Glosse:

Eine Frage des Geschmacks

Der Krug geht zum Brunnen, bis er bricht, heißt es im Sprichwort. Und das Kieler Theater buhlt ums Publikum, bis seine Bretter nicht mehr die Welt (be-) deuten , sondern unter der Leichtigkeit des Abo-Sein-oder-nicht-Seins morsch geworden sind. Der neue Schauspieldirektor teilt im „Vorspiel“ zur neuen Spielzeit mit, wofür das Kieler Theater da sein soll – „für Kiel und die Region und nicht unbedingt für THEATER HEUTE und fürs Feuilleton der Wochenzeitungen und Hochglanz-Magazine“. Das ist so volksnah wie der daraus resultierende Spielplan, der mit dem Schwank um Frau Marthes verschwundenes Gemäß eröffnet wird, einen Tartuffo serviert und mit „Black Rider“ ins Bluesland galoppiert. Fürs überregionale Feuilleton dürfte davon einiges in der Tat eher uninteressant sein.

Aber der Schauspieldirektor – wissend, daß auch die Theaterliebe durch den Bauch geht – hat, wie er sagt, nicht nur „Creme-Schnitten“ auf dem Diätplan. Unermüdlich um die Gesundheit des zahnlos gedachten Volkes bemüht will er auch Kerniges auftischen. „Schwarzbrot“ von Brecht, Barlach, Norén und Terpstra fördere „die Verdauung“. Doch wie schwerverdaulich Brechts „Dickicht der Städte“ für manchen theaterkrisengeschüttelten Städtebewohner sein könnte, den Braten riecht der Schauspieldirektor bereits, offenbar befürchtend, diese schwere Kost könne sich als erneutes Abführmittel für Abos erweisen. Man ist vorsichtig geworden in einer Stadt, wo Theaterinnovationen entweder am Geld oder an Ratsleuten scheitern, die von ihrer theatralischen Legasthenie auf die „des Volkes“ schließen, und wo man einen promovierten Ingenieur aus Mangel an Alternativen zum Theaterdezernenten im Nebenberuf macht. Das Risiko muß kalkulierbar sein. Und so muß des Schauspieldirektors Bekenntnis, er sei im Gegensatz zum „Skeptizismus so vieler anderer Kulturschaffender in Kiel ein Optimist“, ein wenig wie das Pfeifen im Walde erscheinen.

Warum so vorsichtig, Herr Schauspieldirektor, möchte man dennoch fragen. Kann es nicht immer noch eine der schönsten Aufgaben des Theaters sein, neben schmackhaften Bonbons auch die bittere Medizin der Wahrheit zu reichen, die ganz bewußt im Halse stecken bleiben will und sich nicht bloß im Kleid einer Pferdepille für den scheinbar eher auf Süßliches geeichten Gaumen des Publikums versteckt? Wer mehr bewegen will als das Vorhangdekor im neuen Schauspielhaus, sollte sich – gerade, wenn er Brecht auf die Bühne bringt – auf dessen Formel vom „Vorhang zu und alle Fragen offen“ besinnen und nicht wie das Kaninchen auf die Schlange vor der Theaterkasse starren.

So schwer das sein mag in dieser Stadt, letztlich bleibt die Frage, wie sich das Kieler Theater selbst verstehen will – als ein Entertainmentinstitut oder als die Schillersche Anstalt zur „ästhetischen Erziehung“. Beides ist in Reinkultur nicht erstrebenswert, ganz recht, Herr Schauspieldirektor. Doch sollte sich jener doch ruhig darauf verlassen, daß sein gar nicht so provinzielles Theater zwar nicht dem Feuilleton in München, aber eben auch nicht der Zunge des Kieler Publikums hinterherhecheln muß, sondern durchaus die Kraft besitzt, dessen Geschmack zu verfeinern und aus Liebhabern von altbekannter Hausmannskost Theatergourmets zu machen. (jm)