Sans-Papiers fordert weiterhin: Bleiberecht für alle!

Interview mit Madjiguène Cissé, Sprecherin der Nationalen Koordination der Bewegung der Sans-Papiers

Am 6. September fand im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Flüchtlinge in Deutschland – Flucht, Asyl, Abschiebung – Widerstand“ (in Karlsruhe – Red.) eine lebhafte und interessante Veranstaltung statt zum Thema „Die Bewegung der Sans-Papiers in Frankreich“ mit Madjiguène Cissé, Sprecherin der nationalen Koordination der Bewegung der Sans-Papiers. Organisiert und vorbereitet hatte die Veranstaltung die Gruppe Offene Grenzen (GROG). Madjiguène Cissé hat für die Kommunalen Berichte Karlsruhe dankenswerter Weise nochmal einige der auf der Veranstaltung diskutierten Fragen beantwortet. (map – Kommunale Berichte Karlsruhe)

Madjiguène Cissé: Die Bewegung der Sans-Papiers begann am 18. März 1996 in Paris, als 300 Afrikaner, Westafrikaner aus Mali, Senegal, Guinea und Mauretanien, eine Kirche in Paris besetzten. Warum eine Kirche besetzen und warum mit 300 Leuten? Es war für uns immer schwieriger, Papiere verlängert zu bekommen oder überhaupt Papiere zu erhalten. Sans-Papiers ist jemand, der ohne legale Aufenthaltserlaubnis in Frankreich lebt. Entweder haben die Leute gar keine Papiere gehabt oder sie haben welche gehabt und konnten sie nicht mehr verlängert bekommen. Ohne Papiere zu leben ist dann, als ob man fast nicht lebt, weil man keinerlei Rechte hat. Man kann die Kinder nicht zur Schule schicken. Man kann sehr schlecht z.B. ins Krankenhaushaus gehen, wenn man krank wird. Man kann keine richtige Wohnung finden und auch keine gute Arbeit. Man ist gezwungen, irgendeinen Job zu akzeptieren. Man wird sehr schlecht bezahlt, manchmal sogar überhaupt nicht, denn manche Bosse sagen am Ende des Monats: „Ich bezahle Dich nicht!“ Du kannst nichts dagegen tun, weil Du ohne Papiere z.B. nicht zur Polizei gehen kannst.

Individuell hatten wir alle schon versucht, Papiere zu erhalten, Papiere verlängert zu bekommen. Aber das klappte nicht. Die Antworten waren immer negativ, so daß wir schließlich gesagt haben, wir müssen etwas anderes versuchen. So kam dann diese gemeinsame Aktion zustande. Um damit ganz Frankreich – der Bevölkerung, den Behörden – zu sagen: „Wir sind da, wir existieren, und wir wollen wie jeder in Frankreich leben!“

Was waren, was sind eure Forderungen an die französische Regierung, an die Behörden?

M.C.: Die Forderung war „Papiere für alle!“. Am ersten Tag der Aktion schon wollten verschiedene Organisationen eine Änderung, eine Spaltung der Sans-Papiers erreichen. Sie sagten z.B., für die Familien, für diejenigen, die Kinder haben, könne man etwas unternehmen. Die Organisationen und auch die Kirche, die wir besetzt hatten, machte uns den Vorschlag, man könne etwas für die Familien unternehmen. Aber für alle, die keine Familie in Frankreich haben, könne man nichts machen. Da sagten wir nein. Wir wollen Papiere für alle. Diese Forderung ist immer noch die Hauptforderung im Kampf der Sans-Papiers.

Nachdem die 300 Leute die Kirche Saint Bernard besetzt hatten, sind in ganz Frankreich weitere Kollektive von Illegalen entstanden, und die Hauptforderung der Coordination nationale der Sans-Papiers ist: Papiere für alle Sans-Papiers, die heute in Frankreich leben.

Das heißt, ihr habt Euch landesweit vernetzt, und es gibt einen Koordierungsrat, der über das ganze Land versucht, die Forderungen bekannt zu machen und gemeinsame Aktivitäten der Sans-Papiers im ganzen Land zu entwickeln?

M.C.: Genau. Diese Coordination nationale trifft sich einmal im Monat in Paris, um über die lokale Situation zu sprechen und auch über die politische Lage zu diskutieren, die sich in Frankreich sehr schnell ändert, um dann Perspektiven gemeinsam zu entwickeln. So werden alle Aktionen von der Coordination nationale in dieser Sitzung vorgeschlagen und geplant – wie Demonstrationen oder nationale Aktionstage usw.

Auf lokaler Ebene gibt es die Coordination regionale. In Paris und Umgebung haben wir z.B. eine Coordination regionale gegründet – Coordination Ile de France heißt sie. Allein in der Ile de France gibt es zehn Kollektive. Dort leben auch die meisten Sans-Papiers. Und diese Coordination regionale trifft sich einmal in der Woche. So versuchen wir, die Bewegung zu koordinieren und zu strukturieren.

Ihr habt seit der Besetzung der Kirche Saint Bernhard verschiedene Aktionen unternommen. Kannst du uns einige Beispiele schildern?

M.C.: Wir haben verschiedenste Aktionen unternommen, z.B. haben wir sehr viele Demonstrationen organisiert mit den Unterstützer-Organisationen, mit den Gewerkschaften, antirassistischen Organisationen und auch politischen Parteien und Organisationen. Wir haben auch sehr zielgerichtete Aktionen unternommen, z.B. die Besetzung von Ministerien oder von Rathäusern oder von Sitzen der politischen Parteien. Diese „Blitzaktionen“ werden dann unter den Sans-Papiers sehr schnell vorbereitet, damit die Polizei nicht schon vorher davon weiß. Diese „Blitzaktionen“ sind auch sehr wichtig in unserem Kampf, weil dann die Presse immer darüber berichtet. Oftmals kommt es auch dabei zu Schlägereien mit der Polizei, und die Presse berichtet ja auch gerne, wenn es Krach gibt zwischen Sans-Papiers und Polizisten. So haben wir seit anderthalb Jahren versucht, der Bewegung Atem zu geben, nicht vergessen zu werden von der Presse und der Bevölkerung.

Stichwort Gewerkschaften. Wie ist euer Verhältnis zu den französischen Gewerkschaften bzw. das Verhältnis der Gewerkschaften zu euch in dieser Auseinandersetzung?

M.C.: Gewerkschaften waren schon am Anfang unserer Aktionen da, z.B. die CGT, eine große zentrale Gewerkschaft in Frankreich, und die unahängigen, autonomen Gruppen – diese Gewerkschaften nennen sich SUD – sind da gewesen. Die CFDT von Nicole Notat hat sich nicht beteiligt, aber ein Teil der CFDT ist auch da gewesen. Diese Gewerkschaften haben uns von Anfang an unterstützt. Materiell, z.B. wenn wir Flugblätter brauchen, machen das die Gewerkschaften, die CGT oder SUD. Wenn wir z.B. Räume für Sitzungen brauchen, werden sie uns von den Gewerkschaften zur Verfügung gestellt. Wenn wir Demonstrationen organisieren, machen sie auch immer von Anfang an mit und mobilisieren auch bei unseren Demonstrationen. Das läuft bis jetzt ganz gut. Ohne diese Hilfe kämen wir nur sehr schlecht voran.

An der Bewegung der Sans-Papiers beteiligen sich viele Frauen.

M.C.: Auch wenn es nicht so offensichtlich ist, es viele Leute nicht so wissen, die Frauen spielen im Kampf der Sans-Papiers eine wichtige Rolle. Sie sind sehr zahlreich in allen Kollektiven und mobilsieren sehr gut. Sie sind immer dabei, wenn Demonstrationen organisiert werden. Sie haben einen großen Esprit d’initiative – einen Tatendrang. Z.B. haben die Frauen, wenn die Bewegung nicht weiter wußte, sich versammelt und gute Ideen gehabt. Wir haben Demonstrationen organisiert, oder auch Aktionen nur von den Frauen gemacht, z.B. eine Rathausbesetzung in Paris im Juni 1996. Oder eine Art Aktion, die jede Woche wiederholt wurde. Letzten Winter sind wir jeden Mittwoch vor den Palast von Chirac gegangen und haben dort demonstriert. Jeden Mittwoch tagt dort der Ministerrat, und das störte natürlich, weil sie alle wußten, daß wir jeden Mittwoch zu dieser Sitzung kommen, daß die Frauen auf der Straße demonstrieren, und die Presse war sowieso da und wollte wissen, warum wir demonstrieren. So haben die Frauen eine sehr wichtige Rolle gespielt im Kampf der Sans-Papiers.

Wie ist die Zusammenarbeit mit anderen politischen Kräften, z.B. den politischen Parteien und Organisationen?

M.C.: Diese Frage zielt auf die Selbständigkeit unserer Bewegung. Wir haben von Anfang an als Sans-Papiers um unsere Autonomie gekämpft. Das war für uns wichtig, da wir aus Ländern kommen, die ehemals französische Kolonien waren, aus Ländern oder Staaten, die nie Autonomie gehabt haben. Diese Länder erlebten die Kolonisation und dann die Neokolonisierung – da sind immer noch Frankreich oder England oder die USA. Es wird immer noch alles vom Ausland – in Paris, London oder Washington – entschieden, was politisch oder wirtschaftlich unsere Länder betrifft. Deswegen war die Autonomie unserer Bewegung für uns so wichtig.

Das war aber nicht so einfach. Mit Ausnahme der CGT konnten sowohl die Gewerkschaften als auch die antirassistischen oder politischen Organisationen einfach nicht verstehen, warum wir sagten: „Wir erleben die Probleme. Wir sind fähig, diese Probleme zu erklären. Wir sind fähig, mit allen Behörden dieses Landes darüber zu diskutieren.“ Bis hin zu den linksextremen Organisationen konnten sie dies nicht verstehen, so daß der Kampf und die Diskussion für unsere Autonomie vier Monate dauerte. Bei jeder Versammlung wurde dann über die Autonomie diskutiert. Die Organisationen wollten in unseren Strukturen beteiligt sein, während wir vertraten: „Wir brauchen Hilfe, wir fühlen uns aber fähig unseren Kampf selbständig zu führen!“ Das war lange Zeit ständiges Diskussionsthema, aber da wir ganz stur geblieben sind, ist es uns gelungen, unsere Autonomie zu gewinnen und zu behalten. Ich meine, daß das sehr wichtig war, weil wir ohne diese Eigenständigkeit diesen Kampf nie so lange ausgehalten hätten.

Was hat sich für euch durch den Regierungswechsel in Frankreich geändert? In die neue Regierung aus Sozialisten, Kommunisten und Grünen sind ja etliche Hoffnungen gesetzt worden.

M.C.: Am 1. Juni hat die französische Linke die Wahlen gewonnen, eine Mehrheit aus Sozialisten, auch Kommunisten und Grünen. Die Sans-Papiers haben am 1. Juni alle gefeiert. Sie haben gesagt: „Die Rechte ist abgestürzt, und jetzt kriegen wir alle Papiere.“ Aber bereits eine Woche danach waren alle enttäuscht, weil die neue Regierung nicht bereit war, allen Papiere zu geben.

Für uns ist die Situation komplizierter geworden. Die Linke macht es nicht wie die Rechten. Sie machen es nicht so offen, sie stellen es intelligenter an. Der Innenminister hat bereits im Juni ein Rundschreiben veröffentlicht, in dem einigen Kategorien von Sans-Papiers die Erteilung von Papieren in Aussicht gestellt wird. Insgesamt sind es elf Kategorien, Anforderungen, die erfüllt werden müssen, um Papiere zu erhalten. Wenn man es allein danach betrachtet, könnte man denken, die Sans-Papiers hätten jetzt keinerlei Probleme mehr. Die Regierung erweckt den Anschein, sie wolle den meisten Sans-Papiers Papiere ausstellen. So einfach ist die Situation aber in Wirklichkeit nicht. Wenn die Regierung z.B. sagt, Leute, die französische Kinder haben oder Leute, die überhaupt Kinder haben, die in Frankreich geboren sind, oder Leute, die mit Franzosen oder mit Leuten mit Papieren verheiratet sind, werden Papiere kriegen, dann sagt das noch nichts über die Bedingungen aus, die daran geknüpft sind. Diese sind so drastisch, daß fast keiner der Sans-Papiers aufgrund dieses Rundbriefes die Papiere erhalten wird.

Man muß daran denken, was ein Sans-Papier ist: Es ist jemand, der keine Papiere hat, jemand, der nur illegal arbeiten kann. Solche Leute werden dann z.B. nach Lohnabrechnungen oder Steuererklärungen gefragt, die sie unmöglich haben können. Oder nach der Rentenversicherung! Selbst Franzosen fällt es schwer, solche Unterlagen beizubringen. So kann man verstehen, daß es sich um eine Schein-Regularisation handelt und um keine ernsthafte Lösung.

So herrscht zur Zeit unter den Sans-Papiers ein großer Unmut über die neue Regierung. Was auch den schlechten Willen der neuen Regierung zeigt: Wir bekommen kein Moratorium gegen Abschiebungen. Es werden immer noch jeden Tag viele Leute festgenommen, und sehr viele werden auch immer noch weiter abgeschoben. Selbst Leute, die theoretisch einer dieser Kategorien des Innenministers angehören. Auch Leute, die schon einen Brief an die Präfektur in Paris geschickt haben, um die Aufenthaltserlaubnis zu erhalten, werden festgenommen und abgeschoben. So haben jetzt alle verstanden, daß die Linke es fast genauso macht wie die Rechte!

Wieviele sind denn von diesen Maßnahmen der Regierung betroffen?

M.C.: Seit dem 24. Juni, als der Rundbrief des Innenministers veröffentlicht wurde, haben 120.000 Leute einen Antrag für eine Aufenthaltserlaubnis gestellt. Von diesen 120.000 haben nach Angaben des Innenministeriums nur 1.000 Papiere erhalten. Dazu muß man noch ergänzen, daß es sich bei diesen Papieren ja nicht um langfristige Aufenthaltsgenehmigungen handelt, sondern nur um drei-oder sechsmonatige oder höchstens einjährige Bewilligungen, also vorübergehende. Das heißt, in spätestens einem Jahr müssen die Leute wieder zur Präfektur gehen und alle möglichen Papiere erneut beibringen.

1981 hatte die damalige Linksregierung eine vollständige Regularisierung vorgenommen für 130.000 Leute.

M.C.: 1981/82 hatte die Regierung Mitterand eine vollständige Regularisierung gemacht. Das betraf 130.000 Leute. Das hatte keine negativen Wirkungen, z.B. auf die französische Wirtschaft. Frankreich wurde auch nicht – wie demagogisch angekündigt – von armen Leuten aus armen Ländern überschwemmt. Wenn sie von Überschwemmung reden oder von negativen Wirkungen auf die Wirtschaft, entspricht das nicht der Realität. So bleibt unsere Forderung nach Papieren für alle, die in Frankreich leben, weiterhin aktuell. Wir schätzen, daß höchstens 150.000 bis 200.000 Leute davon betroffen sind.