Transsexuelle

Mogelpackung: Repression statt Hilfe!

Kritische Bemerkungen zu den deutschen Behandlungsstandards für Transsexuelle

"Nach der Definition von Medizinern bedeutet Transsexualität eine schwere Persönlichkeitsstörung. Als mir dies bewußt wurde, hatte ich auch einige Zeit daran zu knabbern." Diese Zeilen stammen aus dem VIVATISSIMUS (4/97, S.9), dem Magazin der Münchner Selbsthilfeorganisation (SHO) VIVA; Petras Zeilen verdeutlichen, daß die Hilfsangebote (nicht nur bei mir) auf Vorbehalte stoßen. Warum?

Deutsche "Standards": Hinter verschlossenen Türen entstanden

Hilfe darf nicht bedeuten, Illusionen nachzubeten und den Wünschen nachzugeben; Hilfe muß zur (Selbst-) Kritik herausfordern, doch das bedarf eines Klimas des Vertrauens bei sämtlichen Beteiligten: bei den SHOs und den Ärzten, wie auch unter den Betroffenen selbst. Leider vergiftet ein leise schwelendes Mißtrauen die Atmosphäre und provoziert feindselige Polemiken von beiden Seiten der Schützengräben.

Dieser Artikel legt dar, wie Mediziner ihre Argumente ordnen, und untersucht, welche Konsequenzen das für transsexuelle Menschen hat. Die Broschüre "Transsexualism: The Current Medical Viewpoint" der britischen SHO Press For Change, verfaßt von Dr. Russell Reid, dient als Kontrastfolie; eine überarbeitete Fassung der 1996 erschienenen Broschüre, die von einem anglo-amerikanisch-niederländischen Team (darunter internationale Koryphäen wie Prof. Louis Gooren und Prof. John Money) erarbeitet wurde, soll demnächst erscheinen.

Seit 1979 gibt es in den USA eine Richtlinie zur medizinischen Behandlung für Transsexuelle: die "Standards of Care: The Hormonal and Surgical Sex Reassignment of Gender Dysphoric Persons", das letzte Mal 1990 überarbeitet. Informell wurde das hier vorgegebene Modell seitdem auch in Deutschland praktiziert, soweit das möglich war. Denn einige (v.a. akademische) Strukturen ließen sich nur mit Einschränkungen übertragen, z.B. wird auf Berufsbilder verwiesen, die in der BRD nicht praktiziert werden.

Von 1994 bis 1996 tagte eine 12-köpfige Kommission, die drei sexualmedizinische Gesellschaften repräsentierte, unter der Leitung von Sophinette Becker mit dem Ziel, deutsche "Standards der Behandlung und Begutachtung von Transsexuellen" (so der Titel) zu entwickeln. Transsexuelle Menschen wirkten weder als Einzelpersonen noch indirekt durch SHOs an den "Standards" mit; erst im Frühjahr 1996 wurde das fertige Verfahren Betroffenen auf einem Kongreß vorgestellt und seitdem mindestens zweimal veröffentlicht - frei nach dem Motto: Vogel, friß ...!

Deutsche "Standards" im Vergleich: Der "Elchtest"!

Die "Standards" reklamieren für sich das Ziel, Richtlinie zur "Diagnostik und Differentialdiagnostik" zu sein. Zu Recht wird darauf verwiesen, daß "Transsexualität" als "Lösungsschablone für verschiedenartige Probleme der Identität und/oder Geschlechtsidentität" naiv mißdeutet werden kann. Dieses Problem wird verallgemeinert, so daß Aussagen und Selbstdiagnosen erst einmal kategorisch entwertet werden und die bzw. der Betroffene dem Arzt rechtlos ausgeliefert ist. Der Betroffene wird so zwischen den Zeilen zum Gegner, der Leistungen beanspruchen will, für die der Arzt einzig und allein Autorität beansprucht. In ihrer formalen Stringenz und Dichte entsprechen die "Standards" einer Lösungsschablone, der der Charakter einer Checkliste anhaftet. Im Gegensatz dazu setzen Reid et al. bei den sozialen Randbedingungen des Einzelfalles an, die als Lebensqualität nach Möglichkeit verbessert werden sollen. Hier werden die Betroffenen zu Partnern - letztlich ist es ja ihr Leben -, die in den Prozeß eingreifen können und nicht zur Passivität verdammt werden.

Zwischen der Diagnose "Transsexualität" und dem Umgang mit diesem Teil des Lebens (Stichwort: Coping) wird in den "Standards" nicht unterschieden, stattdessen taucht der Begriff "Alltagstest" auf. In einer bestimmten Phase versuchen die Betroffenen, sich in ihre ersehnte Rolle einzuleben und sich teilweise ohne medizinische Hilfe auszutesten (von mir als ACTING-OUT bezeichnet); Bekanntschaften, z.T. durch SHOs zustandegekommen, können hier das Selbstbewußtsein stärken und das soziale Echo gegenüber Äußerlichkeiten wie Hormonen und OPs aufwerten. Wenn das ACTING-OUT durch einen Mediziner geleitet und/oder kontrolliert wird, fällt die Vokabel "Alltagstest", die in den "Standards" nicht definiert ist und gummiartig ausgelegt werden kann: Hierbei droht die Gefahr, daß die selbständig erreichte soziale Anpassung entwertet wird, womit in der Konsequenz ein mindestens einjähriger Leerlauf (wofür?) heraufbeschworen wird - Menschen verzweifeln schon aus weitaus geringeren Gründen!

Das Coping bzw. ACTING-OUT ersetzt die Diagnose; dabei wird übersehen, daß mensch zwar transsexuell sein kann, aus bestimmten Gründen (Bluter-Krankheit, HIV-Infektion, Herzkrankheiten oder sozialen Gründen) aber auf medizinische Eingriffe verzichtet. In den "Standards" kommen diese Menschen nicht vor; zudem wird der Verzicht zur Diagnose "nicht transsexuell" verdreht, eben weil sie keine medizinischen Maßnahmen mehr anstreben.

Während SHOs in den "Standards" totgeschwiegen werden, droht den Betroffenen eine mindestens anderthalbjährige Zwangstherapie: eine höchst fragwürdige Struktur; zumal in den amerikanischen "Standards" auf ein Berufsbild ohne deutsches Pendant verwiesen wird. Die deutsche Version löst das Problem nicht, sondern verschiebt es auf sprachlicher Ebene: Da ist von "entsprechender Ausbildung" und einem "mit den Problemen der Transsexualität auf dem aktuellen Kenntnisstand" die Rede. Von wem diese Kompetenzen verliehen werden, worin diese Kompetenzen überhaupt bestehen, darüber schweigen sich die "Standards" beredt aus. In der englischen Broschüre hingegen wird ein Profil sozialer Kompetenzen deutlich, die zu Grundvoraussetzungen medizinischen Handelns werden, um Lösungen MIT den Betroffenen zusammen zu entwickeln.

Nach einem Tabula-rasa-Prinzip radieren die "Standards" die Persönlichkeit der Betroffenen aus und degradieren sie zum Patientengut, zu menschlichem Forschungsmaterial. Nach den gegenwärtig möglichen Methoden wird hier ein gläserner Patient entworfen, ohne auch nur im Ansatz zu klären, wie die so gewonnenen Daten ausgewertet werden sollen. Da wird z.B. auf "Minderbegabungen" (Wie intelligent muß mensch sein, um transexuell sein zu dürfen?) und "hirnorganische Schäden" mit dem Freibrief, den Schädel zu röntgen bzw. zu tomographieren, hingewiesen. Am Nutzen dieser aufwendigen Materialschlacht, die sich geschickt von gewissenlosen Ärzten als legale Gelddruckmaschine auslegen läßt, zweifle ich. Weil die Betroffenen die finanziellen Angelegenheiten mit Gerichten und Kassen laut "Standards" entweder selbst klären müssen oder gleich direkt blechen, liest sich das Papier wie eine Beschreibung zur Wegelagerei, zur Ausnutzung von Abhängigen.

In der "klinisch-psychiatrischen-psychologischen Diagnostik" wird zwar ausdrücklich auf "psychotische Erkrankungen", "neurotische Dispositionen bzw. Konflikte" sowie "suizidale Tendenzen und selbstschädigendes Verhalten" hingewiesen; inwieweit die abgeblockte Hilfe, die entmündigende und entwürdigende Lage solche Zustände erst provoziert, wird nicht reflektiert. Schuldig sind immer nur die Betroffenen, und wenn sie auf der Strecke bleiben, waren sie nicht transsexuell. Basta! So einfach machen sich Becker et al. das.

Zwar kann der Arzt ein anderes Vorgehen als in den "Standards" in der "Patientenakte" vermerken; es besteht jedoch keine Pflicht zur Information. Gerade weil sich mit der "Fremdanamnese", also der Befragung von Eltern, Freunden, Nachbarn usw. des Betroffenen, ein erheblicher Freiraum öffnet, fremdes Leben als graue Eminenz zu manipulieren, halte ich diesen Mangel für lebensgefährdend. So sollte zumindest berücksichtigt werden, daß Transsexuelle bei Einstellungsgesprächen ihr biologisches Geschlecht nicht ungefragt offenbaren müssen (Urteil des BAG vom 21.02.1991, in NJW 1991 S. 2723 bzw. NZA 1991 S. 719); aber wer kann einen neugierigen Arzt hindern, in der Privatsphäre der Betroffenen zu wildern? Der Möglichkeit, daß jemand das Krankheitsbild einer Paranoia inszeniert, wurde nicht Rechnung getragen. Reid et al. hingegen nehmen Rücksicht auf die erreichte Lebensqualität, sie wird zur Grundlage eines partnerschaftlichen Prozesses und darf nicht beschädigt werden.

Reid et al. weisen auf rechtliche Lücken hin, die die soziale Lage z.B. im sog. "Alltagstest" gefährden, während Becker et al. das geltende Recht großzügig nach ihren eigenen Interessen deuten. Ein gesetzlich verankerter Rechtschutz gegen Mißbrauch der "Standards", der im Interesse der weißen Schafe sein müßte, fehlt. Daß Menschen bestimmte Bereiche ihres Lebens als privat und intim schützen, wird ignoriert; wer gegen Maßnahmen Einspruch erhebt oder sein Veto formuliert, stört den starren Fahrplan und wird u.U. nicht mehr behandelt. Schluß.

Im Ausblick: "Internationale Standards"

Die smarte A-Klasse der "Standards" fällt mit Pauken und Trompeten durch den "Elchtest"! Das Papier erweist sich als tumber Totengräber einer unsinnigen Fehde; neben den verhärteten Gräben wird so in den Köpfen eine Mauer errichtet, die keineswegs im Interesse der Betroffenen ist (wie behauptet). Sie sind zu starr, zu unflexibel, zu formal und zu unvollständig, weil sie auf einer Zirkelschlußlogik beruhen: Nur wer die "Stiftung Standardtest" bestanden hat, wird als transsexuell anerkannt; aber nur für diejenigen, die als transsexuell anerkannt werden, gelten die "Standards". Vor diesem Hintergrund wird die Wissenschaftlichkeit der Forschung fragwürdig, ihre Ergebnisse nutzlos und überflüssig. Giorgio Celli bezeichnet solche Forscher, die die Welt nach wie intelligenten Hypothesen und Theorien auch immer hinbiegen und sich nicht mehr irren können, in seinem Buch "Lügen, Falter und Fossilien" (München 1992) als "weißbekittelte Pinocchios".

Für August 1998 stehen "Internationale Standards" zur Debatte. Bleibt zu hoffen, daß in ihnen die von Reid et al. entwickelten Ansätze mit der Betonung der Lebensqualität der Betroffenen breite Resonanz finden.

(Britta Madeleine, TS-AK)