WTO-Ministerkonferenz gescheitert:

Etappensieg

Geplatzt. Wiedereinmal ist eine Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation WTO ergebnislos zu Ende gegangen. Im mexikanischen Cancún liefen am 14. September die Handelsminister der 146 Mitgliedsländer auseinander, ohne dass sie sich auf eine gemeinsame Abschlusserklärung hätten einigen können. Damit ist zwar der Siegeszug des Freihandels nicht aufgehalten, aber doch dem Prozess des Einreißens aller Zollschranken für die Waren der EU und der USA ein deutlicher Dämpfer aufgesetzt. Die Minister treffen sich, seit dem die WTO 1995 aus der Taufe gehoben wurde, alle zwei Jahre und nach der legendären Konferenz 1999 in Seattle, war Cancún bereits das zweite Treffen, bei dem sich Entwicklungsländer auf die Hinterbeine stellten und dem Druck der Freihändler aus Washington, Brüssel und Tokyo widerstanden.

Groß war der Jubel bei den Nichtregierungsorgansiationen und den sozialen Bewegungen, die die Tagung mit zahlreichen Protesten begleitet hatten. Walden Bello vom thailändischen Institut Focus on the Global South, wohl einer der profiliertesten Globalisierungsgegner in Südostasien, sprach von einem enormen Erfolg. Man müsse sich jetzt Gedanken über die Abwicklung der WTO machen. Mit ca. 10.000 Teilnehmern waren die Proteste und Gegenveranstaltungen in Cancún allerdings deutlich kleiner ausgefallen, als die Organisatoren erwartet hatten. Ursache hierfür waren unter anderem die teuren, kurzfristig eingeführten Visa, die es vor allem Aktivisten aus Zentralamerika unmöglich machten, in den Karibikort zu fahren. Einige Dutzend prominente WTO-Kritiker aus Afrika, Asien und Lateinamerika waren zudem an den Grenzen abgewiesen worden. Dennoch kam es während der Konferenz zu kämpferischen Demonstrationen, die allerdings in den ersten Tagen durch Polizeigewalt und, wie einige nordamerikanische Beobachter schreiben, organisierten Provokationen überschattet wurden.

Dass die Proteste dennoch mit einer überaus inspirierenden Abschlussaktion am 13. September gekrönt wurden, ist vor allem der organisatorischen Kraft und Autorität des internationalen Kleinbauernnetzwerkes Via Campesina sowie der starken koreanischen Delegation zu verdanken. In Erwartung neuer Auseinandersetzungen hatte die mexikanische Polizei ihre Mannschaften in der Umgebung des Konferenzortes verdreifacht und die Metallgitter, die die Cancúner Hotelzone vom Rest der Stadt absperrten verstärkt, doch statt der großen Konfrontation gab es “den wunderbarsten und bewegensten symbolischen Protest, den man sich vorstellen kann”, wie Peter Rosset von der US-amerikanischen Menschenrechtsorganisation Food First schreibt.

Als die Demonstration an die Absperrung anlangte ging ein internationaler Frauenblock mit Drahtzangen ans Werk, den Zaun zu zerlegen, während der “Schwarze Block” dafür sorgte, dass sie dabei nicht von Provokateuren gestört wurden. Die Frauen hatten in den Diskussionen im Vorfeld darauf bestanden, diese Aktion alleine durchzuführen, weil sie die Schnauze voll vom Machismo der “Streetfighter” hatten. Nach getaner Arbeit befestigten koreanische Bauern dicke Seile an den Absperrungen, die so dann von Tausenden Demonstranten niedergerissen wurden.

Als die Absperrungen schließlich vollends beseitigt waren, passierte das Unerwartete. Statt dass es zur großen Straßenschlacht mit der gut ausgerüsteten Polizei kam, die in großer Zahl hinter den Gittern gewartet hatte, tauchten auf einmal hunderte weißer Blumen auf. Die koreanische Delegation forderte die Menschen auf sich hinzusetzen und hielt eine Zeremonie in Gedenken an den Vorsitzenden des koreanischen Bauernverbandes, Lee Kyung-hae, ab, der sich zwei Tage zuvor auf spektakuläre Weise in Cancún aus Protest gegen die WTO das Leben genommen hatte. Mit diesem unerwarteten Abschluss geriet Demonstration vollends zu einem Triumph des Widerstandwillens gegen den Neoliberalismus, der viele TeilnehmerInnen tief beeindruckte. Das koordinierte und disziplinierte Vorgehen einer derart international zusammengesetzten Großdemonstration dürfte zudem ein Meilenstein der weltweiten sozialen Bewegungen gewesen sein.

Weitere Aktionen gab es auch innerhalb der Absperrungen von NGO-Vertretern und alle zusammen dürften wie schon in Seattle einen nicht unwesentlichen Anteil daran gehabt haben, den Staaten des Südens den Rücken zu stärken, so dass sich der Norden an der Hartnäckigkeit der “Gruppe 20 plus” die Zähne ausbiss. Das neue Bündnis wichtiger Schwellenländer wie China, Indien, Nigeria, Südafrika und Brasilien hatte vor allem darauf bestanden, dass die Industriestaaten endlich ihre exorbitanten Agrar-Subventionen aufgeben. Die ruinieren nicht nur bäuerliche Existenzen in den ärmeren Ländern, die zur Öffnung der Grenzen gezwungen werden, ohne ihrerseits die Mittel zu haben, ihre Bauern mit Direktzahlungen und Erleichterungen aller Art zu unterstützen. Subventionen und trotz aller Freihandelsrhetorik auch die hohen Zollmauern verhindern, dass zum Beispiel Brasilien seinen Zucker in Europa absetzen kann. Doch die EU ging in Cancún in diese Frage sogar noch einen Schritt hinter die Ergebnisse von Doha vor zwei Jahren zurück. Hatte es dort noch gehießen, die vollständige Abschaffung sei das langfristige Ziel, so wollte man sich jetzt nicht mehr darauf festlegen lassen, sondern sprach nur von Absenkung.

Zwischen den Zeilen wurde in Cancún allerdings auch deutlich, dass das Bündnis zwischen Bewegungen und Entwicklungsländern nur ein temporäres ist. Die Kleinbauern von Via Campesina haben wiederholt deutlich gemacht, dass sie generell gegen Verhandlungen über Agrarfragen in Rahmen der WTO sind. Sie haben den Begriff der Lebensmittelsouveränität eingeführt und fordern den Schutz lokaler und nationaler Märkte. Wenig Interesse haben sie hingegen an exportorientierter Produktion, die zumeist Großgrundbesitz begünstigt. Der Widerspruch wurde unter anderem auch auf einer abschließenden Pressekonferenz der Gruppe 20 plus deutlich, auf der verschiedene Regierungen erklärten, dass das Scheitern in Cancún auf keinen Fall das Ende der WTO bedeute. Es gehe darum, einen “fairen und freien” Welthandel durchzusetzen, betonte ein Mitglied der südafrikanischen Delegation. Dafür erhofft man sich nach der Niederlage, die man dem Norden beigebracht hat, und der neu gefundenen Einigkeit, deren Tragfähigkeit sich allerdings noch erweisen muss, nun bessere Chancen.

Lange Gesichter machten indes die europäischen Minister und der EU-Handelskommissar Pascal Lamy. Sein US-amerikanischer Kollege Robert Zoellick drohte gar kaum verhohlen, man würde nun verstärkt auf bilaterale Freihandelsabkommen zurückgreifen. Wieder einmal war der Norden zu nassforsch vorgeprescht, hatte alle Forderungen und Einwände der Länder des Südens geflissentlich überhört.

Besonders die EU hat mit ihrem arroganten Beharren auf Verhandlungen über die so genannten Singapur-Themen (Investorenschutz, Wettbewerb, Handelserleichterungen und öffentliches Beschaffungswesen) viel zur Erbitterung bei den Ländern des Südens beigetragen. Mehr als 70 Staaten aus Afrika, Asien und Lateinamerika hatten während der Konferenz unmissverständlich in einem gemeinsamen Kommuniqué erklärt, sie seien nicht bereit, Verhandlungen über ein Investorenschutzabkommen aufzunehmen. Dennoch nahm der Verhandlungsführer eben diese in seinen letzten Entwurf für eine Abschlusserklärung auf. Ein Vorgehen, wie es trotz des angeblich auf Konsens beruhenden Abstimmungsprozesses in der WTO üblich ist. Weniger üblich war es hingegen bisher, dass sich die Entwicklungsländer in Interessengruppen zusammenschließen und diesen Machenschaften die Stirn bieten.

Das lässt für die Zukunft hoffen und gibt ein wenig Mut für die nächsten Etappen. Denn mit dem Scheitern in Cancún ist weder die WTO am Ende, noch werden die Brüsseler EU-Kommission oder der “schwer enttäuschte“ Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) ihre Pläne aufgeben. In den Führungsetagen europäischer, nordamerikanischer und fernöstlicher Konzerne wird man weiter auf das Einreißen aller Zollschranken und auf Schutzrechten für Kapitalisten in aller Welt bestehen, wird man nicht eher ruhen, bis auch die letzte Lebensäußerung im hintersten Winkel des Planeten zur Ware geworden ist.

Die WTO ist dafür nur ein Vehikel unter mehreren, wenn auch das von der EU derzeit bevorzugte. Doch ähnlich wie in Washington und Tokio spielt man auch in Berlin, Brüssel und Paris virtuos auf den Instrumenten bilateraler Diplomatie, schmiedet man an zwischenstaatlichen und regionalen Handelsabkommen zum Beispiel mit Mexiko, dem Mercosur, Südkorea oder den AKP-Staaten. Auf diesem Wege hat man in Mexiko zum Beispiel längst durchgesetzt, was man versucht, mit der WTO zu verallgemeinern: Dass dort heimische Unternehmen nicht gegenüber europäischen bevorzugt werden dürfen. “Nicht-Diskriminierung“ nennt sich so etwas im Diplomatendeutsch und ist eine sichere Rezeptur dafür, bestehende Ungleichgewichte ad infinitum zu zementieren, den Graben gar noch zu vertiefen.

An dieser Politik wird man auch nach Cancún festhalten, wie nicht zuletzt die Erklärung des deutschen BDI und die jeder Einsicht ledigen Äußerungen des EU-Chefunterhändlers Pascal Lamy zeigen. Die europäischen Konzerne werden dabei weiter an vorderster Front mitmischen, weshalb man ihnen und ihren Regierungen dabei mehr als bisher auf die Finger schauen und klopfen sollte.
(wop)