Internationales

Biß bis zum letzten Zahn

Im alten wie im neuen Hongkong ist kein Platz für die Armen.

Mongkok, Hongkongs quirrliges Armeleute-Viertel. Auf den Straßen dichtes Gedränge, die Luft erfüllt vom Dröhnen der Busse und LKWs. Kleine Läden aller Art, jeder Quadratzentimeter ausgenutzt, dazwischen größere Kaufhäuser. Ein wenig Glitzer zwischen schmutzigen Fassaden. In Seitenstraßen und auf den Bürgersteigen Marktstände mit Gemüse und Textilien.

Das Haus unterscheidet sich nicht von den anderen der Nachbarschaft. Der blätternde Anstrich läßt seine einstige Farbe unter Schichten von verwaschenem Straßenstaub kaum noch erahnen. Blinde Fenster gucken aus zehn Stockwerken auf den Besucher herab. Nichts verrät dem Unkundigen, daß hier die Ärmsten der Armen wohnen. Noch gedrängter als ohnehin üblich in der ostasiatischen Metropole. Wir stehen vor einem der sog. Käfighäuser.

"Diese Seite Hongkongs mußt Du gesehen haben", hatte Ee Hong gemeint. Wir treffen uns also an der nahegelegenen U-Bahnstation. Ein grauer Tag. Nieselregen bildet auf Straßen und Wegen eine schwarze Schmiere. Winter in Hongkong. Das Thermometer ist auf 12 Grad gefallen.

Über steile Treppen geht es in den zweiten Stock hinauf. Tsang Ka Wai, die uns führt, klingelt. Seit sechs Jahren arbeitet sie für SOCO, eine Organisation, die sich für die Bewohner der Käfighäuser einsetzt. Drei alte Frauen begrüßen uns freundlich. "Kung Hei Fat Choi, alles Gute und Wohlstand im neuen Jahr." Es ist Anfang Februar, vor einigen Tagen hat nach dem chinesischen Kalender das Jahr des Tigers begonnen. Ka Wai ist häufig hier. Die Alten haben sie ins Herz geschlossen.

Ein Schritt aus dem Treppenhaus, und wir sind im einzigen Raum der Unterkunft. 70 Quadratmeter, die sich 10 Menschen teilen. Vor nicht allzu langer Zeit waren es gar 40. Jetzt steht ein Teil der "Käfige" leer. Der mit Wellblech verkleidete Balkon dient als "Küche" und "Bad". In einer Ecke ragt in Kopfhöhe ein Wasserrohr aus der Wand: die Dusche. Daneben in einem Verschlag die Toilette.

"Die Käfige": Mit rostigem Drahtgitter umgebene Etagenbetten. Drei übereinander. Dünne Matratzen auf Brettern, ein am Gitter befestigtes Bord und einige Haken für die spärlichen Habseligkeiten: Das ist das Reich der Käfighaus-Bewohner. Die Betten stehen in dichten Reihen. Die nackten Wände des Raums haben ihren letzten Anstrich vor 30 oder mehr Jahren bekommen. Der Boden ausgelegt mit zerfetztem PVC, notdürftig geflickt.

Die anderen "Wohnungen" im Haus sehen ähnlich aus. Insgesamt 10.000 Menschen leben in Hongkong in solchen Verhältnissen.

Gleich neben der Tür an der Wand der einzige Tisch im Raum. Wir setzen uns im Halbkreis. Ein kalter Luftzug geht von den einfachen Fenstern zur Tür und zur Balkon-Küche. Nach kurzer Zeit sind wir trotz dicker Winterkleidung gründlich durchgefroren. Madame Wong klagt über die Kälte.

Seit zwei Jahren wohnt sie hier, kam, als ihr Mann starb. Rente gibt es keine, stattdessen 2.500 Honkong-Dollar (ca. 600 DM) Sozialhilfe. Hongkongs lupenreiner Kapitalismus kennt keine öffentliche Altersversorgung. 800 $ gehen für Miete drauf. Der Rest reicht bei einem fast mittleuropäischem Preisniveau kaum zum Überleben. Wie viele andere hat sie daher ein kleines Straßengewerbe, verkauft Krimskrams.

Das Gespräch ist lebhaft. Ee Hong übersetzt dem Kweilo, dem fremden Teufel, wie die Chinesen die Europäer nennen. Die Frauen lachen. Mit bitterem Humor erzählen sie von den Ratten, die sie plagen. Im letzten Jahr haben sie an einem Tag dreißig Stück gefangen. Gelegentlich kommt es vor, daß sie von ihnen im Schlaf gebissen werden.

1994 und 1996 hat SOCO die Käfig-Häuser vor die Vereinten Nationen gebracht. Ein UN-Menschenrechts-Hearing stellte fest, daß diese Form der Unterbringung gegen die Menschenrechte verstößt. Die Hongkonger Regierung wurde aufgefordert, für menschenwürdige Wohnungen zu sorgen.

Doch getan hat sich seitdem nichts, auch nicht nach der Übernahme durch Cina im Juli letzten Jahres. Tung Chee Hwa, gescheiterter Wirtschaftsboss und Chef-Administrator von Pekings Gnaden ließ erst kürzlich verlauten, daß es in Hongkong einen Bedarf an diesen "billigen und praktischen" Wohnungen gibt. Schließlich sei die Stadt eine freie Marktwirtschaft ...

Die von Frauen wie Madame Lieung aufgebaut wurde: Schon mit dreizehn arbeitete sie in einer Spinnerei. Vierzehn Stunden am Tag. Zum Heiraten, zum Aufbau einer Familie blieb da keine Zeit. Jetzt ist sie achtzig und hat niemanden, der sie unterstützen könnte. Irgendwo in einem Dorf in China gibt es wohl noch entfernte Verwandte. Aber die Scham hält sie davon ab, dorthin zurückzugehen. In China gehören die Bauern zu den Ärmsten.

"Diese Frauen haben die Textilindustrie aufgebaut, die Grundlage für Hongkongs Wirtschaftswunder", empört sich Ee Hong. "Später wurden sie einfach auf die Straße gesetzt, als es in Chinas Sonderwirtschaftszonen noch billigere Arbeitskräfte gab." Madame Lieung ist kein Einzelfall. Viele dieser Frauen blieben ledig und stehen heute ohne jede Versorgung da.

Andere, wie Chan Yin, haben ihre Familie im japanischen Krieg verloren. Die Männer als Soldaten gefallen, die Kinder massakriert. Madame Chans einziger Sohn starb in einem medizinischen Experiment. Japanische Ärzte injizierten ihm Bakterien. In den 50ern floh sie vor einer Hungersnot aus der jungen Volksrepublik in die britische Kolonie.

Heute ist es die Hoffnung auf eine Zukunft in Wohlstand, die immer noch Menschen nach Hongkong treibt. 150 Personen pro Tag läßt Peking einreisen. Mancher davon landet in den Käfighäusern. Die sind für einfache Arbeiter oftmals die einzigen erschwinglichen Wohnungen in zentraler Lage. Der Arbeitstag ist lang, eine billige Wohnung in den Außenbezirken kommt daher nicht in Frage.

So entsteht neben den Alten eine neue Klasse der armen Neueinwanderer, auf die der Hongkonger mit der universellen Arroganz des Wohlstands-Chauvinisten herabblickt. Ganze Familien landen in Tungs "praktischen" Käfigen, bezahlen 400 DM im Monat für vier Betten, teilen sich manchmal einen Raum und eine Toilette mit 80 Menschen.

Wie verkraftet Ka Wai all das Elend, mit dem sie täglich konfrontiert wird? "Vor allem die ledigen Männer verzweifeln. Viele sprechen von Selbstmord. Aber von diesen Frauen hier kann man noch lernen. Die geben niemals auf." Und wann immer es auf die Straße geht, sind sie dabei. Ob für die Rechte der Käfighausbewohner oder wenn Chinas neue Stadtverwaltung Gewerkschaftsrechte abschafft. Madame Wong zeigt lachend ihre Zahnlücken: Biß bis zum letzten Zahn.

(wop)