"Agenda 2010":

Hauptsache Profit?

Am Freitag, 24. Oktober fand im Bürgertreff der Räucherei die Veranstaltung von Arbeitslosenhilfe und Klartext Kiel "Agenda 2010 - Hauptsache Profit" mit Rainer Roth statt. Rainer Roth ist Professor für Sozialwissenschaften an der Fachhochschule Frankfurt am Main und Vorsitzender des Vereins "Klartext". Außerdem i arbeitet er in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Sozialhilfeinitiativen mit und hat zahlreiche Leitfäden der Sozialhilfe veröffentlicht. "Nebensache Mensch - Arbeitslosigkeit in Deutschland" ist sein neuestes Buch, das auch Grundlage der Veranstaltung war.

Die Lohnarbeiterinnen und Lohnarbeiter, so Roth, müssen ihre eigenen Interessen vertreten und nicht damit argumentieren, dass z.B. bei Lohnerhöhungen die Wirtschaft profitiert, weil mehr konsumiert werden kann und dann wieder mehr Leute beschäftigt werden können. Entsprechend lehnt er die Verwendung des Begriffs Sozialstaat ab: "Was ist daran sozial?" Die Lohnabhängigen sollen fordern, was gebraucht wird, was sie selbst brauchen. Nicht um des sozialen Friedens willen, wie es immer wieder heißt, sondern weil es um ihr Recht geht.

Und dafür muss man/frau sich organisieren. Das kann für Roth in den DGB-Gewerkschaften geschehen, denen er ansonsten sehr kritisch gegenübersteht, muss aber nicht. Keimformen in denen die Lohnabhängigen ihre ureigenen Interessen vertreten, gebe es schon hier und da, z.B. in diversen Initiativen und betrieblichen Gruppen.

Wichtig sei es, die richtigen Fragen zu stellen: "(...) nicht LohnarbeiterInnen und Arbeitslose (sind) für die Arbeitslosigkeit verantwortlich", so Roth in seinem empfehlenswerten Buch, "sondern das Kapital. (...) die Lösung des Problems (kann) nicht darin liegen, dass die LohnarbeiterInnen sich unter der Leitung von Gewerkschaftsfunktionären selbst bekämpfen. Arbeitslosigkeit bedeutet eine ungeheure Verschwendung menschlicher Energien. Die Wirtschaftsordnung, die solche Probleme erzeugt, steht selbst auf dem Prüfstand. "Statt die optimalen Möglichkeiten der technologischen Entwicklung für Arbeitszeitverkürzung zu nutzen geschehe das genaue Gegenteil, nämlich Arbeitszeitverlängerung. Diese Art von Widersprüchen, die sich unter kapitalistischen Bedingungen immer mehr zuspitzen, muss stärker aufgezeigt werden.

Roth ging am Freitag Abend wie auch in seinem empfehlenswerten Buch den Propagandaphrasen "die Kassen sind leer" und der "demografischen Entwicklung" auf den Grund. Es stimme, die öffentlichen Kassen sind leer. Doch wer hat in die Kassen gegriffen?

Dazu ging der Autor auf die Körperschaftssteuer ein. Der Einfachheit halber sei hier aus seinem Buch zitiert: "Die Körperschaftssteuer ist die Gewinnsteuer/Einkommenssteuer der Kaptialgesellschaften (vor allem der Aktiengesellschaften). … Die Körperschaftssteuer fließt je zur Hälfte an Bund und Länder.

Bis 1990 zahlten Konzerne und Banken auf den von ihnen selbst ermittelten Gewinn noch 56% Körperschaftssteuer, bis 1998 45% und bis 2000 40%. Die Inhaber der Aktiengesellschaften (Aktionäre oder Gesellschafter) werden als "natürliche Personen" erst dann besteuert, wenn der Gewinn der Körperschaften an sie ausgeschüttet wird. Die ausgeschütteten Gewinne unterliegen letztlich der Einkommensteuer mit dem jeweiligen persönlichen Steuersatz. Bis zum Jahr 2000 zahlten die Kapitalgesellschaften auf ausgeschüttete Gewinne 30% Körperschaftssteuer. Die Empfänger der ausgeschütteten Gewinne erhielten eine Gutschrift in Höhe der Körperschaftssteuerbelastung, die sie von ihrer persönlichen Einkommenssteuer abziehen konnten (Anrechnungsverfahren). Zum 01.01.2001 senkten SPD und Grüne den Körperschaftssteuersatz auf 25 %, ob die Gewinne ausgeschüttet werden oder nicht. Der Steuersatz der Kapitalgesellschaften wurde mit dieser "Jahrhundertreform" nahezu halbiert. Unglaublich! Die Eigentümer der Kapitalgesellschaften müssen nur noch auf die Hälfte der an sie ausgeschütteten Gewinne Einkommenssteuer zahlen (Halbeinkünfteverfahren). Ab einem persönlichen Steuersatz von 38% zahlen sie weniger Steuern als bei dem früheren 'Anrechnungsverfahren'. Wer hat, dem wird von 'Rot-Grün' gegeben."

Außerdem wird die Senkung des Spitzensteuersatzes in 2004 von 48% auf 42% zu einem Einbruch in den Länderfinanzen führen. Diese Steuersenkungen müssen refinanziert werden, und zwar von den Lohnabhängigen. Dass diese Geschenke an die Reichen ihren vorgegebenen Zweck (Geld schiebt Investitionen an, die wiederum Arbeitsplätze schaffen, was Chefökonom Fischer heute noch behauptet) nicht erfüllen, muss immer wieder öffentlich angegriffen werden. Roth kritisierte in diesem Zusammenhang die Gewerkschaften, die sich nicht für die Rücknahme der Steuersenkungen stark machen.

Bei diesem ganzen alltäglichen Wahnsinn müsse man sich, so Roth, immer wieder vergegenwärtigen: "Der Mensch muss im Mittelpunkt stehen."   (gho)
 

Rainer Roth, "Nebensache Mensch - Arbeitslosigkeit in Deutschland", DVS - Digitaler Vervielfältigungs- und Verlagsservice, Frankfurt/M. 2003, 15 Euro, ISBN 3-932246-39-X. Das Buch ist eine ausgezeichnete, umfangreiche und gut strukturierte Argumentationshilfe, die leicht verständlich ist (auch für die Nicht-Akademikerinnen und -Akademiker). Dankenswerter Weise enthält es ein Stichwortverzeichnis, was es zu einem gut nutzbaren Nachschlagewerk macht.