Internationales

Interview mit Christophe Aguiton zu den geplanten Aktionen zum EU-Gipfel

"Überall sein, wo Entscheidungen fallen"

Christophe Aguiton (Foto: wop)

Anfang Juni nächsten Jahres werden in Köln die Weichen für die weitere Entwicklung der Europäischen Union gestellt. Unter deutscher Präsidentschaft werden die EU-Staats- und Regierungschefs zusammenkommen, um über eine Reform der Gemeinschaftsinstitutionen zu beraten.

Auch andere werden da sein. Die verschiedensten sozialen Bewegungen diskutieren bereits, welche Aktionen man gegen den Gipfel organisieren sollte. Zumal nur zwei Wochen später auch eine G7-Tagung abgehalten wird. Nicht wenige Stimmen sprechen sich für eine Wiederholung der Euromärsche aus, mit denen 1997 Hunderte über mehrere Monate nach Amsterdam zum seinerzeitigen EU-Gipfel zogen. Den Abschluß hatte eine Demonstration mit 50.000 Teilnehmern aus ganz Europa gebildet.

LinX sprach über den Stand der Vorbereitungen der Gegenaktionen mit Christophe Aguiton, Vertreter der Euromarsch-Koordination und Mitglied der französischen Arbeitslosenorganisation "AC!"

(wop)

LinX: Gegen den Kölner EU-Gipfel ist eine breite internationale Mobilisierung geplant. Wird es wieder einen Sternmarsch geben?

Christophe Aguiton (C.A.): Das ist im Augenblick noch nicht klar. Bisher steht fest, daß es im Januar, am 23. und 24., eine wichtige internationale Konferenz in Köln geben wird, zu der wir 700 bis 1.000 Teilnehmer aus ganz Europa erwarten. Dort werden wir über unsere Forderungen diskutieren und unsere Erfahrungen in den verschiedenen Ländern austauschen. Dort wird auch über die konkreten Formen entschieden werden. Vielleicht wird es Märsche geben, vielleicht etwas anderes. Aber auf jeden Fall wollen wir eine große Demonstration in Köln, möglichst mit den Gewerkschaften, und in dieser Demonstration unsere Forderungen klar rüberbringen.

LinX: Wie schätzen Sie die Voraussetzungen dafür ein?

C.A.: Gut. Wir denken, daß wir 1997 den Beginn einer wirklich europäischen Bewegung erlebt haben, der von drei wichtigen Demonstrationen markiert wurde. Zunächst der Brüsseler zur Unterstützung des Streiks bei Renault in Vilvoorde, dann die große Demonstration in Amsterdam und schließlich die Demonstration der europäischen Gewerkschaften in Luxemburg, an der auch die Koordination und andere teilnahmen.

Wir verfolgen zwei Ideen: Die eine ist, überall hinzugehen, wo die Regierungen versuchen, Entscheidungen zu fällen. Deshalb waren wir im Juni beim letzten Gipfel in Cardiff mit einer Demonstration von 2.000 Leuten, wovon zwei- oder dreihundert aus anderen Ländern kamen. Deshalb werden wir im Dezember nach Wien fahren. Dort wird es wahrscheinlich eine nicht allzu große Demonstration geben, aber die Aktion ist wichtig, um Verbindungen zwischen den Bewegungen in Österreich, Süddeutschland und Norditalien herzustellen und wenn möglich sogar in Ungarn und auf dem Balkan.

Das andere ist, an bestimmten, ausgewählten Punkten eine große politische Bewegung zu manifestieren, herausragende Demonstrationen zu organisieren. Juni '99 in Köln ist dafür eine gute Gelegenheit. Zum einen, weil Köln sehr zentral liegt und damit wie Amsterdam und anders als Dublin oder Athen bestens geeignet für eine große europaweite Demonstration. Zum anderen aus einem eher politischen Grund: Nachdem Schröder zum Deutschen Kanzler gewählt ist, ist die große Mehrheit der europäischen Regierungen links oder mittelinks. Gleichzeitig gibt es eine neue Europa-Diskussion, denn die EU muß ihre Institutionen der Aufnahme der neuen Mitglieder anpassen. Außerdem riecht man in den meisten Ländern inzwischen, daß es ein ernsthaftes Problem ist, eine Währungsunion zu errichten, einen freien und sehr liberalen Markt einzuführen, aber auf der politischen und sozialen Ebene keine Entsprechung zu haben. Schröder, die französische Regierung und sicherlich andere werden also anfangen müssen, über Europas Zukunft zu diskutieren.

In dieser Situation, denken wir, ist es sehr wichtig, daß die sozialen Bewegungen ihre Stimme erheben. Tun sie es nicht, nehmen sie keinen Einfluß, dann sind zwei Entwicklungsmöglichkeiten denkbar: Entweder es geschieht nichts, d.h. Europa würde sich einfach als unfähig erweisen, mit der sozialen Frage umzugehen. Oder die Antwort heißt Flexibilisierung und eine vollständige Liberalisierung des Arbeitsmarktes. Wir konnten z.B. auf dem Ministerratstreffen in Luxemburg sehen, wie die britische Regierung zusammen mit anderen versuchte, mehr Flexibilisierung in das Arbeitsrecht einzuführen.

Wir wollen natürlich das Gegenteil. Wir wollen wirkliche Veränderungen in Europa, die Verkürzung der Arbeitszeit, 35-, 32-, 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich und ohne Flexibilisierung. Flexibilisierung schafft keine neuen Arbeitsplätze, sondern verschlechtert die Bedingungen für die Arbeiter. Unsere zweite Forderung ist ein Grundeinkommen für alle, für Arbeitslose aber auch für arme Arbeiter, Teilzeit-Arbeitende oder Unterbeschäftigte. Schließlich fordern wir, daß die Grundbedürfnisse Wohnung, Energie und Verkehr als soziales Grundrecht anerkannt und garantiert werden. Europa ist eine der reichsten Regionen der Erde und hat die Mittel, um allen hier Lebenden, Einheimischen wie Einwanderern, würdige Lebensbedingungen zu ermöglichen.

Hierfür müssen wir Druck machen. Diese Forderungen werden nur mit einer starken Bewegung durchzusetzen sein. Wir denken, daß der Juni-Gipfel eine gute Gelegenheit sein wird. Deutschland, das demographisch und wirtschaftlich wichtigste Land der EU, hat dann die Präsidentschaft inne, und zu der Zeit wird eine Debatte über Europas Zukunft im Gange sein. Wir versuchen, alle Netzwerke zu überzeugen, sich auf eine Mobilisierung um dieses Datum herum zu einigen. Gewerkschafter, Arbeitslose, Umweltschützer.

LinX: Wenn die Betonung so auf Reformen liegt, heißt das, daß es um ein bloßes Reformieren des imperialistischen Projekts EU geht?

C.A.: Natürlich ist diese EU nicht unser Projekt. Unser Ansatz ist folgender: Das Euromarsch-Netzwerk ist ein soziales Netzwerk. Wir wollen die verschiedenen Bewegungen zusammenbringen. Wenn uns das gelingt und wir unsere Forderungen durchsetzen können, dann bauen wir bei den Menschen und Gruppen gleichzeitig Selbstbewußtsein auf, sowie die Fähigkeit, andere Kämpfe zu organisieren.

Klar, in Teilen handelt es sich um ein imperialistisches Projekt. Obwohl: Andererseits gibt es auch viel Streit zwischen jenen, die sich lieber an den Amerikanern orientieren, und den Befürwortern einer starken europäischen Armee und eines starken europäischen Staates, um auf internationaler Ebene kämpfen zu können. Aber es ist klar, daß Teile der deutschen und der französischen Regierung Anhänger dieser Idee sind.

Um dagegen zu kämpfen, denken wir, ist es wichtig, unser Netzwerk mit anderen Netzwerken zu verbinden - Dritte-Welt-Netzwerken, Osteuropa-Netzwerken usw. Aus diesem Grunde haben wir den Euromarsch 1997 u.a. in Tanger, Marokko, und Sarajevo, Bosnien, anfangen lassen, um zu zeigen, daß wir diese "Festung Europa" nicht wollen.

LinX: Was halten Sie von dem Vorschlag, der in Seoul gemacht wurde, Leute aus den Ländern des Südens für die Märsche - wenn es sie denn gibt - und die Demonstration nach Europa zu bringen?

C.A.: Das ist eine ziemlich gute Idee. Im kleineren Rahmen haben wir das bereits in Amsterdam gemacht. Ein oder zwei Brasilianer und einer der KCTU-Vizepräsidenten (koreanischer Gewerkschaftsverband - die Red.) waren auf der Demonstration. Wir hatten auch versucht, einige Marokkaner rüberzubringen, doch waren keine Visa für sie zu bekommen. Diesmal sollten wir versuchen, mehr Leute aus mehr Ländern einzuladen. Es ist sehr wichtig, konkrete Kontakte zu haben und das in den Medien herauszustellen.

LinX: Nun gibt es viele Menschen, die sind nicht prinzipiell gegen die EU, sondern wollen sie reformieren, wollen eine andere EU. Und dann sind da die prinzipiellen EU-Gegner, wie die Dänen oder die Griechen. Sehen Sie eine Möglichkeit, die zusammenzubringen?

C.A.: Ja. Das ist bereits im Euromarsch-Netzwerk geschehen. Wir haben Mitglieder, die sind absolut gegen Europa, wie die dänischen Vertreter und andere, die für ein anderes Europa eintreten. Wir arbeiten von Anfang an zusammen. Und es funktioniert, denn wir haben uns auf gemeinsame Forderungen und Aktionen geeinigt. Diese Aktionen verändern die Menschen, weil es nicht nur eine ideologische Debatte ist, sondern eine gemeinsame Erfahrung. Auf den Demonstrationen kann natürlich jeder seine eigenen Flugblätter verteilen, das ist eine freie Debatte.

LinX: Wie steht die französische Arbeitslosenbewegung nach den Mobilisierungen im letzten Winter da?

C.A.: Sie wächst. Viele Arbeitslose schließen sich an. Im Augenblick diskutieren wir über neue Ausdrucksformen der Bewegung. Und natürlich haben wir, wie überall auf der Welt, auch Probleme, denn die ökonomische Krise macht es nicht unbedingt leichter. Unsere Forderungen sind denen des Netzwerks ähnlich: Verringerung der Arbeitszeit ohne Lohneinbußen und Flexibilisierung und Grundsicherung.

LinX: Wir danken für das Gespräch.