Kommentar

Realexistierender Kapitalismus

99,67 Prozent der Bundestagsabgeordneten sind Mitglieder sich positiv auf den Kapitalismus beziehender Parteien. Die restlichen 0,33 Prozent gehören einer kapitalismuskritischen Partei an, die – trotz ihres Namens – nur bedingt sozialistisches oder gar kommunistisches im Sinn hat. Unter den Nichtwählern –  einschließlich der Wahlrechtslosen – ist eine ähnliche, wenn nicht gar schlimmere (nach rechts), politische Einstellung zu befürchten.

Das System des realexistierenden Kapitalismus steht heute kaum in der Kritik. Nur einzelne (angeblich oder tatsächlich erfolglose) Manager mit ihrem üppigen Salär, die ”Shareholder” und die ”Globalisierung” werden kritisiert oder beklagt. Was so vorgetragen alles nicht sonderlich neu, originell oder gar hilfreich ist. Es sei denn, man will sich und anderen – mit neuen Begrifflichkeiten für Altbekanntes – was vormachen, z.B. dass der Kapitalismus an sich gar gut und letztendlich alternativlos ist. Noch schlimmer sind die Vertreter romantisch-völkischer Vorstellungen vom angeblich besseren Leben in vor-kapitalistischen Zeiten und Gesellschaften.
Ein bärtiger Rechtsanwaltssohn aus Trier und ein Kapitalistensohn aus Wuppertal haben schon vor 150 Jahren den Kapitalismus zutreffend analysiert und das was bis heute abgeht beschrieben. Gescheitert und umstritten sind nachfolgende Sozialismusmodelle. Heute versuchen weltweit die Menschen, Organisationen und Staaten – es gibt wenige Ausnahmen – einer Konfrontation mit dem Kapitalismus/Imperialismus durch Anpassung aus dem Weg zu gehen.

Dem realexistierenden Kapitalismus und deren Vertretern im Management und der Politik die Stirn und Faust zu zeigen, gilt hierzulande als antiquiert. Nicht nur die Leipziger Armleuchterbewegung war 1989 letztendlich ein beredter Ausdruck der freiwilligen Unterordnung (Beitritts) unter den Kapitalismus. Sich individuell und kollektiv in Geist und Tat dem Kapitalismus und dessen Sachzwängen unterzuordnen war und ist westlich der Elbe schon seit Jahrzehnten absolut mehrheitsfähig. Aktuell sind die Gewerkschaften, Betriebsräte und Belegschaften enttäuscht, dass der Kurs des Ko-Managements zur Effizienzsteigerung das Schlimmste auf Dauer nicht verhindert. Wenn ganze Standorte von Stillegung bedroht sind gibt es Stunk. Kiel steht auf! In der Hoffnung, dass andere umgelegt werden? Für eine solidarische Stadt! Mit wem und gegen wen? Statt sich gegenseitig zu unterbieten sollten die Gewerkschaften über Stadt- und Landesgrenzen hinweg solidarisch für eine Angleichung durch Anhebung der sozialen Rechte und Verhältnisse kämpfen. Selbst innerhalb der EU ist davon wenig zu spüren.

(W. Jard)