Im November, vor 85 Jahren – aus einem Flugblatt der Spartakusgruppe:

Die rote Fahne über Kiel, Hamburg, Bremen, Lübeck.

Die Volks- und Friedensregierung Scheidemannscher Prägung hält seit sechs Wochen das Volk mit ihren Friedensversprechungen hin. Unendlich groß ist dessen Geduld. Die militärischen Gewalten haben noch soviel Macht, daß sie auch jetzt noch verzweifelte Offensiven wagen. Eine solche Aufgabe war vor kurzem der Flotte zugewiesen. Die Schlachtflotte sollte einen großen Vorstoß gegen England unternehmen. “Siegen oder in Ehren untergehen” war die Losung der Geschwaderführer. In Wahrheit wäre das ein nutzloses Opfer von Menschen und Material gewesen. Dank der Wachsamkeit der Mannschaften wurde dieser Plan zu nichte gemacht. An der Grenze der deutschen Hoheitsgewässer setzte das Maschinenpersonal Kessel und Maschinen außer Betrieb, und eine Abordnung der Mannschaften verlangte die Rückkehr. Sie erklärte sich zur Verteidigung im Fall eines feindlichen Angriffs bereit, weigerte sich aber, zwecklos dem sicheren Tode entgegen zu dampfen. Alles Befehlen, Drohen, schließlich auch Bitten nützte nichts. Der Flottenchef sah sich genötigt, die Schiffe wieder nach Wilhelmshaven und Kiel zurückzuführen. Dort setzte das übliche Strafgericht ein. Massenverhaftungen wurden vorgenommen. Aber die Matrosen hatten sich vom Banne des Kadavergehorsams befreit. Sie setzten in vielen Fällen die Befreiung ihrer verhafteten Kameraden durch.

Sonntag, den 3. November, herrschte in Kiel große Aufregung. Auch die Arbeiter sympathisierten mit den Matrosen. Versammlungen fanden statt. Die Erregung hielt auch am Montag an.An diesem Tage floß Blut in den Straßen Kiels. Fast zur selben Zeit, in der die Volksregierung ihre “Proklamation an das deutsche Volk” richtete, streckten die Schüsse der Schergen derselben Regierung eine Anzahl Volksgenossen tot auf das Pflaster nieder und verwundeten viele andere. Diese Schüsse bildeten den Auftakt zu den weiteren Vorgängen in Kiel. Montag mittag erklärte sich der Gouverneur von Kiel bereit, mit den Matrosen zu verhandeln. Die Abordnungen der Matrosen traten zu einer Versammlung im Gewerkschaftshause zusammen und stellten ein Programm ihrer Wünsche auf. Darunter waren u.a. folgende:

Die Anerkennung des inzwischen gebildeten Soldatenrates, bessere Behandlung der Mannschaften, Befreiung von der Grußpflicht, Gleichheit der Offiziere und Mannschaften bei der Verpflegung, Aufhebung der Offizierskasinos, Freigabe der wegen Gehorsamsverweigerung verhafteten Personen, die sich zurzeit in den Arrestlokalen befinden und Straflosigkeit der nicht auf die Schiffe zurückgekehrten Mannschaften.

Diese Forderungen wurden dem Gouverneur durch eine Abordnung der Matrosen überbracht, und alle Forderungen wurden vom Gouverneur gutgeheißen. Die Matrosen verpflichteten sich auch zur unbedingten Aufrechterhaltung der Ordnung und gestanden zu, dass jedermann, der beim Plündern betroffen würde, auf der Stelle standrechtlich zu erschießen sei.

Inzwischen strömten von den Schiffen zahlreiche Mannschaften in die Stadt hinein. Die Matrosen waren vollständig Herren der Schiffe. Eine Anzahl von Patrouillen, die zur Aufrechterhaltung der Ordnung aufgeboten war, ging zu den Matrosen über oder wurde von ihnen entwaffnet und musste sich ihnen anschließen. In den ersten Nachmittagsstunden kam es im Kasernement Wik zu einer kurzen Schießerei zwischen einer Kompanie der Torpedodivision und der Werftdivision. Die letztere wurde von der ersten aufgefordert, sich ihr anzuschließen, und sie tat es, nachdem die aufständischen Matrosen sich in den Besitz der Gewehre und Munitionsvorräte der Kaserne gesetzt hatten. In kurzer Zeit stand die ganze Garnison Wik auf Seiten der aufständischen Matrosen.Eine Stunde später kam es zu einer riesigen Freudenkundgebung. Ein Zug von etwa 15 – 20000 Mann Soldaten vom Kasernement Wik am Stationskommandogebäude vorüber nach dem Arrestlokal in der unteren Feldstraße. Musik ging dem Zuge voran. Die Soldaten trugen zum allergrößten Teil Gewehre. Im Zuge befindliche Arbeiter waren ebenfalls bewaffnet. Der riesenhafte Zug ging durch den nördlichen Teil der Stadt. Im Zuge wurden zahlreiche rote Fahnen getragen. Eine Anzahl von Ordnern trug weiße Binden und sorgte dafür, dass nirgend Behinderungen eintraten. Die Leute verhielten sich vollständig ruhig. Vor dem Arrestlokal in der unteren Feldstraße stoppte der Zug. Die Gefangenen wurden entlassen und unter großem Jubel von ihren Kameraden in Empfang genommen. Auf den Straßen der Stadt verkehrte eine Anzahl Autos, die die rote Flagge der Aufständischen führten. Abends gegen 9 Uhr zogen die Matrosen einzeln und in Scharen mit umgehängten Gewehren zu ihren Kasernements oder nach den Schiffen. Die Leute verhielten sich vollständig ruhig. Montag abend beschlossen die Vertrauensleute der Gewerkschaften der großen Betriebe, dass Dienstag früh als Sympathiekundgebung für alle Matrosen der Generalstreik beginnen solle, ausgenommen sind nur die Lebensmittelgeschäfte, sowie die Licht- und Wasserwerke.