Betrieb & Gewerkschaft

Arbeit, Arbeit, Arbeit!, so tönt es uns von allen Seiten entgegen. Manchmal könnte man meinen, die Lautstärke soll uns vergessen machen, daß die Massenarbeitslosigkeit längst zum strukturellen Problem geworden ist. Kein noch so großer (wie unwahrscheinlicher) Aufschwung wird sie aus der Welt schaffen: Die Marktwirtschaft produziert beim erreichten Stand der Produktivität "überflüssige Bevölkerung".

Doch was tun? Ein Autor der Arbeitslosenhilfe Oldenburg ist in einem lesenswerten Papier der Frage nachgegangen. Wir nutzen Jahresende und Doppelnummer, euch diesen "Kopfstoff" mit auf den Weg zu geben. Wenn es im nächsten Jahr gegen eine EU-weit abgestimmte garantiert deregulierende und lohndrückende "Arbeitsmarktpolitik" geht (z.B. am 5.6. in Köln), wird er vielleicht von Nutzen sein.

(Die LinX-Redaktion)

 

Existenzgeld - der König unter den Peanuts

Einkommen statt Trinkgeld!

"Wenn man sich schon Illusionen macht, dann aber wenigstens richtig; es muß stimmen!" (Django, der mit dem Sarg kam ...)

Im Februar 1992 hatten die Bundesarbeitsgruppen gegen Arbeitslosigkeit und Armut die Forderung nach einem Existenzgeld für alle, nach radikaler Arbeitszeitverkürzung und einer Gleichverteilung der gesellschaftlich notwendigen Arbeit formuliert und sie in einer Broschüre mit "13 Thesen gegen falsche Bescheidenheit" ausführlich begründet. Im folgenden Beitrag setzt sich einer der Autoren der Broschüre mit der zur Zeit laufenden Debatte um die Einführung einer Grundsicherung auseinander und plädiert für eine Aktualisierung der Existenzgeldforderung.

Die aktuelle Grundsicherungsdebatte

Je schlechter die politischen und ökonomischen Bedingungen für ihre Umsetzung aussehen, desto heißer werden die verschiedenen Konzepte "Bürgergeld", "Negative Einkommensteuer" oder "Soziale Grundsicherung" gehandelt. In den Debatten geht es entsprechend konkret zur Sache: wieviel Geld, für wen, mit oder ohne Bedürftigkeitsprüfung, wieviel Arbeitseinkommen wird angerechnet, ist das Ganze überhaupt finanzierbar? Den "13 Thesen" wird entsprechend entgegengehalten: wie soll das denn konkret aussehen, das ist doch illusionär, wer soll das bezahlen, das läßt sich doch nicht umsetzen!

Unter den momentanen Bedingungen ist es vergebliche Liebesmüh', über die konkrete Umsetzung des "Existenzgelds" zu streiten; wir haben kein "Rechenmodell" ausgearbeitet, und jedes heute "realistische" Modell hätte mit unseren Vorstellungen nicht mehr viel gemein. Modelle, die wenigstens kleine Verbesserungen für die Betroffenen bringen würden - wie z.B. das des DPWV -, sind besser geeignet, weil "umsetzbarer", wenn es um die Herstellung eines reformistischen Bündnisses zur Abwehr der Deregulierungsangriffe geht. Wenn die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse eine solche Reform erlauben sollten, werden wir nicht Sturm dagegen laufen, aber auch nicht aufhören, unsere weitergehenden Ansprüche einzufordern.

Das Wahlergebnis nüchtern betrachtet zeigt, daß zehn Jahre Deregulierung und Umstrukturierung des Arbeitsmarktes zusammen mit einer hart individualisierenden Leistungs- und Konsumorientierung für eine Mehrheit der (wählenden) Bevölkerung in der BRD bislang immer noch eine Verbesserung ihrer materiellen Lebenssituation gebracht hat. Ohne Einkommenseinbußen wird es keine radikale Reform geben, deshalb hat auch die Mehrheit momentan kein materielles Interesse an radikalen Reformen, und keine Partei wird einer Mehrheit Einkommenseinbußen versprechen.

Die vor der Wahl veröffentlichten Stellungnahmen von Professoren, Kirchen, Wohlfahrtsverbänden usw. zu Massenarbeitslosigkeit, Armut und Ausgrenzung müssen denn auch v.a. die Moral und die Solidarität innigst beschwören, um Gründe für den Erhalt des Sozialstaates anführen zu können. Von der potentielle Gefährdung des "sozialen Friedens" ist dabei viel die Rede. Aber damit ist nicht etwa gemeint, daß Armut und Ausgrenzung für die Betroffenen bereits das Ende ihres sozialen Friedens bedeuten, sondern daß die Betroffenen die anderen dabei stören könnten, sich ihre individuellen Marktvorteile in Frieden anzueignen. Die Zukunft der gesamten zivilen Gesellschaft hängt plötzlich am seidenen Faden des Sozialstaates, als ob nicht Hunger und Elend zum dauerhaft notwendigen Programmteil im Siegeszug der "zivilen" Marktgesellschaft immer schon, aber verschärft seit ihrer weltweiten Herrschaft gehörten; aber zur chauvinistischen Standortideologie (und am Prinzip des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs, der internationalen Konkurrenz halten sie alle fest) gehört es, daß Leid und Elend erst wahrgenommen werden, wenn es vor der eigenen Haustür auftaucht - als lästige Störung des daily business. Im übrigen kommen auch die wohlmeinendsten Denkschriften nicht ohne Forderungen nach "Verschlankung" des Sozialstaats und nach "gerechten Kürzungen" aus.

Kurz: wenn auch die Zahl der von prekärer Beschäftigung, Arbeitslosigkeit und Armut Betroffenen stark ansteigt und die Desintegration der Gesellschaft voranschreitet, so ist die moralische Empörung auf der Seite der Gewinner nur so stark wie der bewußte Organisationsgrad auf Seiten der Verlierer noch zu schwach ist, um den notwendigen Druck für die Durchsetzung radikaler Verbesserungen zu entfalten.

Die versteckte Funktion der Grundsicherungsdebatte

Die Diskussionen um die Einführung einer "Grundsicherung" haben, gewollt oder ungewollt, eine objektive Funktion erfüllt. Sie haben den Zusammenhang von Sozialeinkommen und Arbeitsplätzen in das Interesse der herrschenden Öffentlichkeit gerückt. Die Interpretationsmacht der Rechten und ihrer gleichgeschalteten Medien hat daraus die gängige Parole geschmiedet: Die Höhe der Sozialeinkommen verhindert, daß ihre BezieherInnen eine Arbeit aufnehmen!

Die "Umsetzung" der Grundsicherungsdebatte durch die CDU/FDP-Koalition wird daher in der Kürzung der Sozialhilfe und anderer arbeitsloser Sozialeinkommen und in der Ausweitung der Arbeitspflicht bestehen, um den Erwerbslosen die Aufnahme von gering bezahlter Arbeit zu "ermöglichen". Keine andere Funktion hätte übrigens das "Bürgergeldmodell" der FDP.

Keine Zeit für radikale Reformen! Aber höchste Zeit für radikale Opposition!

Unsere Thesen zur Existenzgeldforderung verschaffen uns Eintritt in die öffentlich-wirksamen Debatten über Arbeit und Einkommen, und diese Chance sollten wir nutzen, um über die aktuelle, globale Umstrukturierung der Arbeit und der Arbeitsmärkte und den Zusammenhang von Sozialeinkommen und prekärer Beschäftigung aufzuklären und für eine radikale Opposition gegen den Angriff auf unsere Einkommen zu arbeiten.

Um wirksam in die aktuellen Debatten eingreifen zu können, müssen aber die Entwicklungen der letzten zwei bis drei Jahre berücksichtigt und die "13 Thesen" in einigen Punkten korrigiert werden:

Die folgenden Überlegungen sollen eine grobe Skizze der neuen Entwicklungslinien geben, einen aktualisierten Forderungskatalog vorstellen sowie ein paar konkrete Handlungsmöglichkeiten für jede Initiative vor Ort aufzeigen.

Die Existenzgeldforderung muß aktualisiert werden

Ausgangsprämisse ist, daß die Sozialkürzungen im Zuge des "Solidarpakts" sowie alle folgenden nicht nur ein Angriff auf Erwerbslose und Ausgegrenzte sind, sondern eine radikale, historisch grundlegende und globale Umstrukturierung der Arbeitsbedingungen und Löhne allgemein, ja der gesamten Reproduktionsbedingungen der kapitalistischen Gesellschaften flankieren. Die konkreten Strategien zur Krisenbewältigung sollen die Konkurrenzfähigkeit auf nationaler Ebene verbessern; die Maßnahmen werden aber auf OECD-Ebene zunehmend gleichgeschaltet: Senkung der Sozialeinkommen, Schaffung von Billiglohnsektoren zur Mobilisierung der Armutsbevölkerung und Entgarantierung "normaler" Arbeitsverhältnisse (vgl. SIESTA Nr. 21)

Die aktuelle Verwertungskrise von Kapital äußert sich auf drei Ebenen:

1. Die ökonomische Ebene

Der Widerspruch des vergangenen Wachstumszyklus, absolut steigende Gewinne bei relativ sinkendem Profit, hat bewirkt, daß Investitionen allgemein, besonders als Produktionserweiterung in neue Arbeitsplätze, unrentabel geworden sind. Die mittels neuer Technologien und Massenentlassungen versuchte Reduzierung, Unterordnung und Ausbeutung lebendiger Arbeit ist gescheitert: Trotz steigender Wertzusammensetzung stagnierte zuletzt die Produktivität der Arbeit - auch und gerade gemessen als Kosten gesamtgesellschaftlicher Reproduktion, in die in eine forcierte Massenarbeitslosigkeit mit eingerechnet werden muß. Diese seit Anfang der 80er begonnene Rationalisierungsphase mit ihrer erneuten Ausweitung der Massenproduktion hat zudem zu weltweiten Überhängen bei strategisch wichtigen Gütern wie z.B. Autos und damit zu Absatzschwierigkeiten geführt, welche Investitionen in die Ausweitung der Produktion zusätzlich unprofitabel machen. Ablesbar ist diese Tendenz v.a. am Phänomen des gigantisch wachsenden liquiden Kapitals: Allein 800 Mrd. DM 1992 in Deutschland, die nicht real investiert werden, sondern als spekulatives Kapital in hochmobiler Form weltweit auf produktive Anlagesphären drängen.

Die Lösungsstrategien der Multinationalen Konzerne bestehen vor dem Hintergrund dieser Entwicklung deshalb weniger in einer weiteren Steigerung der Wertzusammensetzung der Unternehmen durch Rationalisierungsmaßnahmen (Ersatz lebendiger Arbeit durch Maschinen), sondern in:

Deshalb werden u.a. Flächentarife aufgelöst, Sondertarife eingeführt und die Arbeitszeitorganisation auf die Betriebsebene verlegt (Arbeitszeitkorridore).

Folge dieser "Verflüssigung der Arbeit" (K.-H. Roth) bis in die untersten Segmente der Beschäftigungspyramide und in die "industrielle Reservearmee" und "überflüssige Bevölkerung" hinein ist aber nicht eine statische Spaltung (Zweidrittel-Gesellschaft/Strukturelle Massenarbeitslosigkeit), sondern eine Aufsplitterung in viele Arbeitsmärkte mit unterschiedlichsten Arbeitsbedingungen und eine allgemeine Deregulierung: unsichere Arbeitsplätze, keine "Normal"arbeitszeiten, Lohnsenkungen, brüchige Garantien für die Risiken bei Krankheit, Invalidität und Alter.

In dieser Situation wird von nahezu allen gesellschaftlichen Kräfte gepredigt: "Arbeit, Arbeit, Arbeit!" Millionenfach zusätzliche Beschäftigung soll geschaffen werden, ohne Rücksicht auf Inhalte, Qualität und ökologische Folgen von noch mehr Arbeit! Dieser gesellschaftliche Konsens muß angegriffen werden, weil er die Lösungsstrategien der multinationalen Konzerne unterstützt: "Arbeit, Arbeit, Arbeit!" meint nichts anderes als die Ausweitung von prekärer, nichtexistenzsichernder Beschäftigung in den Randsektoren von Produktion und Dienstleistung, als Risiko-Selbständige und mit billigen "Serviceangeboten" (für eine schrumpfende Schicht von vollzeitknüppelnden "Besserverdienern", die ihr Leben, ihren Konsum, Urlaub und Kindererziehung schon gar nicht mehr ohne solchen "Service" organisieren können). "Mehr Beschäftigung" meint eine Ausweitung der Markt- und Ware-Geld-Beziehung noch in die letzten Nischen des Lebens.

Daß die Gewerkschaften jetzt wieder auf prozentuale Lohnerhöhungen setzen, statt den ökonomischen Spielraum für den Einstieg in eine radikale Arbeitszeitverkürzung zu nutzen, deutet darauf hin, daß sie in der Hoffnung auf "sichere Kernbelegschaften" die Perspektive einer gesamtgesellschaftlichen Veränderung von Arbeits- und Einkommensverhältnissen geopfert haben. Sollte die Umstrukturierung des gesamten Arbeitsmarktes in Deutschland ähnlich radikale Formen annehmen wie bereits in einigen anderen industrialisierten Staaten, werden sie mit dieser Politik als Betriebsgemeinschaften untergehen. Leider liegt auch der Aktionsaufruf der Erwerbsloseninitiativen zum Weltspartag, wie er von der Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Inis veröffentlicht wurde, genau auf dieser Mainstream-Linie von "Ausweitung der Beschäftigung".

2. Die staatliche Ebene

Sozialhilfe, Nebeneinkommen, Schwarzarbeit und Kriminalität sichern bislang - trotz aller Kürzungen - die Einkommen am unteren Rand der Beschäftigungspyramide. Die Deregulierungspolitik der 80er Jahre konnte bis heute Arbeitsverhältnisse mit Löhnen unter der Höhe der Sozialeinkommen nicht massenhaft durchsetzen. Zudem gerät eine wachsende Schicht der Armutsbevölkerung außer Kontrolle: ökonomisch durch Schwarzarbeit, Kriminalität, Drogen; sozial durch Individualisierung, Gettoisierung, aber auch informelle gesellschaftliche Substrukturen, moralische Ökonomie und gegenseitige Hilfe.

Gegen diese "Abhängigkeitsfalle" - durch das vorhandene Sozial- und Steuersystem bringt eine zusätzliche Arbeitsaufnahme keine nennenswerte Steigerung des Nettoeinkommens -, wie sie mittlerweile in internationalen Untersuchungen und Programmen einheitlich genannt wird, soll deshalb ebenso einheitlich vorgegangen werden:

"Lieber Arbeit finanzieren als Arbeitslosigkeit" - Arbeit um jeden Preis?

Die Programme staatlicher Arbeitsmarktpolitik und zur "Ausweitung der Beschäftigung" (v.a. im Osten Deutschlands mit breiter Beteiligung von Kirchen und Gewerkschaften, finanziert hauptsächlich auf Kosten der Sozialversicherungen, deren leere Kassen dann wiederum für Kürzungen im Westen herhalten mußten) haben in der Vergangenheit, gewollt oder ungewollt, Einfallstore zur Deregulierung der gesamten Arbeitsverhältnisse geschaffen: seien es Beschäftigungsfirmen, AB-Maßnahmen, § 249h AFG oder BSHG § 19-Stellen - überall wurden Tarife unterlaufen, schlechtere Extra-Tarife geschaffen und Arbeits(zeit)bedingungen verschärft. Fast nahtlos finden diese Sonderbedingungen mittlerweile Eingang in die "offiziellen" Tarifverhandlungen und Arbeitskämpfe der Einzelgewerkschaften: Sondereinstiegstarife für Arbeitslose, betriebsinterne Arbeitszeitregelungen mit beträchtlichen Mehrarbeitszeiten, Lohnverzicht für Maßnahmen der "Beschäftigungssicherung" usw.

Während die alte Regierung den neoliberalen Abbau der öffentlichen Beschäftigungsfinanzierung forcierte, die prekären Elemente künstlicher Beschäftigung aber auf die Umstrukturierung des gesamten Arbeitsmarktes übertrug, verkündete die ehemalige Opposition nach wie vor einmütig die Parole "Lieber Arbeit finanzieren als Arbeitslosigkeit": ökosoziales Jahr, staatlich regulierte Arbeitsmärkte, öffentlich geförderte Beschäftigung - egal was und unter welchen Bedingungen, Hauptsache (zusätzliche) Arbeit wird geschaffen!

Die sozialdemokratischen, gewerkschaftlichen und kirchlichen Programme, die weiterhin auf die "Ausweitung der Beschäftigung" setzen, sind aber nicht nur vom Standpunkt der Abwehr jeglicher weiterer Deregulierung der Arbeitsverhältnisse und einer radikalen Arbeitszeitverkürzung, sondern auch in ihrer Arbeitsideologie zu kritisieren: Sie verweigern den Erwerbslosen eine von der Arbeitspflicht entkoppelte Grundsicherung, indem sie stattdessen die Ausweitung der Beschäftigung propagieren, obwohl sie wissen, daß es in den nächsten Jahrzehnten keine existenzsichernde Arbeit für alle geben wird. Je klarer ist, daß die Marktwirtschaft auf absehbare Zeit nicht genügend sichere Arbeitsverhältnisse schaffen kann, desto ausschließlicher wird Arbeit als einzige gesellschaftlich anerkannte Einkommensquelle festgeklopft, und der Druck auf Erwerbslose wird umso höher, je geringer die Chancen auf gesicherte Arbeitsplätze sind - "Arbeit um jeden Preis"!

Dem alten Regierungskonzept, durch weiteren Sozialabbau (angekündigt war: die Kürzung der Sozialhilfe, Befristung der Arbeitslosenhilfe, etc.) die "Abhängigkeitsfalle" auszuhebeln, den Druck in prekäre Arbeitsverhältnisse zu erhöhen und wo nötig mit Zwangsmaßnahmen ("Gemeinschaftsarbeiten", Sozialhilfe-Zwangsarbeit) nachzuhelfen, steht das Programm der neuen Regierung zur Ausweitung öffentlich finanzierter Beschäftigung entgegen, das jedoch in einigen Ausprägungen eine gefährliche Nähe zu erzwungener Arbeit annimmt (ökosoziales Pflichtjahr).

Beide Modelle ergänzen sich zu dem in allen OECD-Ländern von höchster Stelle empfohlenen neuen Umgang mit Massenarbeitslosigkeit und Armut: Wir sollen nicht mehr nur einfach unserem arbeitslosen Schicksal überlassen werden, womöglich "in Ruhe" unser arbeitsloses Einkommen abziehen und, was wir sonst noch brauchen, über gegenseitige Hilfe und Schwarzarbeit uns organisieren, sondern die gesamte Armutsbevölkerung soll nicht etwa über Arbeitszeitverkürzung und Umverteilung, sondern über ökonomischen Druck und staatliche Maßnahmen in die neuzuschaffenden Sektoren billiger, prekärer und nichtexistenzsichernder Arbeit mobilisiert werden. Schließlich: Weil es "Arbeit für alle" sowieso nicht geben wird, liegt die (beabsichtigte) Wirkung der diversen "Umbaukonzepte" darin, von unten Druck auf das gesamte Lohnsystem zu machen.

3. Die gesellschaftliche Ebene

Im Vergleich zur alten "Zweidrittel-These" ist eine Dynamisierung der Verhältnisse prognostiziert: Von entgarantierten und ungesicherten Arbeitsverhältnissen werden immer mehr Beschäftigte betroffen sein. Aber die gesellschaftliche Macht über den öffentlichen Diskurs bleibt bei einer gesicherten Minderheit und ihren gleichgeschalteten Medien. Die Frage der Solidarität stellt sich aus der Perspektive einer hegemonialen Minderheit als Frage der "Solidarität von oben". Es wird so getan, als ob nicht unsere Solidarität strapaziert wird gegenüber den Gewinnern und Opportunisten, sondern die "Solidarität" der "Besserverdiener", weil sie für uns bezahlen müssen.

Das heißt aber, auch wenn sich die Proletarisierungstendenzen auf den gesamten Arbeitsmarkt ausdehnen und materiell neue Mehrheitsverhältnisse schaffen, werden selbst weniger radikale Reformprojekte als unsere Existenzgeldforderung vorerst Minderheitenprojekte bleiben. Der Aufbau einer Abwehrlinie gegen die weiteren geplanten Angriffe auf unsere Einkommen steht wohl eher auf der Tagesordnung.

Neue Bedingungen - neue Forderungen

Die Existenzgeldforderung allein als Geldforderung, ohne Eingriff in die Arbeitszeitdebatte, geht mit ihrer tendenziell geld- und staatsfixierten Konsumorientierung an den aktuellen Widersprüchen bei der Umstrukturierung von Arbeit und Einkommen vorbei. Wir schlagen vor, dagegen das Thema der radikalen Arbeitszeitverkürzung und der Ausweitung prekärer Beschäftigung in den Vordergrund unserer Forderungen zu stellen:

Arbeitszeitverkürzung und Existenzsicherung in Form eines solchen Forderungskatalogs ist ein reformistisches Projekt - wir meinen es aber nicht als direkt umsetzbares Modellangebot, sondern als provokative Intervention in das oppositionelle und gewerkschaftlich Lager hinein, über die Konsequenzen gegen das marktwirtschaftliche System insgesamt zu diskutieren, die sich aus dem Anspruch an eine vernünftige gesellschaftliche Gestaltung von Arbeit und Einkommen ergeben.

Diskutiert werden muß die Finanzierung von radikaler Arbeitszeitverkürzung durch Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums als ein bewußter und gewollter Standortnachteil gegen den zerstörerischen Wahn der Weltmarktkonkurrenz!

Diskutiert werden muß auch die Frage des Lohnverzichts bei Arbeitszeitverkürzung auf einer Ebene global gerechter Verhältnisse der einzelnen Gesellschaften untereinander; dies ist - von unten betrachtet - auch eine Frage der Egalisierung von Einkommen gegen Spaltung und Ausgrenzung. Kein Nettoeinkommen über 5.000 DM: mehr kann niemand arbeiten, höher kann niemand qualifiziert sein, mehr sollte niemand konsumieren!

Perspektivenwechsel

Aber wir müssen auch unsere eigene nahezu ausschließliche Orientierung auf Geld und Einkommen zugunsten einer effektiven Aneignung von Fähigkeiten und Ausbildung (auch als individuelle Zukunftsperspektive) revidieren. D.h., daß zur Ebene der öffentlich-programmatischen Kritik an staatlicher Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik eine kollektiv wie individuell praktisch mögliche Aneignungshaltung kommen muß. Vielleicht läßt sie sich folgendermaßen gegenüber jeglicher selbst gewollter oder von außen oktroyierter Veränderung von Lebensphasen ausdrücken und in kollektive Kampfmaßnahmen umsetzen:

Es gilt, der Medien- und Ämterhetze gegen "Sozialschmarotzer" und dem Druck in "Arbeit um jeden Preis" wieder ein selbstbewußtes Anspruchsdenken entgegenzusetzen. Wir müssen wieder laut und öffentlich die phantasievolle Ausschöpfung aller Sozialleistungen und ergänzender Einkommensquellen wie Schwarzarbeit und gegenseitiger Hilfe propagieren und gleichzeitig an jede Arbeit und Qualifikation den Anspruch stellen, unsere Bedürfnisse für ein gutes Leben zu erfüllen!

Was können wir tun?

Unsere Aufgabe ist also, aus der Minderheitenposition heraus eine Opposition auf zweierlei Ebenen aufzubauen: Erstens brauchen wir eine praktisch-theoretische Untersuchungsarbeit über die Umstrukturierungsprozesse auf dem Arbeitsmarkt und die Formen ihrer subjektiven Aneignung - als Selbstaufklärung und diskursiven Prozeß der Bündnisarbeit mit anderen betroffenen Gruppen. Zweitens brauchen wir einen Perspektivenwechsel (s.o.) in unserer praktischen Organisationsarbeit, der uns mit pragmatischeren Aneignungsforderungen (neben denen nach Existenzgeld und Arbeitszeitverkürzung) wieder direkter in die Ämter, die Betriebe, die Schulen und Ausbildungsstätten bringt und Selbstorganisationsprozesse der Betroffenen vorantreiben hilft.

Jede Initiative kann über Auswertungen statistischen Materials, Befragungen in der Beratung, in Ämtern und Betrieben, mit Interviews und eigenen Recherchen und v.a. in Zusammenarbeit mit kritischen Gewerkschaftern, Kirchengruppen und anderen Initiativen die Umstrukturierungsprozesse auf dem lokalen Arbeitsmarkt analysieren, auswerten und öffentlich sowie mit Betroffenen diskutieren. Jede Initiative kann mit unseren Forderungen, eigenen Flugblättern, Plakatserien, Zeitungsverkauf und Veranstaltungswerbung in die Ämter, Betriebe und Schulen gehen, um mit Betroffenen über "Arbeit und Bedürfnisse" und die ganz pragmatischen Forderungen für die nächsten Wochen und Monate zu diskutieren. Ziel sollte sein, über verstärkt praktische Aneignungskämpfe für die Verbesserung des Alltags und gleichzeitiger öffentlich forcierter Debatte um Fragen der Arbeitszeitverkürzung und Einkommenssicherung in eine gesellschaftliche Offensive für eine radikale Umorganisation von Arbeit und Bedürfnissen zu kommen.