Anti-AKW

Ahauser Umschlag

Wie die Castor-Transporte die Konjunktur einer münsterländischen Kleinstadt beleben können

Mittwoch, 18. März:

Während die norddeutsche Anti-AKW-Bewegung und mithin auch wir von der KIGA den Castor-Transport ins westfälische Ahaus am Mittwoch kommender Woche erwarten und daher auf eine Auftaktkundgebung am Samstag eingerichtet sind, melden verschiedene Nachrichtensendungen, daß der Transport möglicherweise schon morgen aus Neckarwestheim starten soll. Voller Panik erkundigen wir uns in Ahaus bei der Bürgerinitiative. Dort ist die Einschätzung noch gespalten, denn in Walheim und Neckarwestheim sind keine Aktivitäten beobachtet worden. Aber die Polizei in Baden-Württemberg hat die Meldung bestätigt. Die Einsatzkräfte des grünen Polizeipräsidenten Wimber (Münster) sind hingegen von dieser Meldung offensichtlich genauso überrascht wie wir.

 

 Donnerstag, 19. März:

Nach einigen Anrufen und Nachrichtensendungen steht fest: Die Meldung von gestern ist keine Ente, der Castor-Transport hat begonnen. Zunächst treffen aus dem bayerischen Gundremmingen drei Castorbehälter im Kohlekraftwerk Walheim ein. Drei weitere aus dem nahen AKW Neckarwestheim müssen noch über ein kleines Straßenstück herantransportiert werden, wobei es vielversprechende Probleme gibt: Aktivisten haben die Straße unterhöhlt und sich in dem Tunnel angekettet. Einige hundert Demonstranten blockieren eine Weile das Tor des AKW. Insgeheim hoffen wir, daß sich der Coup der Atomtransporteure nicht zu ihrem Vorteil entwickelt. Denn statt mitten in der Woche dem Widerstand vieler, besonders auswärtiger, Berufstätiger entgangen zu sein, laufen sie jetzt bei auch nur halbtägiger Verzögerung Gefahr, mit dem Zug auf offener Strecke ins Wochenende zu geraten. Auf der anderen Seite merken wir bei Rundrufen schon, daß viele nicht so schnell umdisponieren können oder wollen, daß manche Aktionen wegen mangelnder Vorbereitung vielleicht nicht mehr stattfinden können.

Ein spärlicher Rest macht sich am Abend auf den Weg ins Münsterland. Die letzten 40 km sind Bundesstraße, und wenn wir an die Ereignisse des letzten Castor-Transports vor einem Jahr nach Gorleben zurückdenken, glauben wir, mit einem gewissen Recht erwarten zu können, daß man schon im weiteren Umland eine Ahnung von den Ereignissen erhält, vielleicht durch Transparente, große X'e, bemalte Straßen, Ortsschilder, Bäume oder wenigstens eine polizeiliche Straßensperre. Darin werden wir aber gewaltig enttäuscht. Nicht daß wir nun unbedingt durchsucht werden wollen, aber nun so gar nicht beachtet zu werden, das schmerzt. Propaganda gegen den Castor gibt es bis 3 km vor dem Brennelemente-Zwischenlager (BZA) überhaupt nicht, Polizeifahrzeuge treten nur vereinzelt auf, und eine Massenbewegung in Richtung Ahaus überflutet auch nicht gerade die Straße. Eigentlich ist es gespenstisch leer.

Kurz vor dem Ortsschild Ahaus treffen wir auf die Abzweigung ins Industriegebiet, wo sich auch das BZA befindet. Hier steht eine einfache Straßenbarriere mit "Durchfahrt verboten"-Schild, die von ein paar Uniformierten bewacht wird. Demonstranten befinden sich hier keine. In Ahaus selbst laufen weniger Menschen auf der Straße herum als um dieselbe Zeit in der Kieler Bergstraße, außerdem fehlt die dazugehörige Neonreklame und Geräuschkulisse. Am Bahnhof gibt es nun endlich BGS und Polizei, und am Bahnübergang Schorlemmerstraße nimmt man insofern Notiz von uns, daß wir hier nur nach rechts abbiegen dürfen und nicht mehr zum Bahnhof zurück ­ eine sinnlose Aktion, da zahlreiche Nebenstraßen und Fußpfade nicht abgeriegelt sind. Irgendwelche Ordner der örtlichen Atomkraftgegner, die man vielleicht nach dem Weg oder Infos fragen könnte, gibt es nicht. Ein Mensch mit einem Handy ist zwar sehr beschäftigt mit Telefonieren, kann uns aber leider keine Informationen geben und tut so ­ nachts um 24 Uhr ­ , als könnten wir auch zum Einkaufsbummel hier sein. Immerhin gibt er uns schließlich doch den Tip, uns an das Büro der "BI Kein Atommüll in Ahaus" zu wenden. Nach längerem Herumlaufen in alle möglichen Richtungen finden wir es schließlich: Leicht zu erkennen an dem Menschenauflauf von ca. 10 Personen, der sich davor gebildet hat.

Das BI-Büro ist immerhin besetzt (es hätte schlimmer kommen können, die Öffnungszeiten im Einzelhandel waren auch bei liberalster Auslegung schon weit überschritten), und so erfahren wir, daß alle Camps geräumt sind, bis auf ­ möglicherweise ­ zwei, nämlich X4 und X8. Von X4 allerdings geht das Gerücht, daß es praktisch stündlich eingekesselt würde, da es sich innerhalb des "verbotenen Dreiecks" B 474, Autobahn und Privatgleis zum BZA befindet.

Freitag, 20.3., 1.00 Uhr:

Auf der Suche nach weiteren AKW-GegnerInnen stoßen wir schließlich auf das ursprünglich als Wohnwagen-Camp geplante "X8" ­ extrem schlecht zu finden, an der Nordstrecke, die der Castor-Zug später nicht benutzen wird, provisorisch aufgebaut und von Auswärtigen entsprechend geleitet, klein, vielleicht 300 Leute. Einige amüsieren sich an einem kaum sichtbaren Feuer mit der Klampfe, die meisten wollen offenbar ihre Ruhe, bis 6.30 Uhr wird überwiegend geschlafen. Es ist die Nacht vor dem Eintreffen des Castors, und auch hier im Camp wissen alle, daß die sechs Castor-Behälter um diese Zeit Walheim verlassen und näher kommen. Zur gleichen Zeit befinden sich im Camp X4 rund 3.000 Menschen, die nicht eingekesselt werden und ebenfalls auf die großen Ereignisse warten, die noch kommen sollen. In der Nacht gibt es einen Toten bei Würzburg; ein übermüdeter BGS-Beamter bleibt an einem Personenzug hängen.

Freitag, 20.3., 8.00 Uhr:

Langsam versammeln sich einige Hundert Demonstranten an der Marienkirche zu einer Kundgebung. Die Cafés und Bäckereien in der Umgebung des Platzes machen einen einmaligen Umsatz. Als Gegenleistung müssen sie ihre Toiletten zur Verfügung stellen. Die Kundgebung muß zunächst ohne Lautsprecher und Megaphon auskommen ­ angeblich Teil der Vereinbarung zwischen Anmeldern und Staatsmacht. Deswegen kann die Information über eine gerade stattfindende Sitzblockade am Bahnübergang Schorlemmerstraße nur auf Rufweite weitergegeben werden. Dafür gibt es die üblichen T-Shirts, Sticker und Aufkleber zu kaufen ­ der Dealer stammt aus dem Wendland.

 

Weil wir sonst nix zu tun haben, wollen wir eine Blockade am Bahnübergang Schorlemmerstraße unterstützen. Dort sitzen einige Dutzend Zivilisten ordentlich aufgereiht auf den Gleisen, aber die Polizei hat schon alles abgesperrt und trägt meist demonstrativ vorsichtig den einen oder anderen hinter die Absperrung. Mancher davon kehrt irgendwie später wieder auf die Gleise zurück. Die Ordnungskräfte nehmen die Sache unterschiedlich ernst. Einige sind wie immer schlechter Laune, anderen ist es augenscheinlich egal ­ immerhin bleiben noch über 10 Stunden bis zum Castor. Die Bevölkerung des Städtchens braucht anscheinend nicht über unsere Aktivitäten informiert zu werden, deshalb werden auch keine Flugblätter verteilt oder Lautsprecherdurchsagen gemacht. Die am häufigsten vertretene Ansicht ist: "Für Versammlungsfreiheit ­ Gegen Gewalt". Was hat das mit der Atomenergie zu tun? Nichts, aber möglicherweise schützt es die Schaufensterscheiben. Castor-Transporte? "Können ruhig öfter kommen, dann hab ich immer volle Bude" ­ so ungefähr fassen Ladeninhaber die Lage am Abend im Fernsehen zusammen. Einige fahren mit ihren mobilen Würstchenbuden sogar hinter DemonstrantInnen und PolizistInnen her, um näher an der Kundschaft zu sein. Es rentiert sich, auch wenn der Verkäufer sich nicht einmal die Mühe gemacht hat, Brötchen zu den Würstchen zu besorgen.

Am Bahnhof, wo die große X-1000-mal-quer-Blockade sein soll, ist alles ruhig. Nur einige hyperaktive Politessen schieben unentwegt die Absperrgitter auf und zu ­ weil ihre motorisierten Kollegen raus und rein wollen. Bei herrlichem Sonnenschein lassen wir uns wie viele andere irgendwo am Bordstein nieder und halten ein Nickerchen.

Freitag, gegen 12 Uhr mittags:

Vor dem BI-Büro in der Innenstadt hat die Ordnungsmacht Logistik-Probleme. Sie kann ihre Einheiten nicht so schnell verschieben, wie sie es gern hätte, weil der Zebrastreifen von Fußgängern benutzt wird ­ stundenlang. Nachdem es hier zunächst zu Appellen an die "Vernunft" der Fußgänger gekommen ist ("Ihr könnt doch wählen gehen"), gibt es schließlich was auf die Mütze ­ von hinten ist Verstärkung aus Berlin angerückt. Währenddessen gehen die symbolischen Geplänkel auf den Gleisen weiter. Niemand fügt dem Schienenstrang irgendeinen Schaden zu. Die Toten Hosen improvisieren ein Konzert auf einem LKW. Als dieser nahe genug an den Bahnübergang herangeschoben worden ist, daß die BGS-ler Campinos Bartstoppeln erkennen können, kommt es zu einer deutlichen Mißfallskundgebung: Die Scheiben des LKW werden in staatlichem Auftrag zertrümmert, die Reifen durchstochen.

Während innerhalb der Stadt Unmengen von Polizeifahrzeugen sich gegenseitig behindern, ein Räumpanzer einem Demonstranten sogar über den Fuß fährt (so daß der später amputiert werden muß), stehen unmittelbar außerhalb nur einzelne Fahrzeuge an den Bahnübergängen. Trotzdem schikanieren sie Passanten mit Personalienkontrollen. Von einer lückenlosen Bewachung der Bahnstrecke aus Coesfeld kann keine Rede sein.

 

 Freitag, 14.15 Uhr:

Erneute Kundgebung an der Marienkirche (die übrigens eine grauenerregende Kombination aus frühmittelalterlichem Feldstein-Glockenturm und postmodernem Stahlbeton-Kirchenschiff darstellt; aber der Pastor betet ja für uns). Erstmal dürfen wir Radionachrichten hören: Der Transport nähert sich Paderborn. Außerdem erfahren wir das Neueste über Wildschweine in Braunschweig. Immerhin passiert jetzt etwas, was bisher sorgsam vermieden wurde: Jemand schlägt über Lautsprecher vor, wenigstens noch einmal eine eindrucksvolle Aktion zu versuchen, bevor der Zug da ist. Wir sollen uns zügig an den Südrand der Stadt begeben und da versuchen, auf die Gleise zu kommen (die Nordstrecke kommt nicht mehr in Betracht).

Obwohl das völlig öffentlich vor sich geht und die Völkerwanderung von rund 2.000 Menschen kaum zu übersehen ist, bietet sich auf einer langgezogenen Wiese überraschend die Möglichkeit, massenhaft auf die Schienen zu gehen. Sei es, daß die Polizei hier zu wenig Personal hat, sei es, daß sie die Aktivitäten der Protestierer nicht so richtig ernst nimmt ­ einige hundert Meter Schiene werden besetzt.

Zu dieser Zeit haben sich an mindestens zwei Stellen Menschen an bzw. unter den Schienen angekettet. Ein paar wenige beginnen damit, mühevoll den Schotter zwischen den Bahnschwellen herauszukratzen. Obwohl alle zwei Minuten eine Patrouille vorbeikommt, bleibt das eine Weile unbemerkt. Als schließlich fünfmal die körperliche Gewalt angedroht worden ist und sich der erste Wasserwerfer auf der morastigen Wiese festgefahren hat, geben ein paar Bahnschwellen geringfügig nach. Wie sich herausstellt, reicht das, um den heranrollenden Kontrollzug fast zwei Stunden aufzuhalten. Bevor es jedoch so weit ist, kommt die Staatsgewalt endlich zur Sache. Von beiden Seiten arbeitet man sich auch mit Schlagstöcken durch die Blockierer. Berliner Greiftrupps machen wieder Menschenjagd. Die Wasserwerfer dagegen haben sich überwiegend selbst lahmgelegt.

An den mittlerweile abgeriegelten Schienen ist ein Radlader eingetroffen, ein Trupp Bahnpersonal begutachtet mehrfach die Reparaturarbeiten. Gegen 18.30 Uhr kommt der Kontrollzug endlich voran. Es dauert aber noch bis 20 Uhr ­ da ist es schon dunkel ­ bis der Castor-Transport anrollt. Auch jetzt gibt es zwischen den Häusern von Ahaus immer noch Lücken in der Absperrung, aber die werden nicht mehr genutzt. Der Zug ist gigantisch: Zwei Diesellokomotiven vorn, zwei hinten, 570 m Waggons, dazwischen in regelmäßigen Abständen 6 Castorbehälter vom Typ V/19.

Als diese bereits im Industriegebiet, auf dem hermetisch abgeriegelten Privatgleis des BZA verschwunden sind, kommt es in der Innenstadt zu handfesten Auseinandersetzungen. Falls es sich dabei um ein plötzliches Erwachen handeln sollte ­ es kommt, gelinde gesagt, zu einem ungünstigen Zeitpunkt.

(BG)