Veranstaltung der Kieler Grünen

Die Türkei im Dunkeln

Die politischen Verhältnisse in der Türkei spitzen sich zu. Korruption und Bürgerprotest, Islamisten und Militär, Mafia und Politik – das sind die Koordinaten verschiedener Konfliktlinien, die in der Türkei bereits zum zweitenmal nach den Parlamentswahlen im Dezember 1995 einen Regierungswechsel bewirkt haben. In diesem Koordinatennetz hält das türkische Militär alle Fäden fest in der Hand. Der nationale Sicherheitsrat, ein Gremium, das über dem Nationalparlament angesiedelt ist, setzt sich neben dem Staatspräsidenten und Ministerpräsidenten überwiegend aus Mitgliedern des Militärs, den Chefs der Geheimdienste und dem sogennanten „Büro für Spezielle Kriegsführung“ zusammen. Der nationale Sicherheitsrat war es, der nach der letzten Wahl in der Türkei im Dezember 1995 klar machte, daß man eine Regierungsbeteiligung von Erbakans islamistischer Wohlfahrtspartei nicht tolerieren würde, und zwang die unversöhnlich verfeindeten Mesut Yilmaz und Tansu Ciller zu einer Koalition, die nur wenige Monate hielt. Nach dem Bruch mit Yilmaz war eine erneute Regierungsbeteiligung für Tansu Ciller, deren Verstrickung in den Koruptionsskandal öffentlich geworden war, die einzige Chance, einem gerichtlichen Verfahren – und damit ihrem politischen Ende – zu entgehen. So bot sie trotz der Warnungen des Militärs Erbakan die Koalition unter der Voraussetzung an, alle Untersuchungsausschüsse gegen sie einzustellen und den Ministerpräsidentenposten nach zwei Jahren an sie abzugeben.

Daß es zur Übernahme des Ministerpräsidentenpostens durch Ciller nicht kam und stattdessen zum Bruch der Koalition Erbakan/Ciller, ist einerseits auf den Einfluß des Sicherheitsrates zurückzuführen, der mit den neuen Schulgesetzen ein Zurückdrängen des Islamismus und die Einleitung eines Verfahrens auf Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit gegen die islamistische Wohlfahrtspartei erreicht hat, andererseits aber auch auf die Tatsache, daß die Koalition aus Wohlfahrtspartei und der Tansu-Ciller-Partei (DYP) keines ihrer Versprechen (Änderung der Strafgesetze, Ausbau der Demokratie, Beendigung der Folter und „extralegaler Hinrichtungen“, politische Lösung des Kurdenkonflikts, EU-Mitgliedschaft) einhielt. Stattdessen gab es Massenproteste, Hungerstreiks und Todesfasten in den Gefängnissen, ein rasantes Ansteigen der Inflationsrate, verstärkte Militäroperationen in den kurdischen Provinzen, sowohl in der Türkei als auch im Norden Iraks, sowie eine größere Anzahl von „Verschwundenen“. Amnesty international berichtete über Folter an Kindern in Polizeihaft. Zudem ist seit dem Autounfall im November letzten Jahres in Sursuluk die Verstrickung von Politik, Mafia und Militär ansatzweise öffentlich geworden.

Ministerpräsident Yilmaz hat die Regierung unter schwierigen Bedingungen übernommen. Die Türkei steht finanziell und politisch vor einem Kollaps. Die Militärkosten expandieren immer weiter. Der Krieg im Südosten der Türkei mordet und zerstört und nimmt die Zukunftsperspektive der Kinder. Politisch beherrscht der Sicherheitsrat das Geschehen und dominiert das Nationalparlament der Türkei. Darüberhinaus läßt die türkische Justiz Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit vermissen. Dies wird wiederum in dem Prozeß an dem zu Tode mißhandelten Journalisten Metin Göktepe deutlich. Die Verlegung des Prozesses in eine kleine Stadt etwa, 100 km von Izmir, geschah offensichtlich in der Absicht, die Öffentlichkeit fernzuhalten und Menschenrechtsverletzungen zu vertuschen. Die angeklagten Polizisten sind trotz der Schwere der Anklage weiterhin auf freiem Fuß. Der Prozeß gerät zur Farce.

Angesichts dieser Situation stellen sich viele Fragen. Welchen Weg wird die Türkei nehmen? Wird die erstarkte Demokratiebewegung Einfluß auf das politische Geschehen nehmen können, oder wird das Miltiär diesen Bürgerprotest zum Staatsstreich nutzen? Wird der Einfluß des Islamismus zurückgedrängt werden können? Welche Rolle spielt die türkische Justiz bei der Verurteilung von Menschenrechtsverletzungen? Welchen Preis muß die Türkei für die EU-Mitgliedschaft zahlen? Wie wird, wie sollte sich Deutschland als Nato-Partner verhalten?

Diese Fragen wollen wir auf einer Veranstaltung am 24.10., 19 Uhr in der Pumpe diskutieren, um ein wenig Licht ins Dunkel zu bringen. Ziel der Veranstaltung soll es sein, Lösungsvorschläge aufzuzeigen.

Programm:

Film: Die Ereignisse um den Autounfall bei Sursuluk, der die Verstrickung von Politik, Mafia und Militär sichtbar gemacht hat, werden in einem ca. 30-minütigen Film dokumentiert. Der Film schildert die Hoffnungen und Wünsche des Volkes. In Originalbildern des türkischen Fernsehens werden die gewaltsamen Repressionen des türkischen Staates gezeigt.

Anschließend diskutieren:

Angelika Beer ist Mitglied des Bundestages und verteidigungspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Seit vielen Jahren ist sie als Türkei-Kennerin bekannt. Als Menschenrechtlerin setzt sie sich für die Rechte des kurdischen Volkes und für eine Demokratisierung in der Türkei ein. Sie wird eine politische Bewertung der Situation in der Türkei vornehmen.

Birgitt Lüeße-Kessenich ist Rechtsanwältin in Kiel. Seit Oktober nimmt sie regelmäßig als Beobachterin an einem Prozeß gegen 48 Polizisten teil, die u.a. wegen der Ermordung des Journalisten Metin Göktepe angeklagt sind. Birgitt Lüeße-Kessinich wird ihre Erfahrungen schildern, wie die türkische Justiz mit Menschenrechtsverletzungen umgeht. Sie wird eine Bewertung der Strafgesetze und der Sondergesetze in der Türkei vornehmen.

Kemal Karabulut ist Mitglied des „Arbeitkreises Dialog“. Der Arbeitskreis setzt sich für eine friedliche, im Dialog erzielte Lösung von politischen Konflikten ein und lehnt militärische Lösungen als Konfliktbewältigung ab. Kemal Karabulut wird die Lösungsvorschläge des Arbeitskreises vorstellen.

Heidi Lippmann-Kasten ist 1. Vorsitzende des „prison watch international e.V.“ und Mitglied des niedersächsischen Landtages. Sie wird auf die Verstrickungen, die durch den Autounfall bei Sursuluk sichtbar geworden sind, näher eingehen.

Veranstalter: BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Kreisverband Kiel, Landesarbeitsgemeinschaften ImmigrantInnen & Flüchtlinge sowie Europa, Frieden & Außenpolitik im Landesverband Schleswig-Holstein