Internationales

Noch in 50 Jahren kapitalistisch?

Vor einem Jahr gab Großbritannien Hongkong an China zurück

Irgendwie guckt Tung Chee Hwa in letzter Zeit immer recht mürrisch aus den Zeitungsseiten. Kein Wunder. Viel zu lachen gab es für Hongkongs Regierungschef im ersten Jahr seiner Amtszeit nicht. Von der Zentralregierung in Peking handverlesen, löste er vor einem Jahr Englands letzten Gouverneur Chris Patten ab. Die boomende Metropole an der Mündung des Perlflusses war endlich zum Mutterland zurückgekehrt. 150 Jahre zuvor hatten die Briten es dem siechen Kaiserreich im Opium-Krieg abgenommen. China hatte nicht die Auffassungen der Londoner Handelsherren vom freien Warenverkehr geteilt und sich gegen Drogenimporte gewehrt, die seine Edelmetallreserven auffraßen. Die Regierung ihrer Majestät hatte daraufhin das Reich der Mitte gelehrt, daß die Macht aus Gewehrläufen und Kanonenrohren kommt. Nebenbei hatte man sich nach gewonnenem Krieg einen günstig gelegenen Handelsstützpunkt überschreiben lassen: Hongkong.

Doch Tung und seiner neuen Regierung blieb wenig Zeit für historische Betrachtungen. Zu groß der Berg der Probleme, der sich schon bald vor ihm auftürmte. Als Peking ihn ausgesucht und seine dem Bankrott nahe Reederei saniert hatte, ließ sich der Tycoon wahrscheinlich nicht träumen, daß er nur Tage nach seinem Amtsantritt in Asiens seit Jahrzehnten schwerster Wirtschaftskrise aufwachen würde.

Deren Schockwellen haben Hongkongs Wirtschaft längst erreicht und drücken am ersten Jahrestag auf die Stimmung. Man nutzt Sonne und Feiertag zum Bummel durch Malls und Geschäftstraßen, doch Kauflust mag nicht so recht aufkommen, weder in den engen Gassen des Armeleuteviertels Mongkok noch an der unteren Nathanroad, wo glitzernde Auslagen den gehobenen Geschmack (und Gelbeutel) bedienen. Da können die Geschäfte noch so sehr mit Preisnachlaß bis zu 70% werben, den Hongkongern ist der Spaß am Konsum gründlich vergangen.

Übergabefeier 1997

Wen wundert's? Die Arbeitslosigkeit hat mit 4,2% einen seit 15 Jahren nicht gekannten Höchststand erreicht. Tendenz weiter steigend. Die Aktienkurse wurden nahezu halbiert, das Bruttoinlandsprodukt schrumpft, und die Bodenpreise bröckeln mächtig. Letzteres könnte ­ das Beispiel Japans und Thailands zeigt es ­ gefährliche Folgen für den Bankensektor haben. Bereits jetzt bekommt der Mittelstand Schwierigkeiten, die Hypotheken-Raten für seine überteuerten Eigentumswohnungen zu zahlen. Schon bald könnten die Banken mit einer nicht mehr tragbaren Last ungedeckter Kredite dastehen. Unversehens würde Pekings Gans statt goldener, faule Eier legen.

Der Besucher, der mit der Fähre vom Festland nach Hongkong Island übersetzt, dem Herzen des internationalen Finanzplatzes, spürt indes wenig von der Krise: Der Hafen brodelt vor Aktivitäten. Große Schuten bringen, von Schleppern gezogen, Container von und zu den Frachtern, die zu Dutzenden zwischen den tropisch-grünen Inseln des Deltas auf Reede liegen. Tragflächenboote und Hovercraft-Fähren flitzen auf dem blauen Wasser hin und her, dazwischen tief im Wasser liegende Flußschiffe, Kümos, private Yachten und Touristenboote. Hin und wieder sieht man auch Boote der Wasserschutzpolizei, die ­ mit mäßigem Erfolg ­ Jagd auf Schmuggler und "illegale" Einwanderer aus dem Mutterland macht.

Bei so viel quirligem Leben zu Lande und zu Wasser fällt es Tungs Finanzminister Donald Tsang offenbar leicht, weiter Optimismus zu verbreiten: "Im nächsten Frühjahr", so verkündet er in hiesigen Zeitungen, "geht es wieder bergauf. Spätestens aber zum Ende des Jahres". Doch die Hongkonger werden dieser Durchhalte-Parolen langsam überdrüssig. Krisenstimmung macht sich breit, Protest wird laut.

Zum Beispiel von jenem bunten Haufen aus Gewerkschaftern und Linken, der sich an einem Tag im späten Juni hinter dem Sitz des Parlaments einfindet. Man ist gekommen, um von Tung und seiner Mannschaft Maßnahmen gegen die wachsende Arbeitslosigkeit zu verlangen. Hongkong hat, wie die meisten anderen Krisenländer der Region, nicht einmal eine Arbeitslosenversicherung. Chinas erster Mann in der "Special Administrative Region" lehnt deren Einführung kategorisch ab: "In den meisten westlichen Ländern", so Tung, "gibt es die eine oder ander Form von Arbeitslosengeld. Doch alle Systeme waren schlecht für (...) die Gesellschaft und sind daher gescheitert. Die Hongkonger sind immer sehr motiviert gewesen. Wir bestärken diese Haltung und ermutigen die Menschen zu harter Arbeit".

Klar, daß er bei den Versammelten nicht hoch im Kurs steht. Brav auf dem Bürgersteig demonstrierend geht es vorbei an den Glas-Beton-Burgen des Kapitals, bergan zum Regierungsgebäude. Auf Plätzen und Grünflächen kampieren Tausende Filipinas. Es ist Sonntag, die Hausmädchen der Hongkonger Mittelschicht haben ihren freien Tag. Unsicher lächelnd schauen sie dem kleinen Zug zu. Transparente und Flugblätter sind in Chinesisch, so bleiben die Veranstalter unter sich.

Einigen scheint das ganz recht zu sein. Die Vereinigung der Arbeitsinvaliden fordert die sofortige Abschiebung aller (asiatischen) Arbeits-Immigranten. So weit wollen die meisten zwar nicht gehen, aber die Stimmung ist in der Bevölkerung verbreitet. "Jeden Tag erhalte ich entsprechende Anrufe", berichtet Vincent, der in einem Nachbarschaftszentrum arbeitet. Die Gewerkschaften fordern von der Regierung, keine Arbeiter aus der Volksrepublik mehr in die Stadt zu lassen. Auch der erst kürzlich hauptsächlich mit Arbeiterstimmen gewählte Abgeordnete Leung Yiu Chung, der zur pekingkritischen demokratischen Linken zählt, fordert von der Regierung einen "Stop des Imports von Arbeitern".

Doch an diesem Sonntag stehen andere Forderungen im Mittelpunkt. Die Wiedereinführung des Mindestlohns wird z.B. verlangt. In hastigen Sitzungen hatte Ende Juni letzten Jahres, d.h. vor der Übergabe, das noch unter britischer Herrschaft gewählte Parlament einige Arbeiter- und Gewerkschaftsschutzrechte beschlossen, z.B. über Tarifhoheit, Kündigungsschutz und Mindestlohn. Nach dem 1. Juli bestand eine von Tungs ersten Amtshandlungen darin, diese Gesetze zu suspendieren.

Schließlich wurden sie im Herbst '97 nach drei Lesungen im provisorischem Parlament wieder abgeschafft. Die sonst sehr auf Arbeiterrechte bedachte, aber pekingnahe Demokratische Allianz stand vor einem erheblichen Dilemma. Sie enthielt sich.

Die Rechnung wurde im Mai bei den ersten Wahlen der post-kolonialen Ära präsentiert: Das pekingkritische linksliberale und sozialdemokratische Lager trug einen überwältigenden Sieg davon. Einzig das eigentümliche, von den Briten übernommene Wahlsystem sorgt dafür, daß sie im neuen Parlament nicht die Mehrheit haben: Von 50 Sitzen werden nur 20 in freier allgemeiner Wahl vergeben. Die restlichen Abgeordneten wählen verschiedene Berufsgruppen und Verbände.

Die Forderung nach direkten Wahlen steht daher für den Chef der siegreichen Demokratischen Partei Lee Wing Tat an erster Stelle. "Wir wollen, daß im Jahre 2000 jeder Parlamentarier demokratisch gewählt wird", verkündete er am Tag nach der Wahl.

Vielleicht setzt er sich damit sogar durch, denn viel zu fürchten hat Peking von ihm nicht. Deng Xiao Pings Versprechen jedenfalls, daß die Millionenstadt 50 Jahre kapitalistisch bleiben wird, stellt er nicht in Frage.

Das machen andere, doch mehr als einige Hände voll waren es nicht, die da am 1. Juli im Victoria Garden zusammenkamen, um gegen ein Hongkong der Konzerne und für eine neue Verfassung zu demonstrieren.

(wop)