Oberlandesgericht Braunschweig befürwortet:

Doppelbestrafung Totaler Kriegsdienstverweigerer bei der Bundeswehr

Am Montag, dem 1. September 1997 (Antikriegstag), hat das Oberlandesgericht in Braunschweig auf die Revision der Staatsanwaltschaft ein Urteil des Landgerichts Braunschweig aufgehoben, mit der das zweite Strafverfahren gegen den Totalen Kriegsdienstverweigerer Wolfram Schmidt wegen des grundgesetzlichen Verbots der Doppelbestrafung (Art. 103 Abs. 3 GG) eingestellt worden war. Das Landgericht muß nun erneut über die Sache verhandeln.

Schmidt war 1994 zur Bundeswehr nach Lüneburg einberufen worden, folgte dieser Aufforderung jedoch nicht, da er das Militär und jeden Ersatz für militärische Dienste grundsätzlich ablehnt. Das Amtsgericht Braunschweig verwarnte Schmidt im Februar 1995 wegen „Fahnenflucht“ nach dem Jugendstrafrecht.

Da sich die Bundeswehr bei Totalen Kriegsdienstverweigerern zum damaligen Zeitpunkt erst mit einer Bestrafung ab neun Monaten zufrieden gab (inzwischen geändert auf sieben Monate), berief sie Schmidt zum Juli 1995 nach Munster zum „Nachdienen“ ein. Auch dieser Einberufung leistete der Student keine Folge. Es kam zum erneuten Strafverfahren wegen „Fahnenflucht“, bei dem der Totalverweigerer am 25.7.96 vom Amtsgericht Braunschweig zum zweiten Mal, nun zu vier Monaten Freiheitsstrafe, die zur Bewährung ausgesetzt werden sollten, verurteilt wurde.

Gegen dieses Urteil legte Schmidt Berufung ein. Das Landgericht Braunschweig stellte daraufhin am 6. November 1996 das Strafverfahren wegen des grundgesetzlichen Verbots der Doppelbestrafung (Art. 103 Abs. 3 GG) ein. Das Gericht – wie auch schon das Amtsgericht in beiden Verhandlungen zuvor – attestierte dem Totalverweigerer, aus Gewissensgründen gehandelt zu haben. Der Vorsitzende Richter Lassen schloß sich seinerzeit der Argumentation der Verteidigung an, daß kein Unterschied zwischen der juristischen Handhabung von Totalverweigerern, die bei der Bundeswehr verweigern, und solchen, die zuvor als „Kriegsdienstverweigerer“ anerkannt worden sind und dann den Zivildienst nicht antreten, gemacht werden dürfe. Für die letztere Gruppe ist durch das Bundesverfassungsgericht seit fast 30 Jahren gesichert, daß eine zweite Bestrafung, zumindest, wenn das Strafgericht eine Gewissensentscheidung anerkennt, verfassungswidrig ist.

Die Staatsanwaltschaft legte gegen dieses Urteil Revision beim Oberlandesgericht Braunschweig ein. In der Verhandlung am Antikriegstag erklärte Oberstaatsanwalt Niestroy, daß seiner Auffassung nach jemand, der „nach einer rechtskräftigen Verurteilung“ erneut eine Straftat begehe, auch in jedem Fall erneut bestraft werden müsse. Denn sonst würde das erste Urteil „einen staatlichen Freibrief“ darstellen, weitere Straftaten zu begehen. Als Beispiel nannte Niestroy Steuerverweigerer, die nach einer Verurteilung auch nicht das Recht haben könnten, in Zukunft weiter Steuern zu verweigern. Wenn ein einmaliger fester Entschluß, der Wehrpflicht nicht nachzukommen, zum Verbot der mehrfachen Verurteilung führen würde, so würde auch derjenige „besser gestellt, der von vornherein einen schwerwiegenderen Tatplan“ fasse. Der Vergleich zur Rechtsprechung gegenüber solchen Totalverweigerern, die zuvor als „Kriegsdienstverweigerer“ anerkannt worden sind und dann den Zivildienst verweigern, passe „von vornherein nicht“. Wenn das Landgericht in seinem Urteil zu dem Schluß gekommen sei, im Strafverfahren ließen sich Gewissensgründe besser feststellen als im Verwaltungsverfahren zur Anerkennung als KDVer, so verkenne das Landgericht den Grundsatz der Gewaltenteilung, meinte Niestroy. Offensichtlich störte sich der Staatsanwalt auch an der seinen Worten nach „sehr maßvollen“ Verurteilung Schmidts im ersten Strafverfahren: Wenn jemand insgesamt mit solch einer Strafe rechnen könne, „dann frage ich mich wirklich, wo der Gedanke der Generalprävention bleibe“, also die Abschreckung anderer.

Der Verteidiger Günter Werner aus Bremen stellte klar, daß gerade das von der Staatsanwaltschaft angeführte Beispiel der Steuerverweigerung umgekehrte Schlüsse zulasse. Denn wenn jemand Steuern für ein Jahr verweigert hat und hierfür strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wird, so läßt sich die weitere Verweigerung der Steuern aus jenem Jahr nicht erneut zum strafrechtlichen Vorwurf erheben – sogar ohne, daß hier für die Steuerverweigerung eine Gewissensentscheidung verlangt werde. Ebenso handele es sich bei dem Wehrdienst immer wieder um den gleichen Dienst, der gefordert und von vornherein endgültig verweigert werde. Der Rechtsanwalt wies darauf hin, daß auch bei Zivildienstverweigerern das Strafgericht – unabhängig von einer KDV-Anerkennung – Feststellungen über eine Gewissensentscheidung gegen den Ersatzdienst treffen müsse. Insofern müßten im vorliegenden Fall, wo das Landgericht ohne Zweifel eine Gewissensentscheidung festgestellt habe, die gleichen Grundsätze wie gegenüber Totalverweigerern gelten, die zuvor als Kriegsdienstverweigerer anerkannt worden sind. Im übrigen verwies der Verteidiger darauf, daß die Strafhöhe im erster Strafprozeß „nicht Maßstab“ für die Entscheidung sein dürfte, sondern es gehe um die grundsätzliche Frage, ob Totale Kriegsdienstverweigerer bei der Bundeswehr wie Schmidt ein zweites Mal für die gleiche „Tat“ bestraft werden dürften.

Der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Braunschweig unter dem Vorsitz von Richter Göring (und Mitwirkung der Richter Hoeffer und Tröndle) hob nach nur einer knappen halben Stunde Bedenkzeit das einstellende Urteil des Landgerichts auf. Eine auf Dauer angelegte Straftat wie z.B. „Fahnenflucht“, so die mündliche Urteilsbegründung, würde durch eine Verurteilung immer eine Zäsurwirkung erfahren. Bis zu einer Anerkennung als „Kriegsdienstverweigerer“ sei eine Gewissensentscheidung eines Totalen Kriegsdienstverweigerers „irrelevant“. Zudem könne ein Strafrichter auch gar nicht beurteilen, ob eine in einem Doppelbestrafungsverfahren festgestellte Gewissensentscheidung tatsächlich seit Beginn der Totalverweigerung, die schon Jahre her sein könne, vorliege. Hinzu komme, daß ein Angeklagter das Recht habe zu lügen, während ein Antragsteller im KDV-Verfahren zur Wahrheit verpflichtet sei. Außerdem gelte im Strafverfahren auch bezüglich einer Gewissensentscheidung der Grundsatz „im Zweifel für den Angeklagten“, so daß eine festgestellte Gewissensentscheidung weitaus weniger abgesichert sei als im KDV-Anerkennungsverfahren. Darauf, daß all diese Argumente genauso gegen Zivildienstverweigerer formuliert werden können, da ja über eine Gewissensentscheidung im KDV-Verfahren hinaus im Strafverfahren zusätzliche Gewissensgründe festzustellen sind, um dem Verbot der Doppelbestrafung Beachtung zu verschaffen, ging das Oberlandesgericht in seiner Begründung nicht ein.

Die Totalverweigerer-Initiative Braunschweig erklärte, bei dem Urteil handele es sich um „politisch motivierte Willkürjustiz“. Insbesondere der Vorwurf der Staatsanwaltschaft an das Landgericht, den Grundsatz der Gewaltenteilung zu verkennen, sei „zynisch“, da sich die Bundeswehr nun aufgefordert fühlen werde, Totale Kriegsdienstverweigerer verstärkt mehrfach einzuberufen oder nicht zu entlassen, um mehrere Bestrafungen zu erwirken. Erst am 1.1.96 hatte Verteidigungsminister Volker Rühe erlassen, daß Totalverweigerer nicht aus dem Wehrdienst zu entlassen sind, „es sei denn, sie sind zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens sieben Monaten verurteilt worden“. Ausnahmen bedürfen der Zustimmung des Ministers. Diese sei „regelmäßig nur gerechtfertigt“, wenn u.a. „eine strafgerichtliche Verurteilung bereits erfolgt ist und die erneute Abgabe an die Staatsanwaltschaft eine Verurteilung von insgesamt sieben Monaten oder mehr erwarten läßt.“ (BMVg / P II 7 – Az 24-09-10 vom 18.12.95) Dieser „unerträglichen Steuerung der strafrechtlichen Verurteilungen durch die Bundeswehr“, so die Totalverweigerer-Initiative weiter, habe das Oberlandesgericht nun „Tür und Tor geöffnet“, nachdem in den letzten Jahren die Amts- und Landgerichte von dieser restriktiven Linie zunehmend abgewichen seien. (Pressemitteilung)