Die sogenannte Gesundheitsreform

Oder: Der Weg in die Zweiklassenmedizin

Seit nunmehr 20 Jahren „explodieren“ die Kosten im Gesundheitswesen. In dieser Zeit haben die verantwortlichen PolitikerInnen, ob SPD/FDP-Regierung oder jetzt die von CDU/CSU und FDP immer wieder versucht, die Finanzierung des Systems auf Kosten der PatientInnen so zu sichern, daß die Nutznießer - Medizintechnische Industrie, Pharmaindustrie, ÄrztInnen, ApothekerInnen etc.- keine wesentlichen Einbußen erleiden mußten und die Unternehmergewinne der Industrie und der Privatkliniken nicht bedroht wurden. Seit Ende der 70er Jahre gibt es keinen Zeitraum von mehr als drei Jahren, in denen der Gesetzgeber nicht direkt oder indirekt über die Krankenkassen eingewirkt hat:

1977 Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetz

1978 Abgrenzungsverordnung: Klärung, welche Kosten zu den Investitionen zum Pflegesatz gehören

1979 Krankenhaus-Buchführungsverordnung: Schreibt den Krankenhäusern vor, wie sie ihre Buchführung zu organisieren haben

1981 Krankenhaus-Kostendämpfungsgesetz: Stärkere Einbeziehung der Krankenhäuser in die Krankenhausplanung

1984 Krankenhaus-Neuordnungsgesetz: Das Rückwirken des Selbstkostenprinzips wird aufgehoben; es gilt nunmehr die Deckung der vorauskalkulierten Sachkosten

1986 Neufassung der Bundespflegesatzverordnung

1988 Gesundheitsreformgesetz: 1. Stufe der Gesundheitsreform. Möglichkeit der Kündigung von Versorgungsverträgen auch für Plankrankenhäuser durch die Krankenkassen

1992 Gesundheitsstrukturgesetz (GSG): Für die Jahre 1993 bis 1995. Deckelung des Budgets und Umstellung auf ein völlig neues Entgeltsystem, das ausschließlich profitorientiert ist.

Nur ist Krankheit kein planbar profitables Geschäft. Es sei denn, man entledigt sich kostenintensiver PatientInnen, oder läßt sie finanziell für ihr Schicksal extra bezahlen.

Mit der Metapher von einer Explosion wird die Phantasie eines äußerst dramatischen, aus der Kontrolle geratenen Sachverhalts heraufbeschworen, einer unmittelbaren Bedrohung, die unverzügliches Handeln erforderlich macht, um das Schlimmste zu verhindern. Wie kann etwas zwanzig Jahre lang explodieren? Wie kann solch‘ eine Metapher über einen so langen Zeitraum im Gebrauch sein?

Ein kurzer Kostenvergleich

Betrachtet man auf der einen Seite die gestiegenen Beitragssätze zu den Sozialversicherungen (Kranken-, Renten- und Pflegeversicherung), dann kann man sich mit nichten mitten in einem Explosionszentrum vermuten. So stiegen die Beitragssätze der Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) von durchschnittlich 11,37% in 1980 auf 13,18% in 1995. Der Anteil der Kosten im Gesundheitswesen am Bruttosozialprodukt stieg nur um 0,3%, nämlich von 8,4% in 1981 auf 8,6% in 1993. Für 1996 werden ca. 9,5% geschätzt Quelle: Bundesgesundheitsministerium).

In vergleichbaren industriellen Ländern, in denen nicht einmal alle Menschen sozialversichert sind, es jedoch einen vergleichbar hohen medizinischen Standard gibt, liegen die Ausgaben interessanterweise deutlich höher: So z.B. in den USA mit 14,1% des Bruttosozialprodukts in 1993 (Quelle: OECD Health-Data 1995).

Die Krankenhauskosten pro Kopf lagen umgerechnet nach Kaufkraftparitäten in Dollar 1993 in der BRD bei 682 $ und in den USA bei 1478 $. Die Kosten der ambulanten Versorgung betrugen 1993 in der BRD 474 $ und in den USA 1047 $ (Quelle: OECD Health-Data 1995). Nochmals sei hier angemerkt, daß in den USA nicht alle Menschen in den Genuß einer abgesicherten Krankenversorgung kommen. Ähnliche Zahlen lassen sich auch für Kanada erheben.

Worum geht es wirklich?

Geht es der Bundesregierung und Herrn Seehofer wirklich um eine Form des Katastrophenschutzes zur Erhaltung des Sozialstaates? Wohl kaum! Vielmehr wird den Menschen unberechtigt Angst gemacht, damit sie höhere Eigenbelastungen in Form von Zuzahlungen bei Krankenhausaufenthalt und/oder Medikamenten so wie einen Lohnverzicht im Krankheitsfall bei gleichzeitigem Sinken der Leistungen akzeptieren.

Die industrielle Lobby wird geschützt. So geht es der Pharmaindustrie der Gesundheitsreform zum Trotz golden: BAYER freut sich über steigende Umsatzrenditen von 10%. HOECHST will bis zur Jahrtausendwende Weltmarktführer werden. Zudem gab Seehofer den Pharmaherstellern unlängst eine „Zusage von besonderer Bedeutung“ (BAYER-Vorstandsmitglied W.Wenninger):

1. Für sämtliche Medikamente, deren Patente sie halten, müssen sie sich nicht an Festpreise halten.

2. Die lästige Konkurenz billiger Importarzeneien wird weitgehend ausgeschaltet.

So kostet z.B. das Krebsmittel TAXOL von Bristol in der BRD 330 DM und in Belgien 231 DM. Das Antibiotikum ORELOX kostet hier 54 DM und in Frankreich 35 DM.

Die Gesamtausgaben für pharmazeutische Produkte nach Kaufkraftparitäten lagen 1993 in der BRD bei 335 $, in den USA bei 280 $ und in Schweden bei 161 $ (Quelle: OECD Health-Data 1995).

Die ärztliche Lobby hat nach anfänglichen Problemen inzwischen auch einen Stein im Brett bei Seehofer. So dürfen die KassenärztInnen wieder verschreiben, was und wieviel sie wollen, ob es nun zu teuer ist, medizinisch sinnvoll oder nicht. Auch die Stärkung der „sprechenden Medizin“ (der/die gute alte Hausarzt/ärztin) ist zu Lasten der Apparatemedizin, vor allem auf Druck der medizintechnischen Industrie, wieder in den Hintergrund gedrängt worden. Sanfte, sozialmedizinische und rehabilitative Ansätze sind rigoros gekürzt oder gestrichen worden oder müssen von den Betroffenen selbst bezahlt werden.

Kostentreiber PatientIn? Wer krank wird hat selber Schuld?

Bei steigenden Gewinnen und Aktienkursen sowie steigender Arbeitslosigkeit sinkt gleichzeitig das finanzielle Aufkommen aus den Sozialbeiträgen der Bruttoarbeitslöhne. Die soziale Polarisierung führt dazu, daß die Löhne und Gehälter hinter dem Anstieg des Volkseinkommens zurückbleiben.

Leben in Armut bedeutet aber sehr häufig Leben in Krankheit. Arme sind mehr von Krankheiten betroffen, aber Reiche klagen mehr und haben als PatientInnen viel bessere Möglichkeiten, ihre Interessen durchzusetzen (A. Mielck vom Institut für Med. Informatik der Med. Hochschule in Hannover). Der Medizinsoziologe J. Collatz erläutert in einer umfangreichen Studie die krankmachenden Erfahrungen von SozialhilfeempfängerInnen, an den Rand der Gesellschaft gedrängt zu sein. Dies ist die Erfahrung, in einer passiven Rolle zu leben, zumal die Sozialhilfe mit sozialer Kontrolle verbunden ist. Eine ähnliche Erfahrung machen auch Arbeitslose, vor allem Langzeitsarbeitslose, die in einer arbeitsdominierten Gesellschaft vermehrt an psychosomatischen und psychischen Erkrankungen leiden.

Und keinen Pfennig dazubezahlt?

Seehofer beteuert immer wieder, daß alle notwendigen Behandlungen erbracht werden. Doch der Patient, die Patientin wird nie erfahren, was ihm/ihr zuteil wird (Prof. Krebs, Ärztlicher Direktor der Uni-Klinik Bonn). So sind es vor allem chronisch Kranke, AIDS-PatientInnen und Tumor-PatientInnen, die zu Bittstellern bei den Hausärzten werden müssen und von den Kliniken abgewiesen werden, wenn sie nicht entsprechend bezahlen können. „Die letzten Tage sind die teuersten ...“ (Der Ärztliche Direktor der Uni-Klinik Köln).

Wie zudem dann noch die medizinischen Versorgungsstrukturen für die Menschen in einem sozial schwachen Bezirk gänzlich zerschlagen werden - von einem SPD-Senat -, das ist Anfang des Jahres exemplarisch in Hamburg am Beispiel des Hafenkrankenhauses in St. Pauli statuiert worden. Der Senat erhofft sich aus dem Verkauf des Geländes einen Erlös in dreistelliger Millionenhöhe. Einem ganzen Stadtteil wird plötzlich die wichtigste medizinische Logistik genommen.

Auf der anderen Seite werden die beruflichen Belastungen der Beschäftigten im Gesundheitswesen immer größer: Aufgrund der steigenden Anforderungen bei immer weniger Personal und stetig wachsenden Qualitätsstandards.

Folgendes kurzes Fazit läßt sich ziehen:

- Es gibt nachweislich keine „Explosion“ der Kosten im Gesundheitswesen in der BRD.

- Bei steigender Arbeitslosigkeit sinkt das finanzielle Aufkommen in den Sozialversicherungen, da gleichzeitig die stetig steigenden Unternehmergewinne zur Deckung der Kosten nicht herangezogen werden. Dadurch werden die Lohnnebenkosten für die Unternehmer stabil gehalten.

- Armut und Arbeitslosigkeit machen krank.

- „Teure“ PatientInnen werden abgewiesen oder nur unzureichend behandelt.

- Reiche erhalten das Optimum der medizinischen Versorgung, deren Infrastruktur überwiegend von abhängig Beschäftigten finanziert wird.

- Wer das medizinisch Notwendige und Machbare für sich in Zukunft erhalten möchte, muß aus eigener Tasche dazubezahlen.

Einige Forderungen sind daher:

- Gleiche medizinische Versorgung für alle.

- Abschaffung des ungleichen Krankenkassenwesens.

- Abschaffung des Kassenarztwesens.

- Schaffung von stadteilnahen Polikliniken.

- Verbesserung der ländlichen Infrastruktur.

- Kostenlose medizinische Versorgung für SozialhilfeempfängerInnen, Arbeitslose, BezieherInnen von niedrigen und mittleren Einkommen.

- Finanzierung des Gesundheitswesens durch Bezieher höherer Einkommen und Unternehmergewinne.

PatientInnen aller Länder verbindet Euch!