„Eine Reihe von Unterlassungen und verschleppten Ermittlungen”

Kritik des Rechtsanwalts des Diesner-Opfers Klaus Baltruschat

Nachfolgend dokumentieren wir Auszüge aus der Prozeßerklärung des Nebenklägers Klaus Baltruschat in der Strafsache Kay Diesner, verlesen am ersten Prozeßtag von seinem Rechtsanwalt Ulrich Dost. (Die Red.)

Gemeinsam mit vielen anderen Bürgerinnen und Bürgern vertritt mein Mandant die Auffassung, daß die Lehren aus der deutschen Geschichte so lange nicht ausreichend gezogen sind, bis der politische und geistige Boden für rechtsextremistische Exzesse und Gewalt besteht, geduldet und nicht konsequent beseitigt wird. Und es ist nicht zu leugnen, daß dieser Nährboden seit Bestehen der Bundesrepublik existent und fester Bestandteil der Gesellschaft ist.

Seit Beginn der 90er Jahre gehört eine ungeheuerliche Zunahme an Gewalt mit rechtsextremistischem Hintergrund zum Alltag unseres Landes. Keine Woche vergeht ohne Mitteilungen der Medien über

- neuerliche Aufmärsche rechtsextremistischer Kreise,
- die Verbreitung rassistischer Parolen,
- die Verwendung von NS-Symbolen,
- antisemitische Ausschreitungen,
- Brandstiftungen,
- Gewaltausübung gegenüber Ausländern, politisch Andersdenkenden, Kirchenvertretern, Politikern und Journalisten.

Diese besorgniserregende Entwicklung beobachtet mein Mandant, wie unzählige andere Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik auch, nicht etwa erst seit dem 19. Februar dieses Jahres, vielmehr ist der Rechtsextremismus schon in den vergangenen Jahren fühl- und sichtbarer geworden. Ungeachtet dieser Entwicklung kann sich mein Mandant des Eindrucks nicht erwehren, daß Politiker der Bundes- und Landesregierungen zu Stichwortgebern neofaschistischer Ideologie und Gewalt werden und gleichzeitig Neofaschismus nicht als Problem der Gesellschaft annehmen, es statt dessen verharmlosen oder auch negieren.

Wenn der Bundeskanzler öffentlich fordert, „angesichts der hohen Arbeitslosigkeit weniger Ausländer zu beschäftigen ...”, trägt das zur Stimulierung von Ausländerfeindlichkeit bei und dient als Stichwort für die Rechtsextremen, die in ihren Parolen wie „Arbeit zuerst für Deutsche” noch bestärkt und ermutigt werden.

In völliger Enthemmung der Sprache äußerte der CDU- Politiker Landowsky in der Parlamentssitzung des Berliner Abgeordnetenhauses am 27. Februar 1997: „Es ist nun einmal so, daß dort, wo Müll ist, Ratten sind, und daß dort, wo Verwahrlosung herrscht, Gesindel ist. Das muß in der Stadt beseitigt werden.”

Als mein Mandant wenige Tage später einen mit „WAW” unterzeichneten Drohbrief erhält, in dem dem „Schweinskommunisten” Baltruschat angedroht wird, daß man das nächste Mal auf seinen Kopf schießen werde, findet sich Landowskys Vokabular von den Ratten wieder: „Zum Glück stehen ja noch genug KZ zur Verfügung. Kommunisten verdienen nur eins, und das ist der Tod. Ratten werden ja auch verfolgt und getötet, und die sind schließlich mehr wert als dreckige Kommunisten.” (...)

Daß das Verhalten von Politikern auch zu Gewaltanwendung gegenüber meinem Mandanten beigetragen haben kann, ist für mich als Nebenklagevertreter nach Studium der Strafakten nicht mehr auszuschließen und wird bei der Aufklärung der äußeren Tatumstände im Ergebnis der Beweisaufnahme zu würdigen sein. Denn vier Tage vor dem Anschlag auf meinen Mandanten wurde in Berlin durch CDU-Politiker eine massive Hetzkampagne gegen die PDS inszeniert. Sie wurde dafür verantwortlich gemacht, bei einer Demonstration am 15. Februar 1997, die sich gegen den Aufmarsch der rechtsextremen Junge(n) Nationaldemokraten richtete, durch einen Aufruf, sich Rechtsextremisten entgegenzustellen, die Gewalteskalation herbeigeführt zu haben.

In der Beweisaufnahme wird zu klären sein, ob und in welchem Umfang der Angeklagte von der Kampagne gegen die PDS Kenntnis hatte, diese ihn beeindruckte und motivierte. Denn es könnte bei ihm immerhin der Eindruck entstanden sein, daß ein Vorgehen gegen die PDS zwar nicht in der konkreten Form gebilligt wird, sich aber allgemeiner gesellschaftlicher Akzeptanz erfreut.

Für das Leugnen und Herunterspielen rechtsextremistischer Gefahr in Berlin sprechen für Klaus Baltruschat insbesondere Äußerungen des Berliner Innensenators Schönbohm, der im Berliner Abgeordnetenhaus in der Ausschußsitzung für Inneres fünf Tage nach dem Anschlag äußerte: „Gott sei Dank haben wir in Berlin dank eines hervorragend arbeitenden Verfassungsschutzes und einer optimal agierenden Polizei ... relativ geringe Probleme. Es gibt Probleme, darauf wird ständig hingewiesen, aber relativ geringe Probleme mit dem rechtsradikalen Umfeld. Nach meiner Erkenntnis haben die Polizei und die entsprechenden Behörden dieses im Griff.”

Und weiter meinte der Innensenator, bezüglich des Neonaziaufmarsches vom 15. Februar 1997 anmerken zu müssen: „Es ist eben keine Situation wie Weimar, wenn 50 Idioten hier meinen, die Reichskriegsflagge schwenken und den Hitlergruß darbieten zu müssen. Deutlich zu machen, daß das eine verschwindende Minderheit ist, und daß die Demokratie eben damit leben kann, daß es solche Idioten gibt, ist Aufgabe aller Demokraten.”

Hier stellt sich die Frage: Wenn die Polizei die Rechtsradikalen im Griff hat, weshalb verlor der Polizeibeamte Stefan Grage sein Leben und mein Mandant seinen Arm?

Klaus Baltruschat hat sich als Nebenkläger dem Strafverfahren vordergründig deshalb angeschlossen, weil er seinen Beitrag zur Enthüllung des Motivs, insbesondere aber der Ursachen bzw. Hintergründe der angeklagten Straftaten leisten will und wird.

In diesem Zusammenhang verhehlen wir aber auch nicht unsere Kritik an der Qualität der Ermittlungen durch die Polizeibehörden in Berlin, die entgegen den Behauptungen des Innensenators Schönbohm auf der ganzen Linie versagt haben.

Aus Sicht der Nebenklagevertretung hat es keine Ermittlungspannen gegeben. Die Ermittlungen stellen sich vielmehr als eine Aneinanderreihung von Unterlassungen dar. Die Aufstellung einer Täterversion ist offensichtlich unterblieben, obwohl aus der Sachlage noch am ersten Tag deutliche Hinweise auf einen rechtsextremistischen Täterkreis vorlagen. Dennoch sind den Berliner Akten in der Anfangszeit der Ermittlungen keine Aufstellungen über bekannte, für die Tat in Frage kommende Personen der rechtsextremistischen Szene entnehmbar. Somit ist auch kein Versuch unternommen worden, an Hand eines solchen Täterkreises gezielt Erkenntnisse von Staatsschutz, Polizei und Verfassungsschutz in die Ermittlungen einzubeziehen.

Auch unterblieb eine Einbeziehung der politischen Konflikte in die Ermittlungen, insbesondere blieben die Ereignisse am 15. Februar 1997 in Berlin-Hellersdorf im Zusammenhang mit insgesamt drei Demonstrationen gegen Neonazi-Aufmärsche, die sowohl von Gewerkschaften, CDU, SPD, PDS, Bündnis 90/ Grünen u.a. durchgeführt wurden, unberücksichtigt. Statt dessen wurden die Ermittlungen bezüglich des Täters auf den Familienkreis meines Mandanten ausgedehnt. (...)

Wäre eine Täterversion aus dem rechtsextremen Täterkreis erstellt worden und auf dieser Grundlage ein Wohnortabgleich erfolgt, wären mindestens drei der rechtsextremistischen Szene zuzuordnende Personen festgestellt worden, die im unmittelbaren Tatortbereich gemeldet sind, darunter auch der Angeklagte, der im übrigen den Polizeibehörden auf Grund seiner Vorstrafen seit Jahren bekannt ist. Erst als der Angeklagte Tage später wegen des Verdachts des Mordes an einem Polizeibeamten festgenommen worden war, fiel auf ihn der Verdacht, auch auf meinen Mandanten geschossen zu haben.

(...) Und wieder drängt sich die Frage auf, ob der Tod des Polizeibeamten Stefan Grage bei professioneller Ermittlungstätigkeit hätte verhindert werden können. Wenn mein Mandant trotz Kenntnis darum, daß die Qualität der Ermittlungen nicht Gegenstand des Strafprozesses sein kann, seine grundsätzliche Kritik an ihnen dennoch in seiner Erklärung zum Ausdruck bringen läßt, dann hat das folgende Gründe:

Es liegt in der Natur der Sache, daß die Qualität der Ermittlungen im Vorverfahren maßgeblich die gerichtliche Beweisaufnahme und somit im Ergebnis das Urteil bestimmt. Wenn im Vorverfahren dürftig ermittelt wird, bleibt nicht aus, daß die Hintergründe der Straftaten im Hauptverfahren nicht oder nicht optimal dem Beweis zugänglich sind. Auf diese Weise werden die Gerichte bei der Erfüllung ihrer gesetzlichen Aufgabe nicht selten be- oder gehindert.

Aber es gibt noch einen zweiten Aspekt: Strafverfahren sind auch Erkenntnisquelle zu gesellschaftlichen Problemen. Nun hat die bundesdeutsche Justiz nach dem 2. Weltkrieg bei der strafrechtlichen Aufarbeitung des Faschismus den Anforderungen nicht Genüge getan. Dennoch kann nicht geleugnet werden, daß die gerichtlichen Enthüllungen in den damaligen Strafprozessen auch Erkenntnisquelle über die grausigen Verbrechen der Faschisten war.

Die Ermittlungen in dem heute und hier beginnenden Strafverfahren sind ganz offensichtlich von den politischen Umständen der Tat entkernt und somit konzeptionslos betrieben worden, obwohl von Beginn an die Ermittlungsrichtung durch die Tatumstände vorgegeben waren. Damit ist aber bereits jetzt zu befürchten, daß dieser Prozeß nicht in dem Umfange Erkenntnisquelle zur Aufdeckung der nationalsozialistischen Ideologie, zum Grad ihrer Verankerung in der Gesellschaft und ihrer Gesellschaftsgefährlichkeit sein wird.

Das Land Berlin ließ keine 24 Stunden nach dem Attentat verkünden, daß wohl von einem „Einzeltäter” ausgegangen werden müsse, weil keine Hinweise auf eine organisierte Straftat vorlägen. Daß solche Erkenntnisse nicht vorlagen, ist logisch, denn die Ermittlungen in eine Richtung etwa der Bildung einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung nach den §§ 129 und 129a StGB wurden gar nicht erst betrieben. Das ist aber schon deshalb unverständlich, weil den Berliner Behörden seit Jahren Erkenntnisse über die Organisationsstrukturen der Neonazis bekannt sind. Das Konzept des Aufbaus von Zellenstrukturen, um bei Gewaltanschlägen das Operieren von rechtsterroristischen Vereinigungen kaschieren und Straftaten als Taten von Einzeltätern erscheinen zu lassen, ist hinlänglich bekannt.

Der Berliner Verfassungsschutz stellte in seiner 1997 erschienenen Broschüre zu rechtsextremistischen Bestrebungen fest, daß die sog. Unabhängigen Kameradschaften, die wiederum eng mit den „Jungen Nationaldemokraten” zusammenwirken, „ein bestimmender Faktor im Berliner Rechtsextremismus geworden (sind) und ... die Rolle der (inzwischen) verbotenen neonazistischen Organisationen (einnehmen).”

Der Vorsitzende der JN und gleichzeitig Anführer der „Kameradschaft Marzahn”, Andreas Storr, war auch der Anmelder der Demonstration der Neonazis am 15. Februar 1997. Der Angeklagte will Rache genommen haben wegen der mißlungenen Nazidemo. Storr wohnt mit Diesner in Tatortnähe. All diese jedem Laien in die Augen springenden Indizien eventuellen Tatzusammenhanges waren den Berliner Ermittlungsbehörden offenbar keine Ermittlungen wert. Und auch deshalb geht die Nebenklagevertretung davon aus, daß in den Ermittlungsbehörden die Fehler der Geschichte fortgeführt werden.

Abschließend sei noch auf folgendes hingewiesen: Es geht nicht mehr darum, den Anfängen zu wehren, sondern dem weiteren Erstarken jeder Spielart des Faschismus entschieden in unserer Gesellschaft mit den dazu vorhandenen Mitteln des Staates konsequent entgegenzutreten. Das bedeutet aber zugleich, endlich Schluß zu machen mit der Verdrängung und Verharmlosung des Faschismus in unserer Gesellschaft. (...)

Im Auftrag und Namen sowohl des Nebenklägers als auch des Unterzeichners – Rechtsanwalt Ulrich Dost