Herr, send' Hirn!

"50 Zeilen Haß" - oder so ähnlich hieß Ende der 80er Jahre die Kolumne in einem dieser damals ach so hippen "Zeitgeist"-Magazine. Immer unsachlich, aber nie ganz unzutreffend kotzte sich der Autor über unangenehme ZeitgenossInnen und andere schwer erträgliche Phänomene des Alltags aus. Das ansonsten uninteressante Magazin hat sein Erscheinen schon länger eingestellt, das Konzept "riesige Fotos, wenig Text, kaum Trennung zwischen Werbung und redaktionellem Teil" hat sich dagegen - mit Ausnahme der LinX natürlich - voll durchgesetzt.

Warum hier die Erwähnung einer solchen Marginalie? Weil dem verdienstvollen Projekt einer sozialistischen Zeitung für Kiel ein wenig Polemik auch nicht schaden kann. Dafür wird mit dieser Rubrik ab dieser Ausgabe immer Platz zwischen Südostasienberichterstattung, Gewerkschaftsticker und KERNspalte sein. Los geht's ...

"Nachtleben" - das war bisher einfach nur die langweiligste Rubrik der Welt, zu finden auf den Seiten der "Kieler Szenen" der KN. Wen interessiert schon, wann und wo irgendwelche jungdynamischen KielerInnen ihren Gin Tonic trinken, welches ihr Lieblings-"Italiener" ist (mit dem Wirt sind sie natürlich schon seit Jahren befreundet), ob sie 3 oder 4 mal die Woche zum Tangokurs gehen oder am Sonntag mit dem Freund am Hindenburgufer inlineskaten. Postadoleszente Belanglosigkeiten halt und stereotyp ohnenhin. Diejenigen, die da dem staunenden Leser ihre irre spannende Woche präsentieren, töpfern entweder kreativ in der Muthesiusschule oder arbeiten in ihrer eigenen Agentur (für was auch immer), haben daneben mindestens drei Kneipenjobs und besuchen auch noch ein paar BWL-Vorlesungen; nicht zu vergessen das Carving- oder Callanetics-Training. Einzig interessant daran die Frage, wann diese überaus aktiven jungen Citoyens eigentlich Zeit für die etwas aus der Mode gekommene Kulturtechnik des Denkens haben.

Die Antwort kam in besagter Rubrik am 21.10. - gar nicht offensichtlich. Anders ist es nicht zu erklären, daß eine 25jährige Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der KN-Leserschaft mitteilt, wie sie sich an einem Mittwoch Ende Okober von ihrer harten Arbeit zu "entspannen" gedenke. Die junge Dame, deren Profession ja der präzise und sichere Umgang mit Sprache ist, im O-Ton: "Nachdem ich zwei Wochen an der neuen Ausgabe gearbeitet habe, brauche ich am Abend Entspannung bei Otto Dix' Radierungen. Danach geht's kulturell weiter ..." Nichts gegen Entspannung - und schon gar nichts gegen die sehenswerte Otto-Dix-Ausstellung, die die persönlichen Erfahrungen des Künstlers mit der Bestialität des 1. Weltkrieges - viel Schützengrabenhorror, viel auf Bajonette gespießte Leiber - zum Thema hat. Aber wer so schreibt, wird bestimmt auch nur deswegen in die Wehrmachtsausstellung gehen, weil es vom Landeshaus nicht mehr so weit zum "Absacker" in den "Schönen Aussichten" ist.

Kein strunzdummes Geschreibe, Gerede, das nicht noch irgendwie zu toppen wäre: War da doch der Sportmoderator, der seinem Publikum, das außer den Fetischen "Deutschland" und "Auto fahren" nicht viel zwischen den Ohren hat, schonend die Niederlage eines deutschen Formel I-Helden beibringen mußte: Die deutschen Fans sollten sich damit trösten, daß der Sieger - leider nur ein Finne - immerhin mit einem deutschen Wagen gesiegt hat. Tja, als Deutscher ist man eben immer ein bißchen Gewinner.

Zu den Gewinnern gehört zweifelsohne auch der neue Außenminister Fischer. Wer bei bei dessen Halbsatz: "Ich werde keine grüne Außenpolitik machen", schon erleichtert durchatmen wollte, wurde alsbald enttäuscht - "sondern deutsche", ging es weiter.

(C.S.)