Antifaschismus

Einzeltäter?

Neonazi Kay Diesner zu lebenslanger Haft verurteilt

Am 1.12. wurde nach 15 Verhandlungstagen vor dem Lübecker Landgericht das Urteil gegen den Berliner Kay Diesner gesprochen: "lebenslange Haft". Diesner war des Mordes und mehrfach versuchten Mordes angeklagt (LinX berichtete) und als "besonders schwer" für schuldig befunden worden.

Zur Erinnerung: Am 19.2.97 wurde in Alt-Marzahn auf Klaus Baltruschat geschossen. Er kam mit dem Leben davon, verlor aber einen Unterarm und zwei Finger. Der Verdacht, daß es sich um einen rechtsextremen Anschlag handeln könnte, der vor allem der PDS galt, verdichtete sich schnell. Im selben Haus unterhält Gregor Gysi (MdB) sein Wahlkreisbüro und die Marzahner PDS ihre Bezirksgeschäftsstelle. Außerdem ging gegen Mittag beim PDS-Landesvorstand ein Drohanruf ein: "Schade, daß es heute früh nicht geklappt hat ..."

Vier Tage später wurde in Schleswig-Holstein bei einer Verkehrskontrolle ein Polizeibeamter erschossen und ein weiterer verletzt. Der anschließende Munitionsvergleich und erste Vernehmungen durch das LKA Kiel stellten alsbald klar: In Marzahn und auf dem Rastplatz Roseburg an der BAB 24 handelt es sich um denselben Täter, den Berliner Kay Diesner.

Brauner Stammtisch: Diesner im Kreise seiner "Kameraden"

Die Karriere des Kay Diesner

Kay Diesner war zur Tatzeit 24 Jahre alt. Schon zu DDR-Zeiten wurde er von der Staatssicherheit registriert und rechten Hooligankreisen zugerechnet. Mitschüler schwärmten von der Bomberjacke, die er demonstrativ trug. Er selbst fühlte sich zum Fanblock des FC Dynamo Berlin hingezogen. Seine schulischen Leistungen waren gut. Übrigens auch in den Fächern Staatsbürgerkunde und Geschichte, wofür ihm auf dem Abschlußzeugnis der 10. Klasse fundierte Kenntnisse bescheinigt wurden. In dieser Zeit, meint Diesner rückblickend, habe er "die verlogene DDR" und den "Kommunismus hassen" gelernt. Noch 1989 floh er in die Alt-BRD, wo Parteigänger der Republikaner ihn zu rekrutieren suchten. Nach Berlin zurückgekehrt, schloß er sich 1990 der NA, der "Nationalen Alternative" an. Die NA mit Hauptsitz in der Lichtenberger Weitlingstraße entpuppte sich schnell als Sammelbecken rechtsgerichteter Jugendlicher, als Anlaufpunkt für "Führer" aus dem In- und Ausland und als Kaderschmiede für militante Neonazis. Diesner galt in NA-Kreisen als unauffällig aber zuverlässig. Nach Darstellung von Aussteiger Ingo Hasselbach zwei wichtige Eigenschaften, um im "Konzept des führerlosen Widerstandes" eine Rolle zu spielen. Im "Spiegel" charakterisierte Ingo Hasselbach Diesner als "tickende Zeitbombe", die nun, im Februar 1997, hochgegangen sei. Ein Bild, das Richter Vilmar in seiner Urteilsbegründung aufgriff.

Spektakulär war auch Diesners Festnahme am 13.8.95 im Wedding. Gemeinsam mit zwei Dutzend Neonazis hatte er sich bei dem stadtbekannten "Nazi-Rocker" Arnulf Priem versammelt, der sich von einer antifaschistischen Demonstration bedroht wähnte und die militärische Selbstverteidigung seines "Grund und Bodens" organisiert hatte. Nicht wenige der dort Versammelten kannten sich aus NA-Zeiten, auch Diesner und Priem. Die nachfolgende Anklage lautete auf "Bildung eines bewaffneten Haufens". Diesner kam mit einer Geldstrafe davon. Der zuständige Berliner Oberstaatsanwalt aber geriet zunehmend ins rechte Fadenkreuz. 1996 erkundigte sich Diesner nach dessen Gewohnheiten und nach detaillierten Lageplänen des Gerichtsgebäudes.

Damit verlängerte sich eine weitere Aktionslinie Diesners, die zu NA-Zeiten begann: Die Anti-Antifa-Arbeit. Einschlägige Listen aus den Jahren 1991/92 sind bekannt. Damals war Diesner gemeinsam mit Oliver W. beauftragt worden, Adressen, Telefonnummern, Autokennzeichen und weitere Details über Antifaschisten, Journalisten, Politiker, Anwälte, Organisationen und Parteien zu sammeln, die dem deutschnationalen Geist zuwider handelten. Auf mehreren "Abschuß-Listen" waren auch sämtliche Geschäftsstellen der Berliner PDS aufgeführt, einschließlich jener in Alt-Marzahn, wo Diesner am 19.2.97 zur Tat schritt.

Ein-Mann-Terror-Truppe?

Diesner wurde als Einzeltäter verurteilt. Oberstaatsanwalt Möller sprach in seinem Plädoyer von einer "Ein-Mann-Terror-Truppe". Ob Diesner wirklich allein oder gar aus eigenem Antrieb handelte, bleibt fraglich. Es gibt zumindest Hinweise, die der Einzeltäterthese entgegen stehen. So sprach Diesner in ersten Vernehmungen von Kameraden, mit denen er sich nach den Krawallen von Hellersdorf getroffen habe. Er erwähnte "Zellenstrukturen", die er nicht preisgeben wolle. In den beschlagnahmten Asservaten fand sich ein Zeitplan mit dem Vermerk "PDS 8 Uhr" und eine Autokarte mit handschriftlichen Notizen. Nördlich Hamburgs war der Vermerk "Kennzeichen" eingetragen, also genau dort, wo Diesner auf der Flucht das Nummernschild seines Mazdas durch ein anderes austauschte, was dann der Polizeistreife am 23.2.97 auffiel. Schließlich fuhr Diesner mehrfach denselben Parkplatz an der Autobahn Hamburg-Berlin an, ein weiteres Indiz dafür, daß er Mitwisser, wenn nicht gar Mittäter hatte. Weder Polizei, noch Gericht widmeten sich diesen "Ungereimtheiten". Ungeklärt blieb auch, wo sich Diesner zwischen dem 15. und 19.2. sowie zwischen dem 19. und 23.2. konkret aufhielt.

CDU als Stichwortgeber

Unmittelbar nach den Hellersdorfer Auseinandersetzungen zwischen AntifaschistInnen und Rechten vom 15.2. erklärte Berlins Innensenator Schönbohm, wer für die gewalttätigen Auseinandersetzungen am Bahnhof Wuhletal die Schuld trage: Die PDS. Diesem öffentlichen "Urteil" folgte eine mehrtägige medienträchtige Verurteilung der PDS durch die Berliner CDU. Diesner gab an, selbst nicht an dem JN-Treffen und damit auch nicht am Bahnhof Wuhletal gewesen zu sein. Er habe von den Auseinandersetzungen im Fernsehen erfahren und daraufhin beschlossen, die PDS abzustrafen. Vor dem Lübecker Landgericht wurden die entsprechenden Fernsehsendungen per Video eingespielt. Ergebnis: Nur in einer Sendung war davon die Rede, daß die PDS verantwortlich sei und zur Gewalt aufgerufen habe, nämlich in jenem Interview, das Innensenator Schönbohm dem SFB gab. Selbst Richter Vilmar schloß in seiner Urteilsbegründung nicht aus, daß der Berliner CDU-Senator dadurch zum Stichwortgeber für den Neonazi Diesner wurde.

Die "Einzeltäterthese" bleibt auch aus einer grundsätzlichen Sicht zweifelhaft. Diesner selbst pries sich als Freiheitskämpfer, der sich im "Weißen Arischen Widerstand" (WAW) befinde. In den dpa-Meldungen über den Lübecker-Prozeß fand sich immer wieder folgender Textbaustein: "Diesner gehört der Gruppe Weißer Arischer Widerstand an." Zahlreiche Medien stützten sich auf die Agenturmeldungen und kolportierten damit den Eindruck, der WAW sei eine Gruppe. Tatsächlich handelt es sich beim WAW aber um keine Organisation mit herkömmlichen Strukturen, sondern um ein Konzept des "führerlosen Widerstandes", eine militärische Kampfform nach Wehrwolf-Art, darauf angelegt, vorgebliche Einzeltäter agieren zu lassen und Hintergründe zu verschleiern. Dieses, u.a. im "NS-Denkzettel" propagierte Konzept gehörte 1991/92 zur Doppelstrategie der NA: einerseits öffentlich um politisches Potential werben, andererseits aus illegalen Strukturen heraus den bewaffneten Kampf führen. Diesner, so bestätigen Kenner der damaligen Szene, wurde auf den illegalen Kampf vorbereitet. Ein Schlüsseljahr stellte für Diesner offensichtlich 1996 dar. Gemeinsam mit seinem "besten Kameraden" Andreas T. flog er nach Irland, um den bewaffneten Kampf der IRA zu studieren. In Österreich besorgte sich Diesner die halbautomatische Waffe, mit der er Baltruschat zum Krüppel und den Polizeibeamten Grage in den Tod schoß, in einem Abschiedsbrief an seine Mutter erkor er sich zum Märtyrer, und im Amtsgericht Tiergarten versuchte er, jenen Staatsanwalt auszuspähen, der u.a. für Hausdurchsuchungen bei Andreas T. und bei Oliver W. verantwortlich war. Dabei wurden nicht nur faschistische Propagandaschriften, sondern auch bombentaugliches Material sichergestellt. Die Rolle, die Andreas T. bei dem Attentat auf Klaus Baltruschat gespielt hat oder zumindest haben kann, wurde nie ernsthaft geklärt. Es gibt Hinweise, wonach er sich zur Tatzeit in Alt-Marzahn aufgehalten haben könnte. Eine weitere Figur im Diesner-Prozeß war Andreas St., Berliner JN-Chef und Anmelder des Hellersdorfer Aufmarsches vom 15.2. St. will Diesner bis zu dessen Festnahme nicht gekannt und nie gesehen haben. Obwohl Diesner, Andreas T. und Andreas St. zu den 30 Berliner Rechtsextremisten gehörten, die am 1. Mai 1996 durch Marzahn marschiert waren.

Das Urteil ist gesprochen, die Einzeltäter-These nicht widerlegt. Viel spricht dafür, daß sie gar nicht widerlegt werden sollte. Ende August hatte sich das Berliner Landesamt für Verfassungsschutz zum Fall "Diesner" geäußert und festgestellt, in Berlin gebe es keine militanten rechtsextremen Strukturen, um im selben "Lagebericht" auf die Gefahren von Links hinzuweisen. Richter Vilmar bezeichnete Diesner als "alleiniges Subjekt dieses Gerichtsverfahrens". Sein Weg sei von Gleichgesinnten geprägt, "ohne daß feste Strukturen erkennbar werden". Später fügte Vilmar an, daß Diesner aus ganz Europa Solidaritätspost erhalte.

(usch)