„Dem Traum so nahe” – und doch so fern

Appelle gegen neues atomares Wettrüsten beim Hiroshima-Tag

„Noch nie waren wir dem Traum einer weltweiten Ächtung der Atomwaffen so nahe wie jetzt. Dennoch droht ein neues atomares Wettrüsten. Die Friedensbewegung muß wieder verstärkt aktiv werden.” Dieses Resümee zog Dr. Michael Steger-de Wiljes, Stabsarzt der Bundeswehr und Mitglied des „Darmstädter Signals”, einer kritischen, sich zur Friedensbewegung zählenden Organisation von Bundeswehrsoldaten, beim diesjährigen Gedenktag zu den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki. Zum ersten Male hatten die Veranstalter, der Arbeitskreis Städtesolidarität und die Kieler Friedensgruppen, einen Bundeswehrsoldaten als Hauptredner beim Hiroshima-Tag eingeladen – für manche(n) Friedensfreund(in) nicht ohne Magendrücken.

So ging Steger-de Wiljes auch gleich zu Beginn seiner Rede auf diesen Umstand ein und verwies auf den Hardberg-Aufruf, in dem 1987 200 Offiziere der Bundeswehr ihr Treuegelöbnis dahingehend eingeschränkt hatten, daß sie nicht am Einsatz von Atomwaffen beteiligt sein wollten. Er bedauere, daß nicht nur in der Bundeswehr, sondern auch in der Öffentlichkeit allgemein sicherheitspolitische Fragen kaum noch diskutiert würden. Dies sei um so erstaunlicher, als einerseits Erfolge beim weltweiten Abrüstungsprozeß zu verzeichnen seien, andererseits die atomare Bedrohung immer noch und in Zukunft möglicherweise verstärkt wieder bestehe.

Als Erfolg wertete Steger-de Wiljes die völkerrechtliche Ächtung von Atomwaffen, sogar ihres bloßen Besitzes oder der Drohung mit ihnen, durch den internationalen Gerichtshof im letzten Jahr wie auch die Resolution des Europäischen Parlaments zur Ächtung von Atomwaffen. Dennoch seien immer noch 280 US-Atomwaffen in Europa stationiert. Die NATO beharre – „militärisch nicht nachvollziehbar”, so Steger-de Wiljes – weiterhin auf der Option eines nuklearen Erstschlags. Da das Abkommen zwischen NATO und GUS zur Osterweiterung der NATO keine Klausel für eine Nicht-Stationierung von Atomwaffen in den zukünftigen NATO-Ländern enthalte, bestehe nun die Gefahr, daß die GUS im Gegenzug selbst eine Erstschlagsdoktrin entwickele. Eine solche sei im Mai von Präsident Jelzin bereits gebilligt worden. Somit sei auch die Ratifizierung des START II-Vertrages massiv gefährdet.

Aber nicht nur dadurch wachse die Gefahr eines neuen atomaren Wettrüstens. Die NATO billige nach wie vor jedem Mitglied das Recht auf nukleare Teilhabe zu, sprich Stationierung von US-Atomwaffen auf dem eigenen Territorium und Verfügungsgewalt im „Verteidigungsfall”. Auch die Europäische Verteidigungsunion enthalte solche Klauseln, weshalb damit zu rechnen sei, daß die Europäer in 5-10 Jahren über eigene Atomwaffen verfügten. Vor diesem Hintergrund gebe es für die Friedensbewegung trotz aller Erfolge noch viel zu tun. Das Thema müsse im nahenden Bundestagswahlkampf zum Wahlkampfthema gemacht werden.

Im Anschluß an Steger-de Wiljes sprach Stadtpräsidentin Silke Reyer (SPD). Sie mahnte an diesem Tage auch die konventionelle Abrüstung an, konventionelle Waffen seien „nicht minder todbringend”. Ferner müßten endlich sämtliche Atombombentests eingestellt werden. Abschließend äußerte sich Reyer zu ihrer nicht erneuten Kandidatur bei den nächsten Kommunalwahlen. 1986 zählte sie mit zu den treibenden Kräften bei der Gründung des Arbeitskreises Städtesolidarität, der nicht zuletzt durch die Mitveranstaltung des Hiroshima-Gedenktages und mehrere Antikriegs-Austellungen die Kieler Friedensbewegung von städtischer Seite immer wieder unterstützt hatte. Sie hoffe, daß ihr „Nachfolger oder Nachfolgerin im Amt der Stadtpräsidentin den Arbeitskreis weiterleben” lasse. Daß dieser Appell nicht von ungefähr kam, ist wohl dem neuen OB Norbert Gansel geschuldet, der sich als bekennender Reserveoffizier und Marinefreund nicht herbeiließ, an der Gedenkveranstaltung teilzunehmen. Er wurde nur kurz am Rande gesichtet, offenbar auf dem Nachhauseweg das seltsame Spektakel mißtrauisch einige Minuten beäugend. Silke Reyers Appell am Ende ihrer Rede, „Menschen müssen immer wieder zusammenstehen, um Zeichen zu setzen gegen den Krieg”, könnte sich also ab der nächsten Wahlperiode geradezu als Vermächtnis erweisen, wenn Militaristen à la Gansel ihren Einfluß gelten machen und den Arbeitskreis sang- und klanglos einschlafen lassen.

Nach einer Darbietung des Interkulturellen Chores wurden wie auch in den vergangenen Jahren mit Kerzenlicht beleuchtete Lotosblüten aus Papier auf dem Kleinen Kiel ausgesetzt.

Daß die Kieler Friedensbewegung angesichts der von Steger-de Wiljes aufgezeigten Bedrohung nicht schläft, zeigt sie zusammen mit dem DGB Kreis Kiel-Plön am Antikriegstag (1.9., 20 Uhr) im Legienhof mit einer Veranstaltung unter dem Motto „Jetzt endlich: Atomwaffen abschaffen!” (siehe Kasten). (jm)