Internationales

Was bleibt vom Mythos Frankreich?

Die Streikwelle, die Bewegung der Sans-Papier und die Arbeitslosenaktionen in Frankreich haben bei der hiesigen Linken Hoffnungen und Bewunderung geweckt. Aus der Nähe betrachtet verblaßt der Glanz ein wenig und die Mythenbildung erweist sich durchaus als gegenseitig. Hier einige Eindrücke von Begegnungen mit AktivistInnen in Paris im Mai 1998.

Das Dilemma der Gewerkschaften

Da ist zunächst mal der neidvolle Blick auf die deutsche Einheitsgewerkschaft und die starke gewerkschaftliche Organisierung in Deutschland (35% gegenüber 10% in Frankreich). Angesichts der starken Zersplitterung der französischen Gewerkschaften ist der Neid verständlich. Die Gewerkschaften, die in Frankreich nicht generell entlang der Berufsparten gruppiert sind, sondern sich vorrangig nach politischer Zugehörigkeit organisieren, stehen auch innerhalb einer Branche in Konkurrenz zueinander. Jede anerkannte Gewerkschaft kann Vereinbarungen mit den ArbeitgeberInnen treffen, die dann für die gesamte Belegschaft bindend sind. So werden Arbeitskämpfe durch die Konkurrenz der Gewerkschaften unterlaufen, wie kürzlich beim Streik bei der Air France.

Die Konkurrenz rührt auch daher, daß die Gewerkschaften nicht wie hier die institutionalisierte Rolle des vermittelnden Sozialpartners haben, sondern sich ihr Vertretungsanspruch nur aus der Loyalität ihrer Basis ergibt. Einige französische GewerkschafterInnen blicken da bewundernd auf die Verhandlungsmacht des DGB in Verkennung der Angepaßtheit und Schwerfälligkeit dieses so etablierten Apparates.

Die CFDT und die FO eifern als willige Verhandlungspartner der ArbeitgeberInnen diesem Vorbild nach, was u.a. zur Abspaltung der SUD als eigene "alternative" Gewerkschaft beigetragen hat, die sich vor allem im öffentlichen Dienst etabliert und den Anspruch hat, über die betriebliche Arbeit hinaus mit anderen sozialen Bewegungen zusammenzuarbeiten.

Die CGT, die größte und KPnahe Gewerkschaft befindet sich in einem Loyalitätskonflikt gegenüber der Linksregierung unter Beteiligung einer kommunistischen Partei. Die Führungskader der traditionellen Gewerkschaften hinken daher eher den Bewegungen hinterher, statt selbst Impulse zu geben.

St. Denis - nicht nur ein Fußballstadion

Dennoch gibt es immer wieder starke Kämpfe, z.B. den LehrerInnenstreik in St Denis - dem 93. Département - bekannt durch die Fußballweltmeisterschaft. Weniger bekannt ist wahrscheinlich, daß St. Denis eines der sozial benachteiligtsten Départements von Paris ist. Der Streik für eine bessere personelle und materielle Ausstattung der Schulen wurde von kritischen GewerkschafterInnen und gewerkschaftlich unabhängigen Gruppen initiiert und fünf Monate durchgehalten. Die Gewerkschaftsführungen der SNES und der FEN, die den Konflikt mit der Kommunistischen Verwaltung scheute, mußten aufgrund der breiten Verankerung des Streiks mitziehen. Die Zugeständnisse der Regierung waren gering, aber das Erleben der gemeinsamen Stärke, hat laut AktivistInnen des Streiks die Atmosphäre im Stadtteil verändert. Eine Neuauflage ist für September geplant.

Pyrrhussiege

Die konkret erzielten Erfolge sind klein und häufig mit Vorsicht zu genießen, wie die Einführung der 35-Stunden-Woche, die durch die unklare Gesetzesregelung einer Deregulierung der Arbeitszeit und der Ausdehnung von Wechselschichtarbeit ohne Nacht- und Wochenendzuschlag Vorschub leistet, wie sie schon in vielen Betrieben, nicht nur in Frankreich, praktiziert wird. Auch das Legalisierungsprogramm für die Sans papiers hat sich als Falle herausgestellt. Von 150000 AntragstellerInnen haben nur die Hälfte einen Aufenthaltstitel (für 1 Jahr!) erhalten, aber alle sind jetzt aktenkundig.

Der Blick über den Tellerrand

Die Schlagkraft und Radikalität der Proteste gegen die massiven Angriffe auf das ohnehin schlecht ausgestattete Sozialsystem ist vor allem dem Zusammenwirken der verschiedenen Gruppierungen - kritische GewerkschafterInnen, Arbeitslosen- und MigrantInnenorganisationen - zu verdanken. Gerade die Zersplitterung der Gewerkschaften scheint zur größeren Offenheit anderen Bewegungen gegenüber beizutragen, da sie auf BündnispartnerInnen angewiesen sind, um Stärke zu zeigen.

Das Bewußtsein der Notwendigkeit, sich für soziale Verbesserungen auf allen Ebenen einzusetzen, wächst. Die Bewegung der "Sans", der "Ohne" (sans travail, sans papiers, sans toit - ohne Arbeit, Papiere, Dach), ist ein Ausdruck dafür. Ihre Aktionen werden auch von Teilen anderer Gewerkschaften unterstützt durch Patenschaften für ImmigrantInnen, durch zur Verfügungstellen von Büros und Infrastruktur, durch gemeinsame Demos.

Die aktiven Gruppen sind aus der Nähe betrachtet - wie bei uns - eher klein und beklagen einen Mangel an AktivistInnen. Aber ihre Aktivitäten stoßen auf breite Sympathie in der Bevölkerung. JedeR hat mittlerweile Verwandte, die in irgendeiner prekären Situation leben, insbesondere in der jungen Generation, die kaum Aussicht auf einen Arbeitsplatz hat und bis zum 25. Lebensjahr von der Arbeitslosenunterstützung ausgeschlossen ist, ist die Wut groß. Dem setzt das neue Gesetz gegen den Ausschluß aus dem Sozialsystem wenig entgegen. VertreterInnen der Arbeitslosenorganisation AC! sehen u.a. in der "Solidarität der öffentlichen Meinung" eine Ursache dafür, daß AC! und drei weitere Organisationen von Arbeitslosen inzwischen von der Regierung als VerhandlungspartnerInnen anerkannt werden.

Raus aus der Nischenpolitik

Die neuen sozialen Bewegungen in Frankreich profitieren von der schlechten sozialen Lage und der Tatsache, daß die Bevölkerung genug hat von den Angriffen auf das soziale Netz. Sie profitieren auch von einer langen Widerstandstradition. Faktoren, mit denen die Linke in Deutschland nicht rechnen kann. Aber sie profitiert ebenso von der Zusammenarbeit untereinander und dem Heraustreten aus der Nischenpolitik. Vielleicht ist es das, was wir von Frankreich lernen können.

(AW)