Feuerhake, Medizin-Physikerin an der Uni Bremen, stellte in Ergänzung dazu Ergebnisse von Untersuchungen an Überlebenden der Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki vor: Hier habe sich eindeutig gezeigt, daß die ALL wie auch weitere Leukämieformen strahleninduzierbar seien. Bei niedrigen Radioaktivitätsdosen tritt gerade die ALL eher als andere Formen signifikant erhöht auf. Es gebe, so Schmitz-Feuerhake, „keinen Grund anzunehmen, daß die Leukämie im 5-Kilometer-Umkreis um das Kernkraftwerk Krümmel nicht strahleninduziert sein kann“.

Der Marburger Strahlenmediziner Professor Horst Kuni ergänzte diese Aussage mit Befunden über Leukämien nach Strahlenanwendung in der Medizin. Auch hier sei, z.B. nach Röntgenuntersuchungen von Frauen in der Schwangerschaft, das Risiko des Kindes, an ALL zu erkranken, erhöht. Insbesondere im ersten Drittel der Schwangerschaft sei der Fötus sehr strahlenempfindlich. Die Leukämieerkrankungen träten gehäuft etwa vier bis fünf Jahre nach der Strahlenexposition auf.

Ähnliche zeitliche Verläufe berichtete Schmitz-Feuerhake auch aus anderen Untersuchungen und stellte fest, dies passe zu dem zeitlichen Zusammenhang zwischen dem Betriebsbeginn des Reaktors in Krümmel und dem Auftreten der kindlichen Leukämien in der Elbmarsch. Das AKW hat seinen Betrieb 1983 aufgenommen, die neun Leukämiefälle bei Kindern sind in den Jahren 1990 bis 1996 festgestellt worden.

Alles reiner Zufall?

Epidemiologe Hoffmann setzte sich aus Sicht seines Fachgebietes noch mit weiteren Behauptungen zur Entlastung des Atomkraftwerks auseinander. Zunächst einmal zitierte er die u.a. von Jung, der auch Mitglied in Angela Merkels Strahlenschutzkommission ist, aufgestellte Behauptung, die beobachtete Leukämie in der Elbmarsch liege im Rahmen von Zufallsschwankungen. Dem stellte Hoffmann die Fakten gegenüber: 1990 bis 1996 sind in einem 5-Kilometer-Radius um Krümmel 9 Kinder an Leukämie erkrankt (davon 8 an ALL). Zu erwarten gewesen wären in diesem Zeitraum in dieser Gegend 1,45 Fälle. Die Wahrscheinlichkeit, daß eine solche Häufung in einem so kleinen Gebiet rein zufällig auftritt und daß in der Nähe dieser Orte dann auch noch rein zufällig ein AKW liegt, bezifferte der Bremer Forscher auf 1 zu 20 Millionen. In der Krümmel-Umgebung finde sich, so Hoffmann, die weltweit größte Raum-Zeit-Häufung kindlicher Leukämien.

Eine weitere Aussage, die vor einiger Zeit durch die Medien ging, war die Bemerkung eines Kieler Mediziners, man sollte, wenn man Strahlung als Ursache vermute, eher Schilddrüsenkarzinome und nicht Leukämien untersuchen. Im Hintergrund steht die Behauptung, wenn Schilddrüsenkrebs nicht vermehrt auftrete, könne auch Radioaktivität nicht der Auslöser der Erkrankungen sein. Nach der Falloutbelastung von Tschernobyl ist, wie bereits erwähnt, das Schilddrüsenkrebsrisiko extrem angestiegen. Der Grund hierfür liegt aber in der Anreicherung radioaktiver Jod-Isotope in der Schilddrüse. Eine hohe Dosis radioaktives Jod behaupte jedoch für die Elbmarsch niemand, so Hoffmann, deshalb sei der Hinweis auf Schilddrüsenkrebs falsch. Hohe Jod-131-Konzentration treten nach einer Kernschmelze oder einem schweren Brennelementeunfall auf.

Staatssekretär Voigt: Kehrtwendung um 180 Grad?

Zur Abschlußdiskussion wurden dann Energiestaatssekretär Wilfried Voigt und Umweltminister Rainder Steenblock (beide von den Grünen) auf das Podium gebeten. Sie mußten sich heftige Vorwürfe seitens der BI-VertreterInnen im Publikum und auch von einem Teil der Wissenschaftler anhören. Im vergangenen Jahr Rot-Grün, so der Tenor der Kritik, sei nichts im Hinblick auf die Stillegung Krümmels geschehen. Hayo Dieckmann, Gesundheitsamtsleiter und Mitglied der niedersächsischen Leukämiekommission, zitierte aus einem Voigt-Papier von 1995, in dem dieser zu dem Schluß kommt, es existiere eine „geschlossene Indizienkette“ für das AKW als Leukämieverursacher. Deshalb müsse die Atomaufsicht nach § 17 Atomgesetz die Betriebsgenehmigung widerrufen, da eine erhebliche Gefährdung Dritter vorliege; sonst handele die Behörde pflichtwidrig. Genau dies, was er damals kritisiert habe, führe Voigt als Energiestaatssekretär jetzt aus, warf Dieckmann dem Politiker vor. Und das, obwohl sich in den vergangenen zwei Jahren die Situation dadurch „dramatisch zugespitzt“ habe, daß neue Indizien gegen Krümmel bekannt geworden seien. Dieckmann nannte u.a. hohe Meßwerte für radioaktives Cäsium-137 im Regenwasser an einer Meßstelle in der Nähe des AKW wie auch in der Luft in der Kraftwerksumgebung.

Voigt antwortete darauf, sein Papier von 1995 enthalte einen „schweren atomrechtlichen Denkfehler“: Die bloße Häufung von Widersprüchen, wie dort geschehen, reiche eben nicht aus, um ein atomrechtlich relevantes „Besorgnispotential“ zu begründen. Das habe er nach Amtsantritt lernen müssen. Die Bedingungen für eine Stillegungsverfügung gegen Krümmel seien zur Zeit nicht gegeben. Es fehle das Missing Link, das den Zusammenhang zwischen dem AKW-Betrieb und der erhöhten Leukämierate erklären könne. Schmitz-Feuerhake meinte demgegenüber, ihre Arbeitsgruppe habe „sehr konkrete Vorstellungen darüber, wie die Leukämie durch das AKW entstanden sein kann“.

Neue Gutachten: Müssen noch mehr Indizien gesammelt werden?

Voigt wies darauf hin, daß die Atomaufsicht mehrere Gutachten in Auftrag gegeben habe, die sich unterschiedlichen Aspekten des Verdachts gegen Krümmel widmen sollen: 1. ein strahlenbiologisches Gutachten, das u.a. die Frage klären soll, ob die geltenden Dosisgrenzwerte der Strahlenschutzkommission zu hoch angesetzt seien; auch soll die Frage einer Strahleninduzierbarkeit von ALL aufgegriffen werden; 2. ein Anlagengutachten soll sich mit der Atomanlage selbst befassen; 3. ein atomrechtliches Gutachten soll sich u.a. der Frage der Unregelmäßigkeiten beim Bau des Reaktordruckbehälters annehmen und untersuchen, ob eventuell eine andere Anlage als gehmigt gebaut worden ist.

Von den anwesenden BI-VertreterInnen, u.a. Marion Lewandowski, Eugen Prinz, Karsten Hinrichsen und Renate Backhaus, wurde demgegenüber moniert, die Vergabe der Gutachten habe sich um Monate verzögert. Sie stellten die Frage in den Raum, ob die neuen Gutachtenaufträge auch wieder so „verwässert“ worden seien, daß die GutachterInnen nichts Relevantes finden könnten. Dies war bei dem häufig zur Krümmel-Entlastung zitierten Öko-Institut-Gutachten von 1994 der Fall, das nur nach einem größeren Störfall im AKW suchen sollte und entsprechend diesem eingeschränkten Auftrag nichts gefunden hatte. Im übrigen reichen nach Ansicht der BIs auch ohne neue Gutachten die bisherigen Indizien aus, um einen „Gefahrenverdacht“ gegen das Atomkraftwerk zu begründen. Und ein solcher, so Dieckmann, reiche nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts für eine Stillegung aus.

Prof. Otmar Wassermann, Kieler Toxikologe und Vorsitzender der schleswig-holsteinischen Leukämiekommission, appellierte an die Politiker, sich doch den Empfehlungen der „vorsichtigen“ WissenschaftlerInnen anzuschließen. In der Vergangenheit habe sich immer wieder gezeigt, daß die Wissenschaft aus Unwissenheit Risiken systematisch unterschätze. Deshalb müßten z.B. Grenzwerte immer wieder nach unten korrigiert werden.

Toleranz und Verrat

Rainder Steenblock zog Unmut auf sich, als er den Kritikern der grünen Regierungsmitglieder vorwarf, teilweise eine „Verräterdebatte“ zu führen, die nur auf „Entlarvung“ aus sei. Dies helfe nicht weiter, alle hätten ja dasselbe Ziel des Atomausstiegs. Er mahnte „mehr Toleranz“ innerhalb der Bewegung an. Wenn nicht einmal mehr Kritik am Energieministerium geäußert werden dürfe, entgegnete sein Parteifreund Karsten Hinrichsen, Brokdorf-Kläger, „dann ist bald völlig tote Hose in der Anti-AKW-Bewegung“. Und weiter: „Wenn Ministerium und Fraktion nichts tun, dann verlieren wir unsere Basis vor Ort, dann haben auch die Regierungspolitiker gar keinen Rückhalt mehr.“ (H.H.)

Literaturhinweis:

Inge Schmitz-Feuerhake, Hayo Dieckmann, Bettina Dannheim, Anna Heimers, Heike Schröder: Leukämie und Radioaktivitätsleckagen beim Kernkraftwerk Krümmel. Bremen, Juni 1997 (Universität Bremen, Information zu Energie und Umwelt Nr. 28, 20 Seiten). Zu beziehen für 3,– DM zzgl. Versandkosten über die Universitäts-Buchhandlung Bremen, Bibliothekstr. 3, 28359 Bremen, Tel. 0421/211878, Fax 217074, E-Mail: unibuch.bremen@t-online.de.
 

„Es ist die Aufgabe der Atomaufsicht, dafür zu sorgen, daß in der Nähe der Atomkraftwerke keine kleinen Kinder erkranken. Aber nicht die Betreiber, sondern wir kritische Wissenschaftler werden in die Zange genommen.“ Prof. Inge Schmitz-Feuerhake, Physikerin