INGE VIETT las im Sub Rosa

„Verlöschende Visionen“

„Nie war ich furchtloser“ nennt Inge Viett, ehemaliges Mitglied der Bewegung 2. Juni und der RAF, ihre im Nautilus Verlag erschienene Autobiographie. Der Titel klingt nach der „ewiggestrigen Unbelehrbaren“, ist aber ganz anders gemeint. Inge Viett berichtet von der Zeit in der Illegalität, die sie abseits vom Fahndungsdruck auch als „Befreiung aus der häßlichen Welt“ empfunden hat: Für Fahnder vogelfrei zu sein, das bedeutete für sie auch „frei wie ein Vogel“.

Die „häßliche Welt“, das war Berlin Anfang der 70er mit seinen Konsumtempeln und der Ohnmacht, gegen diese Art von „Terror“ wirklich etwas ausrichten zu können. Aber „das Fehlen der Perspektive machte mich nicht unsicher“. Das mag naiv, manchem auch unverantwortlich erscheinen. Das Gegenteil war der Fall. Der Widerstand, der sich damals formierte, „kümmerlich und immer in der Minderheit“, hatte ein hehres Ziel, das auch heute noch nicht eingelöst ist: Eine „solidarische Gesellschaft des Miteinanders statt des Gegeneinanders“. In diesem Streben verband „jeder Steinwurf in die Scheiben einer Bank mit dem Vietcong, mit dem Widerstand der Entrechteten überall“.

Inge Viett erzählt all das mit betroffen machender Stimme, die selbst im revolutionären Pathos („Die Toten der Revolution lassen ihre Kraft und Liebe den Weiterkämpfenden.“) die Trauer und Ratlosigkeit über das – zum Teil selbstverschuldete – Scheitern anklingen läßt. Das Wandbild im Sub Rosa, unter dem sie sitzt, gewinnt da fast symbolische Bedeutung: Ein Piratenschiff mit vereinzeltem Kämpen an Deck, perspektivisch unwirklich verzerrt, daneben eine sinkende Bark. Sie weiß um die Fehler einer intellektuellen Stadtguerilla, die so gar keine Verbindung „mit dem Objekt ihrer revolutionären Liebe“, dem zu befreienden Volk, hatte.

Aber sie weiß auch, daß es „keine Geschichte, keinen Fortschritt ohne Widerstand“ gibt, daß Geschichte gemacht wird, meistens von den Mächtigen. Jene Mächtigen sind es auch, die die Geschichte des „Deutschen Herbstes“ auf ihr Maß zurechtstutzen, in deren Geschichtsschreibung die „Terroristen“ meist nur als die mordlüsternen Fratzen auf den Fahndungsplakaten oder allenfalls mit übergestülptem Büßerhemd als Grusel erregender Talk Show-Gast vorkommen. Hier aber sitzt eine ganz normale Frau, die sich selbstbewußt das Recht nimmt, ihre ganz subjektive, dadurch überzeugende Geschichte zu erzählen, die ihre Erfahrungen aus dem – auch für „Staatsfeinde“ – entwürdigenden Gefängnisalltag ohne Larmoyanz ausbreitet, aber auch mit einer Zurückhaltung, die Verletzungen ahnen läßt.

Im bis auf den letzten Stehplatz gefüllten Sub Rosa lauscht man Inge Viett mit einer gewissen Ehrfurcht, die noch einen Hauch vom Heldenmythos der „kämpfenden Genossen“ hat. Die anschließende Diskussion kommt nur schleppend in Gang, Inge Vietts Formulierung von der „Zeit verlöschender Visionen“ scheint sich zu bewahrheiten. „Was machst du denn jetzt so?“, fragt einer. „Ich möchte Geschichte näher bringen, meine Geschichte.“ In diesen Zeiten ist das schon sehr viel und ein nicht zu überschätzendes Verdienst. (jm)

Inge Viett: Nie war ich furchtloser – Autobiographie, Edition Nautilus, 39,80 DM.