Kommunistisches Urgestein

Jürgen Kuczynski ist tot

Seit Beginn der 90er Jahre dieses Jahrhunderts befinden wir uns in der dritten Epoche des Kapitalismus. In dieser Phase – am deutlichsten in Deutschland ausgeprägt – stehen die Zeichen eindeutig in Richtung Barbarei. Doch – halt! – es gibt Hoffnung. Rechnet man einige ökonomische Eckdaten hoch, so kann man für das Jahr 2046 eine Steigerung der Produktion von 0,00%, die der Produktivität um 2,5% prognostizieren. Prima Voraussetzungen für die Anfänge einer sozialistischen Gesellschaft.

Derjenige, der sich Anfang des Jahres in einem Bändchen mit dem schönen Titel „Was wird aus unserer Welt?”  zu  einer solch arg optimistischen Aussage hinreißen ließ – leider vergaß er die genaue Uhrzeit anzugeben – verstarb am 6. August kurz vor seinem 93. Geburtstag. Nach einem erfüllten Leben als Wirtschaftswissenschaftler, Kommunist, Historiker, Endmoräne der DDR, linientreuer Dissident, Großbürger – alles Etiketten mit denen er in den letzten Tagen in  den Nachrufen von „Süddeutscher Zeitung” bis „jungle world” besungen wurde – und einem Output von über 3.000 Aufsätzen, Büchern, Artikeln, und wissenschaftlichen Untersuchungen sicherlich ein guter Zeitpunkt um abzutreten und die Verhältnisse einfach Verhältnisse sein zu lassen.

Bleiben werden für diejenigen ZeitgenossInnen, die zumindest zeitweise die  Mühen der Erkenntnis nicht scheuen, sein vierzigbändiges Hauptwerk „Geschichte der Lage der Arbeiter”, die 10 Bände „Studien zur Geschichte der Gesellschaftswissenschaften” oder die 5 Bände „Geschichte des Alltags des deutschen Volkes”. Für denjenigen, der sich für das bürgerlich-betuliche Leben eines Wissenschaftlers in der DDR interessiert, bleibt der „Dialog mit meinem Urenkel”, der nicht ganz nachvollziehbar für einiges Aufsehen in der DDR gesorgt hatte.

Einige KielerInnen werden sich sicher noch gerne an die Geschichtsstunde erinnern, die ihnen das kommunistische Urgestein Kuczynski letztes Jahr in der Pumpe gab. „Als ich mich mit Kautsky und der Krupskaya über Lenin unterhalten habe ...” Letztere dürfen sich freuen: Zwei Tage vor seinem Tod schloß Kuczynski das Manuskript „Freunde und gute Bekannte” ab.

Nicht freuen kann mensch sich hingegen über folgenden Aspekt von Kuczynskis Ableben: Unter den bekannteren Menschen, die mit einem biblischen Alter gesegnet sind, befinden sich jetzt fast nur noch solche vom Kaliber eines Heldentod-Fetischisten Ernst Jünger oder einer Nazi-Filmerin Leni Riefenstahl. Daß der alte jungle-world-Kolumnist uns mit denen allein läßt, verzeihe ich ihm nie. (C.S.)