Trojanische Pferde

Sozialhilfe-Initiativen trafen sich in Kiel

Grauer Novembernebel hängt über der Förde. Ein buntes Häuflein zieht über den menschenleeren Rathausplatz, um seine Thesen ans Tor zu schlagen. Wie einst Luther, fühlen die fünf Dutzend Versammelten, daß es Zeit für einen Aufbruch ist, einen sozialpolitischen diesmal. Zu drückend ist die Last der Armut geworden, die nicht mehr nur Arbeitlose und Sozialhilfeempfänger betrifft, sondern ihre Finger auch nach den unteren Lohngruppen auszustrecken beginnt.

Es sind Vertreter von Sozialhilfe-Initiativen aus dem ganzen Bundesgebiet, die da etwas verloren vor dem Rathaus stehen. Doch man läßt sich nicht auf die Stimmung drücken, weder vom Wetter, noch vom Desinteresse der Stadtoberen. Denen hatte man, wie auch der Bonner Regierung, etwas ins Stammbuch schreiben wollen, etwa, daß Zwangsarbeit keine Maßnahme gegen Armut sondern gegen Arme ist. Oder: „Man soll die Reichen lehren, daß der, der seine Steuern bezahlt, besser tut, als wenn er steuerbetrügt.“

Da sich aber von den politisch Verantwortlichen im Rathauses keiner fand, die 95 Thesen der Initiativen in Empfang zu nehmen, zog man in die nahegelegene Fußgängerzone, und verteilte sie dort an Passanten. Schließlich ging es wieder in die Jugendherberge, wo an diesem ersten November-Wochenende eine Fachkonferenz der Bundesarbeitsgemeinschaft der Sozialhilfe-Initiativen (BAG-SHI) tagte. Mit dabei war auch die Kieler Arbeitsloseninitiative. In der BAG-SHI haben sich ca. 80 Initiativen zusammengeschlossen, darunter auch einige Landesgliederungen des (ostdeutschen) Arbeitslosenverbandes.

Viel vorgenommen hatte man sich für dieses Wochenende: Über neue Formen der Armutsverwaltung sollte gesprochen werden und über alternative Vorstellungen. Mit sehr gemischten Gefühlen sieht man bei den Initiativen die Ausweitung von Tauschringen, Möbellagern, Suppenküchen und ähnlichem. Bei den Sozialämtern sei, so BAG-SHI-Geschäftsführerin Erika Biehn, die Tendenz zu beobachten, immer mehr zu Sachleistungen überzugehen. Sozialhilfeempfänger könnten sich dann eben z.B. keine neue Kleidung mehr kaufen, sondern müßten mit abgelegten Sachen aus der Kleiderkammer des Roten Kreuzes oder eines anderen Verbandes auskommen. Sie sieht darin eine Entmündigung und fordert, daß die Freiwilligkeit, solche Angebote anzunehmen, erhalten bleibt.

Eigentlich hatte dieses Thema im Mittelpunkt der Konferenz stehen sollen, doch wurde es von Politiker- und Unternehmervorschlägen der letzten Wochen etwas in den Hintergrund gedrängt. Von verschiedenen Seiten war eine Erhöhung der Freibeträge gefordert worden. Mehr Bezieher niedriger Einkommen sollen so die Möglichkeit erhalten, ergänzende Sozialhilfe zu beantragen. Erst letzte Woche hatte DIHT-Präsident Hans Peter Stihl im „Stern“ gefordert, „der Staat (solle) in den unteren Lohngruppen mit sozialpolitischen Maßnahmen aufstocken“. Die Sozialhilfe möchte er im Gegenzug für fünf Jahre eingefroren haben. (DIHT = Deutscher Industrie- und Handelstag)

Die Bundesregierung, so BAG-SHI-Geschäftsführerin Cora Molloy, bereite bereits eine entsprechende Verordnung vor, die schon im Frühjahr in Kraft treten könnte. Die Sozialhilfeinitiativen fühlen sich in einer schizophrenen Lage. Natürlich sind sie dafür, daß „Niedriglöhner“ mehr Geld bekommen, doch hat die Sache einen entscheidenden Haken: Das Bundessozialhilfegesetz kennt ein sog. Lohnabstandsgebot, nach dem die Sozialhilferegelsätze immer um einen bestimmten Betrag unter den niedrigsten Löhnen liegen müssen. Werden diese aber gesenkt, weil die Bezieher niedriger Einkommen mehr zusätzliche Sozialhilfe erhalten, so fallen auch die Regelsätze. 1999 soll das Abstandsgebot erstmalig zur Anwendung kommen. Für die „Niedriglöhner“ würde das Ganze wahrscheinlich zum Null-Summen-Spiel, für die Nichterwerbstätigen unter den Sozialhilfeempfängern gäbe es aber eine „Katastrophe“, so Molloy im Pressegespräch. Sie befürchtet, daß die Bundesregierung sich im Wahljahr als Wohltäterin aufspielen wird, denn zunächst würde keiner die negativen Seiten spüren. Eine alleinerziehende und halbtags arbeitende Mutter könnte z.B. gut monatlich 200 DM mehr im Portmonnaie finden. Die Folgen wären erst ein Jahr später, wenn die Wahlen gelaufen sind, zu spüren.

Die rund 80 Teilnehmer der Konferenz rangen sich also unter diesen Bedingung zu einer Ablehnung der Freibetragserhöhung durch. Sie sahen in ihnen ein „Trojanisches Pferd für massive Lohn- und Sozialhilfesenkungen“, wie es in einem Positionspapier heißt. Die Formulierung stammt übrigens von DIHT-Chef Stihl. Der hatte Anfang Oktober gegenüber der „Wirtschaftswoche“ Klartext gesprochen: Die Erhöhung der Freibeträge sei „eine Art Trojanisches Pferd, das wir bei den Gewerkschaften und Sozialpolitikern aufstellen“.

Die Initiativen, deren Mitglieder sehr genau wissen, wovon sie reden, da sie oftmals selbst auf Arbeitslosen- oder Sozialhilfe angewiesen sind, sind jedenfalls alarmiert. Bis zum Ende des Jahres sollen die Parteien und Gewerkschaften bearbeitet werden. Bewußtsein soll geschaffen werden über das, was die Bundesregierung als wohlfeile Wahlhilfe plant. Bleibt zu hoffen, daß auf der nächsten BAG-SHI-Versammlung im Frühjahr eine positive Bilanz dieser Bemühungen gezogen werden kann. (wop)