Nach dem Zwölferpack:

Wer wird im Wendland “verrückt”?

Der größte Atommülltransport ins Zwischenlager Gorleben ist beendet, und die Beteiligten ziehen Resumees. Polizeieinsatzleiter Hans Reime, der bereits mehrere Gorleben-Einsätze leitete (und sich nach diesem Einsatz in den Vorruhestand verabschiedet - wohl nicht aus seelischer Überlastung), und ein Sprecher des BGS behaupteten, die Atomkraftgegner setzten mangels Masse zunehmend auf “gewalttätige und lebensgefährliche Aktionen”. Gemeint sind damit neben “ausgesprochen brutalen Angriffen” (nach GdP-Angaben) auf Polizisten namentlich die Gleisblockade der ICE-Strecke Lüneburg-Hannover. Schon während der Aktion verbreiteten Polizei und BGS gezielt dramatische Pressemitteilungen, nach denen der ICE “Helvetia” nur durch zwei wild mit den Armen fuchtelnde BGS-Beamte, die dem Zug “entgegengerannt” waren, zu einer Notbremsung aus 110 km/h mit “qualmenden Bremsen” veranlasst werden konnte, so dass er knapp 150 m vor einer Gruppe von 40 Demonstranten, von denen 28 festgenommen wurden, zum Stehen kam. Nach Darstellung des “Aktionsbündnis Heidewerkstatt” in Lüneburg war der ICE jedoch bereits seit dem Bahnhof Winsen vorgewarnt, dass sich Menschen auf dem Gleis befanden, und näherte sich deshalb mit niedriger Geschwindigkeit. Eine Notbremsung sei überhaupt nicht notwendig gewesen, er habe 400 m vor der Blockade gehalten. Zudem habe ein Polizeihubschrauber die ganze Zeit über der Blockade gekreist, die Einsatzkräfte hätten den Zug schon vor Winsen informieren können. Sie bezeichneten die Aktion als “verantwortungsvoll”.
Reime hatte sich vorgenommen, die Zahl der eingesetzten Beamten erheblich reduzieren zu können. Das ließ sich jedoch kaum in die Tat umsetzen, auch wenn der Anteil der Landespolizei geringer war als früher. Mit 16.700 sei die Zahl nur um 1000 geringer gewesen als letztes Jahr, was auf die “Nadelstichtaktik” der AKW-Gegner zurückzuführen sei. Der Eindruck des Belagerungszustandes im Wendland konnte also wieder nicht vermieden werden. Fast 1000 DemonstrantInnen wurden in Gewahrsam genommen, gegen 67 wird ein Strafverfahren eingeleitet.

Die BI Lüchow-Dannenberg beklagte eine Desinformationskampagne der Polizei. So hätte sich die angebliche Unterhöhlung des Deiches bei Laase als ein von Kindern gebuddeltes Loch im Garten herausgestellt, die angebliche Verletzung von Beamten als Schlammspritzer von den eigenen Fahrzeugkolonnen bzw. “Strohfisseln”. Die Stimmung wurde als gut, die Aktionen als “vielfältig, lebendig, humor- und fantasievoll” beschrieben. Zu der Einschätzung als Erfolg trug auch die immerhin über den Erwartungen liegende Beteiligung von über 4000 Menschen bei der Auftaktkundgebung und die bundesweite Beteiligung durch z.B. vier Gleisblockaden außerhalb des Wendlandes bei. U.a. kam der Castorzug bei Haßbergen nahe Bremen wegen einer brennenden Materialblockade zum Stehen, bei Verden mußten zwei angekettete Blockierer unter Austausch eines Gleisstücks aus dem Schotter entfernt werden. Das Motto “Das Wendland spielt verrückt” wurde durch satirische Dörferneugründungen entlang der Transportstrecke, wie “Neu-Splienau” und “Alt-Bräsig”, und einen Karnevalsumzug am 11.11. (“De Zoch kütt”) in die Tat umgesetzt. An der abschließenden Straßenblockade bei Laase beteiligten sich nach Angaben von “X-1000-mal-quer”-Sprecher Jochen Stay rund 1.200 Menschen, von denen (nach Polizeiangaben) 700 eingekesselt und weggetragen wurden, darunter auch Stay selbst. Dieser bescheinigte den Beamten vor Ort noch korrektes Verhalten, was ihm nur wenig später von BGS-Beamten schlecht gedankt wurde, die ihn in einem Stau aus seinem Auto zerrten und unter den Augen von Journalisten brutal auf die Nase schlugen.

Die Demosanis berichteten von insgesamt 80 Verletzten, davon einem Schwerverletzten durch Polizeiknüppeleinwirkung. Der nach Polizeiangaben “maßvolle” Einsatz wird auch durch den anwaltlichen Notdienst der BI relativiert, der die Verhältnisse in der Gefangenensammelstelle Neu-Tramm beobachtete. Im Vorfeld gemachte Absprachen über Mindeststandards würden nicht eingehalten. So würde die “unverzügliche Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung” von der Polizei mutwillig verzögert. Beteiligte Richter konnten sich überzeugen, dass die Sachbearbeitung bei der Einlieferung von 270 Gefangenen “gezielt chaotisch” gestaltet wurde. So standen 5 PCs zur Verfügung, auf denen die dem Gericht vorzulegende “Begründung der Freiheitsentziehung” einfach keine Form annehmen wollte, bis es 22 Uhr war (12 Stunden nach Festnahme). Zu dieser Uhrzeit vermutete die Polizei den Dienstschluss des Gerichts. Peinlicherweise machten die Richter jedoch bis 24 Uhr Überstunden und beklagten eine “flagrante Verletzung des Unverzüglichkeitsgebotes”. Desweiteren wurden Festgenommene in Gefangenenbussen stundenlang geparkt, Kinder, Jugendliche und Heranwachsende trotz Kenntnis der Personalien (also auch des Geburtsdatums) in Transportzellen “zwischengelagert”. Anwälte wurden trotz gegenteiliger Zusagen nicht zu den Gefangenen vorgelassen. Kaum eine polizeiliche Freiheitsentziehung wurde vom Richter bestätigt.
In der ihm eigenen Selbstherrlichkeit annektierte BMU Trittin den Protest für sich und seine Partei, indem er Verständnis für die DemonstrantInnen äußerte. Diese armen, kranken Würmchen hatten ja “einen nachvollziehbaren inhaltlichen Anlaß”, denn sie wehrten sich “mit Recht dagegen, dass es durch die Zwischenlagerung zu einer Vorfestlegung auf Gorleben als Endlager kommt”. Aber das Problem der störenden Transporte habe er auch bald im Griff, wenn durch die vielen noch zu genehmigenden dezentralen Zwischenlager diese nämlich überflüssig werden. Für den Rest und bis dahin gilt die Parole: Nationale Verantwortung! Es geht also gar nicht um Atomanlagen, sondern nur um “Vorfestlegungen” und Transporte! Also um eine Stärkung der grünen Position bei Koalitionsgesprächen. Täter ist niemand, ein Problem haben wir alle. Wäre da nur nicht dieses selbständig zuckende Augenlid, das die Verrenkung partout nicht mitmachen will.

Zum propagandistischen Befreiungsschlag angesetzt hat ein angebliches “Sonderheft des BGS” zum Castortransport (Impressum: BMI, Abteilung Öffentlichkeitsarbeit BGSA Uelzen), das in der Pumpe ausliegt. Darin dankt ein POR Heyme der Gesamteinsatzleitung der Polizei, also speziell Herrn Reime dafür, dass sie “in den letzten Jahren sehr erfolgreich darauf hingewirkt (hat), die Auseinandersetzungen um die Atomtransporte in der Öffentlichkeit weniger als ein politisches als vielmehr als ein rein polizeiliches Problem erscheinen zu lassen.” Der Schein bestimmt das Bewußtsein, das gilt auch für dieses gut gemachte Heft. U.a. heißt es hier weiter: “Ein freies Vagabundieren von potenziellen Gewalttätern muss präventiv verhindert werden” - neben einem Bild von der “Kontrolle verdächtiger Personen”, auf dem zwei ältere weißhaarige Herren ihre Papiere vorzeigen müssen und abgeklopft werden. Zwei Polizeiseelsorger berichten von ihrer Arbeit, nämlich grundlosen Festnahmen durch brutale BGS-Beamte: “Aber unter ihrer harten Schale steckt oft ein hohler Kern.” Sein Kollege hat von einem “ganz jungen Beamten” angeblich gehört: “Wir sind zwar stärker, aber irgendwie ganz schön blöd.” Was Otto Schily sonst nur denkt, hier steht es geschrieben: “Ohne zynisch klingen zu wollen: Für unsere Arbeit hier in der Bundesrepublik, für die notwendige Erweiterung polizeilicher Befugnisses aber eben auch für die Akzeptanz unserer Arbeit war dieser schreckliche und menschenverachtende Anschlag (der 11. September 2001, d.R.) ein Gottesgeschenk. Lassen Sie es mich so ausdrücken: Zur Erhaltung der Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger ist ja ein demokratisch legitimierter Polizeistaat nicht unbedingt etwas Schlechtes.”

Im Veranstaltungskalender werden Orte genannt, von denen man sich tunlichst fernzuhalten habe - alles Veranstaltungen der Castorgegner, für Auskünfte wird die Info-Telefonnummer der BI angegeben und “http://de. indymedia.org”. Auf der Rückseite sucht die Deutsche Bahn in einer “Stellenanzeige” Aushilfskräfte für “Instandsetzungsmaßnahmen im Landkreis Lüchow-Dannenberg für den Zeitraum vom 1.11.02 bis zum 15.11.02” im Rahmen eines “Pilotprojekts FSA (freiwillig-selbständige Arbeitslose)”. Es fehlt nicht an dezidierten Beschreibungen relativ gefahrloser Sabotageaktionen (“Tieferlegen von Einsatzfahrzeugen”, Bauschaum im Auspuff usw.), vor denen “präventive Maßnahmen” schützen sollen. Das alles ist klasse gemacht, und wenn es auch gefaked ist, ist es dennoch die Wahrheit.

(BG)