„Wenn man nicht kämpft, kriegt man sein Brot nicht!”

Interview mit zwei jungen Türkinnen über das Leben in Deutschland

In Deutschland müssen MigrantInnen immer noch gegen Diskriminierungen in fast allen gesellschaftlichen Bereichen kämpfen. Das Buch „Kanak Sprak” des Kieler Autors Feridun Zaimoglu zeigt dies augenscheinlich und minutiös in Interviews mit jungen Türken. LinX nahm das zum Anlaß, nachzufragen, welche Diskriminierungen junge Türkinnen in Deutschland erfahren, u.a. auch in ihren z.T. sehr stark traditionell gebundenen Familien, und sprach darüber mit Sevim (Name von der Redaktion geändert) und Gönül.

LinX: Sevim, wie erlebst du die deutsche Gesellschaft – in der Schule, im Beruf, auf der Behörde?

Sevim: Früher hatte ich schon meine Probleme, mich der Gesellschaft anzupassen, weil es immer auch eine Front zwischen meinen Eltern und mir war, und da mußte ich natürlich auch meinen eigenen Weg finden. Bei Behörden wurde ich bis jetzt gut behandelt. Die haben mich eigentlich auch immer verstanden. Es ist für einige schon schwierig, aber ich hatte da keine Probleme.
Aber in der Schule schon. Meine Freunde in der Schule, die durften einige Sachen machen, die ich nicht machen durfte und die waren ganz anders vom Verhalten her als ich, so daß ich schon viele Sachen einfach vermieden habe zu machen. Ich wußte dann erstmal auch nicht, wie das ankommen würde. Die haben Cliquen gebildet, und ich wurde in diesen Gruppen nicht angenommen, wahrscheinlich weil ich Türkin war. Das habe ich gespürt, und das hat auch sehr weh getan. Ich habe dann gedacht, ich muß was dagegen unternehmen. Ich muß denen klarmachen, daß ich zwar eine Türkin bin, aber daß ich eigentlich nicht gerade sehr anders bin als sie, sondern auch ganz nett sein kann. Ich wollte denen beweisen, daß ich auch in der Lage bin, einmal zu sprechen, und eigentlich auch Freunde haben möchte. Die dachten immer, daß ich sehr schlimm bin und daß ich nicht zu denen gehören würde. Ich wollte aber sehr gern zu denen gehören, so daß ich dann versucht habe, mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Das war sehr schwer.
Natürlich dauerte das eine ganze Zeit, bis ich von meinen Klassenkameraden akzeptiert wurde. Ich mußte mich ein bißchen wie eine Deutsche verhalten, mußte versuchen, auf zwei Seiten zu denken, wie eine Türkin zu Hause und eben wie eine Deutsche in der Schule. Das war sehr schwer, sich mit zwei Gesichtern identifizieren zu können. Aber ich mußte das, sonst hätte ich das Problem mit meiner Schule gehabt.
Nachher ging das eigentlich, es wurde einfach zum Alltag für mich. Aber ich hatte auch Probleme mit den Lehrern. Einige waren sehr unfreundlich zu mir und haben mir schlechte Noten gegeben. Obwohl ich im Schriflichen sehr gut war, haben sie mir im Mündlichen, zählt natürlich 60%, gleich eine 6 gegeben, obwohl ich im Mündlichen immer sehr aktiv war. Und dann haben sie mir natürlich ein paar Fünfen reingehauen, im Zeugnis. Ich habe mich dagegen gewehrt und gesagt, nein, das geht einfach nicht. Der Schulleiter selbst hatte geschrieben, daß ich mit Einsen und Zweien im Zeugnis nur auf die Realschule empfohlen werden kann. Das konnte ich nicht akzeptieren und habe dann gesagt, wenn Sie das nicht ändern, dann gehe ich zum Schulamt und werde mich da beklagen. Das geht nämlich wirklich nicht. Nach der 6. Klasse hat sich unser Klassenlehrer geändert, und der war dann ganz nett zu mir und hat mich akzeptiert.

LinX: Warum mußtest du das erleben? Weil du Türkin bist, oder aus welchem Grund haben deine Lehrer so reagiert?

Sevim: Ich weiß es nicht so genau. Aber ich glaube schon. Zuerst habe ich das ja nie erlebt. Und ich hatte immer einen freundlichen Lehrer, freundliche Klassenkameraden, da ist es noch nicht so rausgekommen. Aber als ich auf die weiterführende Schule kam, da dachte ich, du wirst eben nicht akzeptiert, und du mußt was dagegen tun. Wahrscheinlich wirst du nicht akzeptiert, weil du Türkin bist. Und außerdem gibt es nicht so viele Türken, die auf einem Gymnasium sind, was sich zur Zeit schon geändert hat. Aber zu der Zeit, als ich aufs Gymnasium kam, war das wirklich was ganz besonderes. Ich dachte dann, das nicht Akzeptiertwerden muß wohl daran liegen, daß du eine Türkin bist, aber ich konnte das nicht einsehen. Ich wollte es auch gar nicht einsehen, denn es war mir klar, daß alle Menschen gleich sind, und daß man alle Menschen gleich behandeln sollte, egal welcher Herkunft sie sind.

LinX: Was möchtest du in Zukunft machen – in Deutschland? Was erwartest du vom Leben?

Jetzt habe ich eigentlich keine Angst mehr davor, denn ich habe gelernt, in diesen vielen Jahren, wo ich wirklich richtig kämpfen mußte, daß ich auf dieser Schule bleibe und nicht einfach auf die Realschule zurückversetzt werde, nur angeblich, weil meine Noten schlecht sind, die sich ja ab der 7. Klasse deutlich verbessert hatten. Z.B. kam ich von einer 5 in Englisch auf eine 2, und das war schon sehr merkwürdig, so daß ich dachte, eigentlich kannst du das ja. Ich wußte genau, daß ich das kann, daß ich das schaffe. Und ich habe es ja auch geschafft. Und da dachte ich, jetzt mußt du weiter kämpfen. Und das habe ich auch die ganze Zeit gemacht. Darum sehe ich eigentlich sehr positiv in die Zukunft – oder versuche das zumindest.
Denn ich habe jetzt gelernt, wenn man nicht kämpft, kriegt man eben sein Brot nicht. Und ich weiß: Wenn ich so etwas ähnliches erleben sollte, daß ich da auch kämpfen werde, statt das einfach an mir vorbei gehen zu lassen und gar nichts zu tun. Vielmehr werde ich richtig dagegen ankämpfen, wie ich es die ganze Zeit gemacht habe.
Ich möchte gerne studieren. Ob das wieder genauso sein wird, daß sie mich nicht akzeptieren oder irgendwas wieder dazwischen kommt, weiß ich nicht. Aber wenn, dann werde ich mir mein Recht zu Recht erkämpfen.

LinX: Was hältst du von der deutschen Staatsangehörigkeit? Kommt das für dich in Frage?

Sevim: Ja, na klar. Ich habe im April die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt, und es ist am Laufen. Eigentlich wollte ich mit meinen Eltern die Staatsangehörigkeit wechseln, aber die wußten das nicht so genau. Dann habe ich die Inititiative ergriffen, habe gesagt, ich gehe jetzt dahin und werde meine Staatsangehörigkeit beantragen. Ich will sie wechseln, weil das viel leichter für mich ist. Die Behörden haben mich befragt, haben alle Zeugnisse kopiert und haben dann gesagt, wir werden dir dann Bescheid sagen.
Ich wollte es gerne, denn es ist wirklich so: Wenn wir auf Klassenfahrten fahren, nach Dänemark, nach England, überall wo man hin will, man braucht ein Visum. Und das hat mich so genervt, denn das letzte Mal, als ich nach Dänemark fuhr, nur ein Wochenende, brauchte ich ein Visum. Da bin ich zum dänischen Konsulat. Die Frau meinte, ich hätte einen Monat früher kommen müssen, so schnell gehe das nicht. Sie könnte mir kein Visum geben, und ich bin so ausgeflippt, daß ich mir gesagt habe, nein, ich besorge mir die Staatsangehörigkeit. Mit türkischem Paß braucht man immer ein Visum. Selbst wenn man in die Türkei oder wieder zurückfährt und an der Paßkontrolle steht, kommen die EU-Bürger schneller durch die Kontrolle als die Türken. Die stehen da immer Schlange. Und da stellen sie noch dumme Fragen. Sie wollen diese Bescheinigung noch haben und jene. Ich finde das mit deutscher Staatsangehörigkeit einfach leichter. Ich bin eben hier, und ich könnte sie sehr gut gebrauchen, auch in anderen Fällen, aber besonders weil ich es nicht mehr gut finde, immer ein Visum holen zu müssen. Dann habe ich eben einen Reisepaß und kann dahin gehen, wo ich hin möchte.

LinX: Gibt es noch mehr Vorteile, einen Deutschen Paß zu haben?

Sevim: Ich glaube schon. Ich kann mir sehr gut vorstellen, daß dieser Paß mir auch viele Perspektiven öffnet. Wenn ich zu Behörden gehe oder wenn mein Paß irgendwohin geschickt wird, daß man nicht sofort sieht, oh, das ist ein türkischer Paß. Das ist dann irgendwie nicht gerade toll, da herrscht schon immer eine gewisse Distanz zwischen mir und meinem Paß. Aber wenn ich mit einem deutschen Paß dahin komme, daß es dann vielleicht schneller geht ... Ich weiß es nicht. Ich finde schon, daß so ein deutscher Paß mehr bringt.

LinX: Wie stark ist der Widerspruch zwischen der Familie auf der einen, den eigenen Wünschen und Träumen auf der anderen Seite und der deutschen Gesellschaft auf der dritten Seite?

Sevim: Es ist sehr unterschiedlich. Ich hatte, wie schon gesagt, meine Probleme, weil ich eben zwei Gesichter hatte. Bei meinen Eltern muß ich die Türkin sein, und in der Schule mußte ich eine Deutsche sein und durfte das auch nicht verwechseln. Es war also auch sehr schwierig für mich. Denn hätte ich es bei meinen Eltern verwechselt, dann wären sie dagegen gewesen. Sie sind auch bei vielen Sachen dagegen, weil vieles deren Tradition nicht entspricht, und ich möchte natürlich andere Sachen machen, und die verstehen mich dann nicht. Dann verstehe ich sie aber nicht, weil ich hier aufgewachsen bin und dann auch meine Freunde habe.
Ich bin jetzt 18. Und da verstehe ich nicht, wenn ich dann schon um 8 oder um 7 Uhr zu Hause sein soll. Oder wenn es zu dunkel ist, dann zu Hause sein soll, weil mir irgendwie, irgendetwas passiert. Das kann immer passieren, denke ich dann. Wenn z.B. bei mir in der Schule Musikabend war – ich bin freiwillig im Chor, was meine Eltern total schrecklich finden, weil ich auf der Bühne stehe und singe -, gab es bei uns immer nur Ärger. Eine Woche vorher fing das schon an. Ich habe gesagt, ich habe an dem und dem Tag Musikabend. Ihr könnt kommen, wenn ihr wollt. Aber die konnten das einfach nicht einsehen und akzeptieren.
Besonders schlimm ist es ja, wenn man dann noch einen älteren Bruder hat, der dann nur noch nervt. Und der hat meine Eltern richtig fertig gemacht. Wieso schickt ihr dieses Mädchen einfach zum Musikabend? Ihr habt mich doch gar nicht gefragt. Und die darf doch gar nicht raus. Ihr könnte ja sonstwas passieren. Wollt ihr denn, daß sie zu einer Deutschen wird? Ich konnte das nicht verstehen, habe es bis heute immer noch nicht verstanden. Ich glaube, ich werde es auch nie begreifen, wieso sie so sind. Ich hoffe nur, daß sie mich irgendwann begreifen und verstehen können, aber es war immer schwierig, mit solchen Konfrontationen fertig zu werden.
Auch bei meinen Hobbies: Ich rudere, und daß verstehen die auch nicht. Es bringt mir Spaß. Meine Eltern sehen da keinen Zwang. Sie meinen, ich soll meine Schule machen. Aber daneben will ich auch meine Hobbies weiterführen. Auch was anderes machen, worauf ich Lust habe. Und ein bißchen Ablenkung nach der Schule finden, damit ich nicht so im ganzen Schulstreß bin.

LinX: Ist es ein Nachteil, in einer türkischen Familie Mädchen zu sein? Hättest du genauso viele Schwierigkeiten gehabt, wenn du ein Junge wärest?

Sevim: Nein, überhaupt nicht. Denn meine Eltern haben mir immer gesagt, wärst du ein Junge, dann wäre das eben nicht so. Du bist ein Mädchen, und darum hast du zu Hause zu bleiben. So war es immer. Ich bin nun mal ein Mädchen. Dafür kann ich ja auch nichts. Aber ich sehe das nicht so verbissen wie meine Eltern. Aber weil ich einen Bruder habe, ist das, glaube ich, immer so. Was ich bisher so gehört habe: Wenn man einen älteren Bruder in der Familie hat, übt der dann auch noch Druck aus. Nicht nur die Eltern, sondern auch noch die Brüder, weil die dann sozusagen – in Anführungsstrichen – die Ehre der Familie retten müssen, die rein halten, daß die Ehre nicht befleckt wird.

LinX: Du hast gesagt, daß du unter Druck bist. Darfst du einen Freund haben? Was denkt Deine Familie darüber?

Sevim: Ich hatte natürlich schon Schwierigkeiten. Es ist für meine Eltern einfach ein Tabu. Es ist egal, ob ich einen Türken als Freund habe oder einen Deutschen. Ein Deutscher wäre noch schlimmer für sie. Aber trotzdem ist es egal. Ich darf keinen Freund haben. Das war immer so.
Einerseits kann ich das auch verstehen, daß sie ihre Sorgen haben, aber andererseits kann ich nur den Deutschen – in Anführungszeichen -, meinen Freunden zeigen, daß ich wie sie bin und wie sie denke, wenn ich auch einen Freund habe. Ich bin gezwungen, einen Freund zu haben, o.k. dann habe ich eben einen Freund. Und das war natürlich eine schwierige Lage, weil ich mich mit meinen Eltern da natürlich auseinandersetzen mußte. Die haben nichts mitgekriegt, Gott sei Dank. Aber sie durften auch nichts erfahren. Es mußte alles heimlich geschehen. Und das fand ich sehr, sehr schrecklich. Denn ich habe nie vorgehabt, meine Eltern zu belügen. Und bei einigen Sachen mußte ich sie natürlich belügen, weil das nicht anders ging, weil mir sonst andere Sachen angedroht wurden. Und das fand ich dann nicht so toll. Aber meine Eltern sehen da wirklich ein großes Tabu darin, sie würden das nie akzeptieren.

LinX: Was meinst du würden deine Eltern unternehmen, wenn sie wüßten, daß du einen deutschen Freund hast?

Sevim: Bei meinem jetziger Freund ist es schon sehr schwierig. Einmal wurden wir zusammen entdeckt. Er hat mich nur von der Schule nach Hause begleitet, und das hatte schon gereicht. Meine Eltern sind ausgeflippt. Sie haben mich geschlagen. Und sie meinten dann, wenn ich so weitermache, dann werde ich einfach in die Türkei abgeschleppt. Und werde da mit jemanden verheiratet, dem ich noch „nützlich” bin.

LinX: Was meinen sie denn damit?

Sevim: Wenn ich noch Jungfrau wäre. Und wenn nicht, dann würden sie mich umbringen. Es war eine reine Drohung. Hätten sie mich richtig mit meinem Freund erwischt, Gott sei Dank haben sie es nicht, dann ... sie haben mir auch immer wieder gedroht, wenn sie mich irgendwie erwischen würden, dann würden sie mich und meinen Freund umbringen. Und besonders mein Bruder ist dann gefragt in solchen Sachen.

LinX: Kennt dein Freund die Haltung deiner Eltern? Wie wirkt sich das auf eure Beziehung aus?

Sevim: Ja, er weiß alles. Bevor wir zusammen waren, habe ich ihm erstmal gesagt, ich finde dich ja ganz nett, aber ich habe da auch noch ein paar Dinge auf den Tisch zu legen. Wenn du die akzeptierst, dann akzeptierst du das. Und wenn nicht, dann eben nicht. Und ich habe ihm alle Karten offen auf den Tisch gelegt und gesagt, diese und jene Gefahren gibt es. Und daß ich es selbst akzeptieren würde, wenn er sagen würde, nein, ich will dich nicht als Freundin haben. Aber er hat dann gesagt, nein, ich verstehe dich. Und du bist es mir einfach wert. Ich werde es machen. Ich gehe diese Gefahr ein. Mir ist diese Gefahr egal. Hauptsache, ich bin mit dir zusammen.
Es ist natürlich alles sehr eingeschränkt, was wir machen können. Wir konnten uns trotzdem häufig sehen. Schließlich ist er in meinem Ruderverein. Da haben wir uns natürlich nur heimlich getroffen, und dabei darauf geachtet, daß da wenig Menschen waren. Oder bei ihm zu Hause haben wir uns getroffen. Seine Eltern haben das akzeptiert. Die hatten nichts dagegen. Seine ganze Familie stand auch hinter uns. Wenn irgendwas ist, sagten sie, sind wir natürlich alle zusammen und versuchen dich dann auch da raus zu holen. So gut es geht.

LinX: Du hast vorhin von einigen möglichen Konsequenzen gesprochen, eine davon wäre, daß deine Eltern dich in die Türkei schicken, wenn sie von deiner Beziehung erfahren. Kannst du dir vorstellen, in der Türkei zu leben?

Sevim: Nein, das könnte ich mir nicht vorstellen. Ich habe ja bis jetzt die Türkei nur in den Sommerferien gesehen, sozusagen. Das ist für mich einfach nur ein ganz normaler Ferienort, wo wir jeden Sommer hinfahren müssen. Aber ich dachte daran, mal dahinzufahren, wenn die Schule haben, und mir dann ansehe, wie da in der Türkei ist. Mach’ da in der Schule mit und überlege dir, könntest du da leben? Könntest du das auch da schaffen? Vielleicht machst du ja in der Türkei deine Schule zu Ende und studierst dann in Deutschland. Oder du kommst in die Türkei und studierst. Oder irgendwie sowas in der Art. Und dann bin ich da in die Schule gegangen, habe vieles miterlebt, fand die Schule ganz toll. Aber es gab dann auch Komplikationen in der Türkei. Ich habe richtig gemerkt, daß ich da nicht akzeptiert wurde. Ich war da zwar eine Türkin, aber ich war deutsch. Ich wurde richtig als deutsch, als Deutsche abgestempelt. Ich weiß nicht, wieso, denn an meiner Aussprache hat man das, glaube ich, nicht so gemerkt. Bloß an meiner Kleidung, mir wurde immer gesagt, man merkt das an deiner Kleidung – und an deinem Verhalten. Wie ich geantwortet habe. Und das hat mich so irritiert. Ich dachte immer, ich antworte doch ganz normal wie eine Türkin antworten würde. Aber ich habe danach gemerkt. Nein, ich widerspreche auch sehr oft und mache nicht das, was die Leute sagen, sondern muß dann immer überlegen. Wieso soll ich das denn machen, mache das doch selbst. Und darum kann ich mir das nicht vorstellen, daß ich in der Türkei leben könnte. Für ein paar Monate vielleicht. Aber ich könnte das nicht länger aushalten.
Außerdem ist das schrecklich mit der Versorgung da. Arzt und vieles mehr. Es gibt sehr viel Korruption. Ich habe nichts gegen die Türkei. Aber das, was ich erlebt habe, hat mich schon sehr, sehr weit von der Türkei entfernt. Ich denke zwar nicht negativ darüber, aber doch, daß das nicht mein Leben sein könnte, weil das für mich nicht normal ist. Ich verstehe das nicht. Wenn ich hier zum Arzt gehe, da brauche ich nicht gleich zu bezahlen. Da muß ich gleich bezahlen. Was ich wirklich schrecklich finde: Die Leute, die Geld haben, die kommen als erste im Krankenhaus dran. Und die, die schwer verletzt aber arm sind, die müssen noch warten. Vielleicht sterben sie dann noch auf dem Liegebett. Das fand ich so grausam, daß mich das schon zu abwertenden Reaktionen gebracht hatte.

LinX: Wenn du von deinen Eltern in die Türkei geschickt würdest und eine Folge davon wäre, daß du dort heiraten müßtest, wie würdest du dir das vorstellen?

Sevim: Ich würde nie einen heiraten, mich einem aufopfern, den ich nicht liebe. Denn ich könnte es einfach nicht akzeptieren. Das würde dann nicht gut gehen. Ich möchte eigentlich, daß meine Ehe sehr lange dauert. Meine Eltern müssen das auf irgendeinem Wege akzeptieren. Denn mir ist es eigentlich egal, welcher Herkunft mein Ehemann ist. Ich habe jetzt einen deutschen Freund. Wenn es so weit kommen sollte, daß ich einen Deutschen heiraten würde, würde ich es auch machen, wenn ich ihn liebe. Da ist mir schon die Liebe wichtiger, als die Herkunft. Das ist bei mir schon an der ersten Stelle. Schließlich werde ich ja mit meinen Mann länger zusammenleben, nicht nur für eine bestimmte Zeit.

LinX: Vielen Dank für das Gespräch.

Sevim: Ich bedanke mich auch.
 
 

LinX: Gönül, seit wann lebst du in Deutschland?

Gönül: Ich lebe seit 23 Jahren in Deutschland, bin hier groß geworden und zur Grundschule gegangen. Anschließend habe ich die Hauptschule besucht, Mittlere Reife gemacht und dann eine Lehre als Arzthelferin abgeschlossen.

LinX: Was hast du in dieser Gesellschaft erlebt? Was für eine Erfahrung hast du? Hast du als Nichtdeutsche schlechte Erfahrungen gemacht?

Gönül: Also ich persönlich habe bis jetzt keine Probleme gehabt. Sei es in der Schule oder privat.

LinX: Du hast gesagt, daß du keine schlechten Erfahrungen gemacht hast. Was denkst du, hat man als Nichtdeutsche Probleme in dieser Gesellschaft?

Gönül: Ich finde, die Deutschen sollten mehr die Ausländer kennenlernen. Die Probleme tauchen auch deshalb auf, weil die Ausländer eine andere Religion haben und eine andere Kultur. Sei es z.B. mit den Kopftüchern. Wenn ausländische Frauen Kopftücher oder lange Kleider tragen, heißt das nicht gleich, daß sie vielleicht – ich will nicht sagen – nicht zivilisiert oder – wie könnte man das sagen – rückständig denken und vieles anders sehen. Das ist nicht so. Es gibt sehr moderne und demokratische Frauen, die auch Kopftücher tragen.
Ein Problem ist auch, von den Vorurteilen her, daß immer gesagt wird, die Ausländer nehmen uns die Arbeitsplätze weg. Das stimmt überhaupt nicht. Wenn ein Mensch arbeiten möchte, dann könnte diese oder könnte dieser auch Arbeit finden. Es gibt genügend Arbeit. Da ich früher in einer Reinigungsfirma gearbeitet habe, ist mir aufgefallen, daß da überwiegend nur Ausländer gearbeitet haben. Die Deutschen haben ein paar Tage gearbeitet, und dann haben sie gekündigt. So ist es auch mit den Wohnungen. Es wird immer gesagt, die Ausländer kriegen schönere Wohnungen oder werden bevorzugt, wenn sie eine Wohnung suchen. Das stimmt auch nicht.
Ich habe auch gehört, deutsche Männer sagen, die Ausländer nehmen uns die Frauen weg, das finde ich auch nicht gut.
Und wenn irgendwas passiert ... Ich wohne in Gaarden, das will ich auch sagen, hier passiert sehr vieles. Wenn hier aber etwas vorfällt, dann heißt es gleich, das waren die Ausländer. Die seien sowieso gewalttätig und Verbrecher. Nur weil er eine andere Haarfarbe hat. Das gehört auch zu den Vorurteilen.

LinX: Du sagtest, daß du keine Probleme gehabt hast. Woran liegt das?

Gönül: Ich denke, es kommt daher, daß ich, ich will es nicht direkt so sagen, modern aussehe, aber ich kleide mich halt der Mode entsprechend. Ich bin nicht so zurückgeblieben wie die meisten Türken oder Kurden. Ich diskutiere mit den Leuten. Ich habe auch immer meine Meinung geäußert. Auch wenn es denen nicht gepaßt hat. Ich habe mich immer durchgesetzt. Und deswegen habe ich diese Probleme auch nicht gehabt.

LinX: Ich möchte zu einem anderen Punkt kommen, und zwar den Drogen. Wir hören und lesen ständig, daß unter Drogenkonsumenten und -dealern die Zahl der Nichtdeutschen zunimmt. Was sagst du dazu?

Gönül: In Gaarden werden es immer mehr Dealer und Abhängige, ich habe es mit eigenen Augen gesehen, wie der Stoff verkauft wurde. Ich finde es auch unmöglich, daß die Polizei dagegen nichts unternimmt. Obwohl sie ganz genau weiß, wenn sogar ich weiß, wer die Dealer sind. Dann wissen die das erst recht. Ich verstehe nicht, warum sie sich so viel Zeit dabei lassen. Warum ziehen sie diese Leute nicht aus dem Verkehr? Denn ich finde, es werden immer mehr Jugendliche. Und ich finde es richtig schade,wie die von Tag zu Tag sterben.

LinX: Was ist der Grund, daß immer mehr nichtdeutsche Jugendliche drogenabhängig werden?

Gönül: Ich denke, daß Problem liegt darin, daß die meisten der Jugendlichen arbeitslos sind, die Schule nicht mehr besuchen oder nicht mehr besuchen dürfen oder können. Daß sie falsche Freunde haben. Und die Eltern keine Zeit, da sie Tag und Nacht arbeiten und immer mehr Geld verdienen möchten.

LinX: Wie reagieren die Familien dieser Jugendlichen?

Gönül: Diese Eltern haben sich auch keine Zeit genommen, und jetzt ist es sowieso zu spät. Die Probleme kommen von der Erziehung. Die Eltern haben es von ihren Eltern schon erlebt, daß die für sie keine Zeit hatten, über irgendwelche Probleme zu diskutieren und Lösungen zu finden. Es hieß nur, ich bin der Vater, ich habe das Sagen, und was ich sage, das stimmt. Es muß alles gemacht werden, was ich möchte. Entscheidungen treffe ich. Ich bin der Vater. Ich bin der Mann, und was anderes gibt es nicht.
Die Jugendlichen wachsen zwischen zwei Kulturen auf und sind in einer Zwickmühle. Die muß man eigentlich auch verstehen, auf diese Leute eingehen und sie vielleicht doch irgendwie überreden, einen anderen Weg zu finden. Und sei es durch eine Heirat. Die Eltern sagen, gut, jetzt haben wir eine für dich. Die oder den mußt du jetzt heiraten. Und wenn du nicht willst, mußt du, du mußt einfach heiraten. Eine andere Lösung gibt es nicht. Wenn sie nicht wollen, dann hauen die jungen Leute ab. Und das war eigentlich die einzige Lösung dieses Problems.
Bei den Jugendlichen, vor allem bei den Dealern ist es so, daß die arbeitslos sind und schnell und möglichst auf eine bequeme Art und Weise an Geld und Vermögen rankommen möchten. Daher suchen sie sich diesen Weg aus. Und sie möchten ihre Kraft und ihre Stärke darin beweisen, daß sie diesen Stoff verkaufen und erwischt werden. Mir ist in den letzten Jahren auch aufgefallen, daß es immer mehr Asylanten sind, die diesen Stoff verkaufen, Dealer werden, weil sie nicht arbeiten dürfe oder können und daher auch kein Geld haben.

LinX: Ich möchte etwas anderes fragen: Welche Vorteile bringt ein deutscher Paß einem Ausländer?

Gönül: Wenn ich die deutsche Staatsangehörigkeit annehmen würde, dürfte ich wählen. Wenn ich irgendwelche Probleme hätte, könnte ich nicht so leicht abgeschoben werden. Und wenn ich ins Ausland reisen möchte, muß ich kein Visum beantragen. Und Vorteile noch in einem anderen Sinne: Falls ich heiraten würde hätte ich nicht so viele Schwierigkeiten, meinen Mann, der vielleicht noch im Ausland lebt, hier rüberzukriegen.

LinX: Wie stark ist der Widerspruch zwischen der Familie auf der einen und den eigenen Wünschen und den Träumen auf der anderen und der deutschen Gesellschaft auf der dritten Seite?

Gönül: Ich habe schon Probleme, meine Wünsche zu erfüllen. Und meine Träume. Obwohl ich sehr frei erzogen worden bin, bei uns gibt es keine Verbote. Ich darf tun und machen, was ich will. Meine Eltern sind nicht so streng wie andere Türken. Meine Eltern sind recht demokratisch. Und sehr modern, kann ich sagen. Daher habe ich diese Probleme nicht. Meine Wünsche, auch wenn es manchmal lange dauert, werden dann doch erfüllt.

LinX: Was möchtest du in der Zukunft machen?

Gönül: Ich möchte nicht ein Leben lang Arzthelferin bleiben. Daher möchte ich zwei Jahre meinen Beruf auslernen, und anschließend, wenn ich meine Meinung nicht ändere, studieren, ich weiß aber noch nicht was. Ich würde irgendwas mit Musik oder mit Theater machen. Und vielleicht dann, wenn ich ein bißchen Kapital habe, mich selbständig machen. Das wären meine Träume und Wünsche – und eine Weltreise.

LinX: Vielen Dank für das Gespräch.