Neo-Nazi Diesner: „Cool und professionell“

„Die Reifen qualmten, das Fahrzeug stellte sich quer. Diesner rollte sich mit seiner Waffe aus der Beifahrertür und eröffnete sofort das Feuer“. Mit diesen Worten umschrieb ein Polizeibeamter die Szene vor dem letzten Schußwechsel zwischen dem Berliner Neo-Nazi Kay Diesner und der Polizei. „Cool und professionell“ habe sich Diesner mit seiner Langwaffe aus seinem noch fahrenden Mazda rollen lassen, „unheimlich schnell“ sei er wieder auf den Beinen gewesen und habe gezielt auf die Verfolger geschossen.

Im Lübecker Mordprozeß zeichnet sich ein Bild vom Angeklagten, welches wenig mit dem waffenunkundigen nicht-militanten Selbstporträt Diesners zu tun hat. So trug der Neo-Nazi bei seiner Festnahme am 23. Februar eine schußsichere Weste. Neben der Mordwaffe, einer Pumpgun, hatte Diesner mehrere Packungen Munition, Stich- und Schlagwaffen und seinen Pitt-Bull bei sich. Desweiteren fand die Polizei einschlägige Militär-Literatur, wie z.B. Überlebens-Bücher der Schweizer Armee, aber auch rechtsradikale Literatur sowie eine Reichskriegsflagge.

Auch Diesners Bekundungen, den Polizisten in Notwehr erschossen zu haben, konnten im Laufe des Verfahrens widerlegt werden. Zuletzt in einem Brief aus der Haft, der mit „88“ – Synonym für „Heil Hitler!“ – unterschrieben ist, behauptet Diesner: „Der durch die Ärzte später zu Tode gekommene Polizist hat als erster dreimal auf mich geschossen.“ Dieser Darstellung widersprechen nicht nur alle Augenzeugen (ein Polizeibeamter und zwei irische Fernfahrer), auch die Spuren am beschossenen Polizeibully und die Aussagen des Gerichtsmediziners belegen, daß Diesner zuerst geschossen hat.

Damit ist der reine Tathergang weitgehend rekonstruiert, sowohl bei den Tatorten mit den Nummern 2, 3 und 4, welche die Schüsse Diesners auf Polizeibeamte kennzeichnen, als auch beim Tatort 1, dem PDS-Buchladen in Berlin-Marzahn. Dort schoß Diesner ohne jede Vorwarnung den PDS-Buchhändler und jetzigen Nebenkläger Klaus Baltruschat nieder.

Weniger klar erscheinen bisher die Motive Kay Diesners. Bis heute hat das Gericht nicht über einen entsprechenden Beweisantrag des Nebenklägers entschieden. Dort soll der Frage nach dem Motiv für den Anschlag auf den PDS-Buchhändler nachgegangen werden. Diesner selbst hatte angegeben, daß die PDS zu Gewalt gegen rechtsradikale „JN-Kameraden“ (die Jugendorganisation der NPD) aufgerufen hätte. Am 15. Februar 1997, vier Tage vor Diesners Attentat auf den PDS-Buchladen, war es zu Auseinandersetzungen in Berlin-Hellersdorf gekommen, als AntifaschistInnen eine Demonstration der Jungen Nationaldemokraten verhindern wollten. Dadurch, so Diesner, habe er sich aus „Haß auf die PDS“ zum Anschlag motivieren lassen. Zur Klärung dieses Sachverhaltes sollen u.a. Ausschnitte aus Nachrichtensendungen von Berliner TV-Anstalten in den Prozeß eingeführt werden. Diesem Beweisantrag hat sich auch Oberstaatsanwalt Möller angeschlossen, der zunehmend mehr Engagement bei der Aufklärung der politischen Hintergründe für die Taten zeigt. Dabei geraten auch Diesners Kontakte zur Berliner Neo-Nazi-Szene in den Vordergrund.

Schon vor 1989 ist der in der DDR aufgewachsene Angeklagte durch seine besonders kurzen Haare und seine Bomberjacke aufgefallen. Anfang der 90er Jahre hatte er ein Zimmer in der „Weitlingstraße“, einem von Rechtsextremen der inzwischen verbotenen „Nationalen Alternative“ (NA) besetztes Haus. Spätestens dort muß Diesner zum Anhänger des zur Zeit inhaftierten Arnulf Priem geworden sein. Diesner gibt selbst eine zeitweilige Mitgliedschaft in der NA zu. Priem war tatkräftig am Aufbau dieser Organisation beteiligt. Mit seiner Gruppe „Wotans Volk“ wurde Priem Bestandteil des sog. „Berliner Blocks“, dem auch die Deutsche Alternative (DA) und die NA angehörten. Priem lieferte anscheinend auch den ideologischen Hintergrund für Diesners neuheidnischen Bezug auf Odin, Thor und andere nordische Götter. 1994 wurde Diesner am Rande einer antifaschistischen Demonstration zusammen mit 26 anderen Nazis in der Wohnung Priems verhaftet. Dort wurden Sprengstoff, Waffen und Molotow-Cocktails sichergestellt. Priem scheint auch das Scharnier zum „Weißen Arischen Widerstand“ (WAW) und zur NSDAP/AO zu sein. Letztere propagiert seit 1994 in Flugschriften „Eine Bewegung in Waffen“ und den „Führerlosen Widerstand“, welcher an alte Werwolf-Konzepte anknüpft, die den Widerstand gegen die Alliierten gegen Ende des 2. Weltkrieges propagierte.

Bisher hat das Gericht auch noch nicht Diesners Rolle in der Berliner Anti-Antifa thematisiert. Für 1996 ist belegt, das Diesner sich um einen Grundriß des Amtsgerichts Tiergarten bemüht hat. Darüberhinaus fragte er eine ehemalige Freundin u.a. nach Adressen von Staatsanwälten. Aktenkundig ist zudem, daß Diesner 1994 bei einer linken 1. Mai-Kundgebung in Kreuzberg von der Polizei verhaftet wurde.

Während sich die neonazistische Szene bisher jedes öffentlichen Kommentars zum Fall Diesner enthielt, tauchte inzwischen in der Zeitschrift „Freie Stimme“ der „Sauerländer Aktionsfront“ unter dem Titel „Kay Diesner – Kriegsgefangener des Systems“ ein vierseitiger Artikel auf. Dort wird Diesners Verstrickung in die Berliner Neonazi-Szene bestätigt: „Für die Anti-Antifa – Berlin war er in der Aufklärung tätig, indem er z.B. in Zeckenläden einschlägige Literatur beschaffte oder sich um Feindadressen bemühte“, heißt es dort. Auch auf seine Rolle am 1. Mai 1994 („konspirativer Einsatz“) wird Bezug genommen. Der „Weiße Arische Widerstand“ wird in dem braunen Pamphlet als „eine jederzeit austauschbare Bezeichung für die Strategie des führerlosen Widerstands“ bezeichnet, „die nach den Organisationsverboten leider nötig geworden“ sei.

Inwieweit der Lübecker Prozeß Aufschluß über Diesners Verstrickung in die Berliner Neonazi-Szene oder sogar über mögliche Drahtzieher und/oder Mittäter gibt, wird sich wohl erst nach der Verhandlungspause in den Herbstferien zeigen. Oberstaatsanwalt Möller hat mit seiner Anregung, Diesners Freund und „besten Kameraden“, wie er sagt, Andreas T., in den Zeugenstand zu laden, verdeutlicht, daß ihm etwas an der Aufklärung der Hintergründe liegt. „Ich will das politische Umfeld und Herkunft Diensers in die Bewertung einbeziehen“, so Möller. (usch)