Demowochen in Kiel

Zwiespältige “Aufstände”

Kiel ist aufgestanden. Ein bisschen. Nur kurz wurde am 6. Dezember der abendliche Einkaufsstrom auf der Holstenstraße durch einen Fackelzug mit Dschingerassabumm unterbrochen. Vom Spielmannszug abgesehen eher ein Schweigemarsch aus dem kaum Informationen an Passanten und Fahrzeuginsassen verteilt wurden. Rund 3000 waren gekommen. Zwiespältige Eindrücke bleiben nach der DGB-Demo und anderen Demonstration.
Auf der einen Seite greift die Angst um den Arbeitsplatz, selbst in mehr oder minder gut ausgelasteten Betrieben, immer mehr um sich. Zur DGB-Demo waren die kürzlich unerwartet von der Produktionsverlagerung betroffenen Heidelberger zu mehren Hundert (etwa die Hälfte der Belegschaft) im Autokonvoi aus Suchsdorf zum Wilhelmplatz gefahren. Auch bei den Stadtwerken herrscht wegen der Pleite des Mehrheitseigners TXU Unruhe, so dass die Belegschaft aus der Humboldtstraße zum Aufmarschplatz zog: “TXU – Raus bist du” war auf einem Transparent zu lesen. Im städtischen Krankenhaus und im Uniklinikum fürchtet man ebenfalls um den Job, wie auf der Demo zu sehen war. Hier wegen geplanter Umwandlung in eine GmbH, dort wegen der eine Woche später vom Landtag beschlossenen Fusion mit dem Lübecker Hochschulkrankenhaus. Aus anderen Betrieben tauchten nur die bekannten Gesichter auf: Von HDW, VSFT, Caterpillar usw. nur ein Teil der Betriebsräte und Vertrauensleute, wie auch vom Automobilzulieferer Gelenkwellenwerk Kiel (GKN) und der Lindenau-Werft. Erstere haben über die letzten beiden Jahrzehnte schon das durchgemacht, wovon heute Sektoren betroffen sind, für die bisher Outsourcing, Verlagerung und Massenentlassungen ein Fremdwort war. VSFT konnte Mitte Dezember zusätzliche Aufträge über Schienenfahrzeuge ordern und GKN stellte kürzlich noch 19 Produktionsarbeiter ein, um 24 Schichten ausfüllen zu könne. Auch Lindenau stellt derzeit ein.

Andererseits herrscht im Allgemeinen entweder Lethargie oder Wut gegen “die Politiker” und einzelne “unfähige Manager” vor. Das drückte sich ebenfalls auf den zahlreichen universitären und behördlichen Demonstrationen, Kundgebungen und Aktionen der letzten Wochen aus. Am letzten Freitag waren über 2000 aus dem Lande einem Aufruf – Tenor: “Heide weg!” – des Deutschen Beamtenbundes (DBB) und anderer Standesorganisationen zum Marsch vom Rathausplatz zum Landeshaus gefolgt. Was am Freitag zuvor im Fackelschein unter dem DGB-Motto “Kiel steht auf!” auf dem Rathausplatz zusammenkam war gleichfalls gefrustet und kaum mehr als auf dem jährlich Mai-Spaziergang. Frank Teichmüllers (IGM-Küste) Rede war auch nicht gerade eine Orientierungshilfe für entschlossene Abwehrkämpfe: Politiker, Unternehmer und Gewerkschaften sollen sich an einen Tisch setzen und der Mittelstand gefördert werden. Nur, so fragt sich, wo sollen angesichts der strukturellen Krise des Kapitalismus, die der Landeshauptstadt seit Jahren eine Sockelarbeitslosigkeit von rund zehn Prozent beschert, die Arbeitsplätze herkommen. Zumal zu dieser sich jetzt auch noch eine globale Absatzkrise gesellt. Verständlich, dass angesichts solch deprimierender Tatsachen das ewig gleiche sozialpartnerschaftliche Gesäusel nicht besonders mobilisierungsfähig ist. Die Frage ist allerdings, was dem entgegengesetzt werden kann (Arbeitszeitverkürung, wie im dokumentierten Aufruf der IG Metall Vertrauenskörperleitung HDW, oder gar eine weitere Verkürzung in Richtung 30-Stunden-Woche?), und wo die Kräfte sind, die dies könnten.

In und aus den Gewerkschaften sind in Kiel zur Zeit zwei Bewegungen wahrzunehmen: Führende Gewerkschaftsvertreter schmieden mit der SPD und deren OB-Kandidaten, Jürgen Fenske, an der “Allianz für Kiel”. “Wirtschaft, Arbeitnehmer, Hochschulen und Politik müssen eine neue Kiel-Offensive starten. Die Bewegung ‚Kiel steht auf’ gewinnt an Fahrt”, heißt es in einem von Jürgen Fenske, Walter Reimers (Rektor der Fachhochschule Kiel), Finn Duggen (Geschäftsführer des Kieler Innovations- und Technologiezentrum und der Kieler Wirtschaftsförderungs- und Strukturentwicklungsgesellschaft (KiWi)) und Wolfgang Mädel (IGM) gezeichneten Aufruf. Offensichtlich soll damit im Vorfeld Kommunalwahl der im eigenen Sumpf dümpelnden Kieler SPD etwas Wind in die Segel geblasen werden. Auf der anderen Seite sind, wie bei Heidelberger, Ansätze einer kollektiven Interessenvertretung durch gewerkschaftliche Bewegung im Betrieb wahrzunehmen. “Kiel steht auf” – Die tonangebenden, gewerkschaftlichen Akteure in den Betrieben geben sich zum Jahresende mehr zweckpessimistisch als zweckoptimistisch. Die Menschen haben viele Fragen. Wer entwickelt Antworten in der Praxis?

(wop, W. Jard)