Kiel. Nicht erst im November `18 ...

Die Matrosen der in Wilhelmshaven stationierten deutschen Kriegsflotte verhinderten das für den 30. Oktober 1918 vorgesehene Auslaufen zum “Endkampf” gegen die englische Flotte. Dass dann Teile der von rebellischem Geist erfassten Mannschaften mit ihren Schiffen nach Kiel (zurück)verlegt wurden, sollte sich als folgenschwerer Fehler der Militaristen herausstellen. Statt Beruhigung durch Heimatbesuch und Landgang kam es hier zur Verbrüderung mit den aktivsten Teilen einer Arbeiterschaft, die schon in den Monaten zuvor bewiesen hatte, dass sie nicht mehr bereit war, den Parolen der Kriegstreiber und der Burgfriedensprediger zu folgen.

Nach dem Hungerwinter 1916/17, dem “Kohlrübenwinter”, traten Kieler Arbeiter im März in den Ausstand gegen die ungenügende Nahrungsmittelversorgung. Sie gaben damit den Auftakt zu einer reichsweiten Streikwelle, die im April einsetzte. 1450 Arbeiter der Howaldtswerke und 4000 Kollegen der Germaniawerft legten die Arbeit nieder, außerdem Arbeiter der Kaiserlichen Werft und der Friedrichsorter Torpedowerkstätten. Mehr als 17000 Personen beteiligten sich an den Märzdemonstrationen. Die Streiks wurden spätestens am 31. März erfolglos abgebrochen. Die Gewerkschaftsführung beurteilte die Streikaktionen als illegal und gewährte keinerlei finanzielle Unterstützung. Die Arbeiter aber hatten zum ersten Mal Massenaktionen, die den von staatlicher wie von gewerkschaftlicher Bürokratie gesetzten Rahmen sprengten. Und neben den Forderungen, die auf eine Verbesserung der Ernährungslage gerichtet waren, wurden erstmals politische Forderungen laut – “Frieden und Freiheit!” waren Losungen auf Flugblättern, die auf der Germaniawerft verbreitet wurden.

Einer der kämpfenden Arbeiter war Karl Artelt. Er wurde als Streikführer zu sechsmonatiger Haft verurteilt, statt ins Gefängnis aber zum Militär gezwungen. Vom Marinekorps in Flandern wurde er zur 1. Torpedodivision abkommandiert und in der Torpedowerkstatt in Friedrichsort eingesetzt. Karl Artelt konnte so am Abend des 2. November auf dem Exerzierplatz in Kiel das Wort ergreifen; er forderte dort als einziger Redner neben der Freilassung der verhafteten aufständischen Matrosen die Niederkämpfung des Militarismus und die “Beseitigung der herrschenden Klassen. Wenn das mit friedlichen Mitteln nicht zu erreichen sei, `dann müsse Gewalt angewendet werden´.” (Dähnhardt) Artelt stand zusammen mit Lothar Popp von der USPD für wenige Tage  an der Spitze der antimilitaristischen Bewegung und des Kampfes für Frieden und Freiheit in Kiel.

Die im Frühjahr 1917 laut gewordenen politischen Forderungen ließen sich nicht mehr unterdrücken. In der Arbeiterschaft wurde verstärkt über die annexionistischen Kriegsziele diskutiert und Widerstand dagegen gefordert; daneben spielte die Reform des Wahlrechts eine Rolle. Im folgenden Winter war für die Arbeiterfamilien wieder Hungern und Frieren angesagt. Wiederum gab es Proteste und Arbeitsniederlegungen; diesmal ausgehend von den Torpedowerkstätten, in denen auch die Forderung der USPD nach einem “annexionslosen Waffenstillstand zum Zwecke eines auf allen Seiten gerechten Friedens” besonders viele Anhänger hatte. Zu dieser Zeit war auch der Einfluss der russischen Oktoberrevolution auf bedeutende Teile der Arbeiterschaft bereits spürbar.

Am 25. Januar traten etwa drei Viertel der Belegschaft der Torpedowerkstätten in den Streik, den sie auch nach Erfüllung ihrer ersten Forderung – die Nichteinberufung mehrerer Vertrauensleute zum Heer – nicht beendeten. Neben Arbeitern der Germaniawerft schlossen sich diesmal Kollegen von zehn weiteren Kieler Rüstungsbetrieben an, so dass sich schließlich am 29. Januar etwa 30000 Arbeiter zu einer politischen Kundgebung auf dem Wilhelmplatz versammelten. Am nächsten Tag wurde allerdings bereits wieder gearbeitet. Wiederum hatten sowohl die SPD als auch die Gewerkschaften den kämpfenden Arbeitern ihre  Unter- stützung versagt, wiederum gab es keine finanzielle Unterstützung für die Streikenden: Die Generalkommission der Gewerkschaften unter Führung des für den Wahlkreis Kiel gewählten Reichstagsabgeordneten Carl Legien erklärte unumwunden, die Gewerkschaften hätten mit der Bewegung nichts zu tun.

Das wurde staatlicherseits durchaus anerkannt und gewürdigt. Nicht von ungefähr griff schließlich der für Kiel zuständige Gouverneur Souchon am 3. November nach dem letzten ihm erreichbaren Strohhalm: “Bitte, wenn irgend möglich, hervorragenden sozialdemokratischen Abgeordneten herzuschicken, um im Sinne der Vermeidung von Revolution und Revolte zu sprechen!” telegrafierte er nach Berlin. Es kam Gustav Noske. Die mangelnde Zielklarheit der Aufständischen führte dazu, dass er in kurzer Zeit die Führung der Bewegung in Kiel in die Hand bekam. Das Signal aber, das in den Novembertagen vor 85 Jahren von Kiel aus in das gesamte deutsche Reich ging, war nicht mehr aufzuhalten. Der Krieg wurde beendet, die Monarchie war nicht zu retten. Seinen Feldzug gegen alle, die es dabei nicht bewenden lassen, sondern auch die Macht des Kapitals beseitigen und die Herrschaft der arbeitenden Menschen, die deutsche Räterepublik, errichten wollten, musste Noske später von Berlin aus fortsetzen. Er tat es mit Erfolg als selbsternannter “Bluthund” der neuen Regierung. Und wir erleben noch heute, wie recht Carl von Ossietzky hatte, als er zum zehnten Jahrestag der Novemberrevolution feststellte: “Ein verlorener Krieg kann schnell verwunden werden. Eine verspielte Revolution, das wissen wir, ist die Niederlage eines Jahrhunderts.”   (D.L.)