Kennen Sie Carl Legien?

Eine der Stationen des Stadtrundgangs, der in Kiel aus Anlass des 85. Jahrestages des Matrosenaufstandes und der deutschen Revolution von 1918 durchgeführt werden soll, ist das Kieler Gewerkschaftshaus. Dort, in der damaligen Fährstraße, tagte der Arbeiter-und Soldatenrat. Die Straße heißt heute Legien-Straße. Den revolutionären Kämpfern und den Opfern der Konterrevolution hat man mit der Umbenennung 1923 keinen Gefallen getan. -  In den Gesprächen über die diesjährigen Aktivitäten wurde einmal mehr deutlich, dass heute  vielen Menschen nicht bekannt ist, dass Carl Legien – damals Vorsitzender der Generalkommission der deutschen Gewerkschaften – ein entschiedener Gegner aller revolutionären Bestrebungen gewesen ist. Zur Erhellung dieser Tatsache im Folgenden einige Auszüge aus einem (bisher unveröffentlichten) Aufsatz, der auf einem Referat fußt, dass ich vor fünf Jahren auf einer Fachtagung zur Novemberrevolution in der Kieler “Pumpe” gehalten habe. (Dietrich Lohse)

“Bereits Ende Juli hatte sich Legien öffentlich für die Kriegsunterstützung ausgesprochen. Die Mitglieder der Generalkommission zählten zu den Vätern einer ‚Vereinbarung‘, die zwischen der Reichsregierung und dem Mitglied des sozialdemokratischen Parteivorstandes Albert Südekum Ende Juli zustande kam. Darin versicherte Südekum der Regierung, dass im Kriegsfall‚ keinerlei wie immer geartete Aktion (General- oder partieller Streik, Sabotage und dergl.) geplant oder auch nur zu befürchten sei.‘ Die Regierung ihrerseits versprach als Gegenleistung, auf ein Verbot der Organisationen der Arbeiterbewegung zu verzichten. (...)
Keine 24 Stunden nach der deutschen Kriegserklärung an Rußland” – nämlich am 2.8.14 -  “fällte eine Konferenz der Vertreter der Verbandsvorstände die gewerkschaftliche Grundsatzentscheidung für die gesamte Kriegszeit: Für die Dauer des Krieges sollte jeglicher Klassenkampf unterbleiben mit dem Ziel, die beste militärische Schlagkraft zu erreichen.

In diesem Sinne stellte die Generalkommission alle Lohnkämpfe und die Zahlung von Streikgeldern ein. Die Unternehmer forderte man auf, den Streikverzicht nicht zu Übergriffen zu missbrauchen. Künftige Hauptaufgabe der Gewerkschaften sollte die Unterstützung von Arbeitslosen und Kriegerfamilien sein. Weitere Maßnahmen bezogen sich auf die innerverbandliche Absicherung dieser Politik des ‚Burgfriedens‘. Dies geschah durch eine erhebliche Machterweiterung der Vorstände und eine weitgehende Einschränkung der innergewerkschaftlichen Demokratie: ‚Wie die Dinge liegen‘, sagte Legien, ‚hört die Demokratie in den Gewerkschaften auf, jetzt haben die Vorstände auf eigene Faust zu entscheiden, und zwar so, wie sie es vor ihrem Gewissen verantworten können.‘

Konkret hieß das: Vorstandsbeschlüsse waren nicht anfechtbar, die Vorstände selbst konnten nicht abgewählt werden, Kongresse sollten während des Krieges nicht stattfinden.” Die Beschlüsse der nun nur ihrem Gewissen verantwortlichen Vorstände sollten allerdings für alle Gewerkschaftsmitglieder unbedingt bindend sein. Die Gewerkschaften taten es hier der SPD gleich, deren Reichstagsfraktion sich das Recht herausnahm, auf alle bisherigen Parteibeschlüsse zu pfeifen und für die ihrem “freien Gewissen” entsprungenen Beschlussbrüche die blinde und freudige Gefolgschaft aller Parteimitglieder zu fordern. Carl Legien war bei dieser Entwicklung in Gewerkschaften und Partei einer der treibenden Männer.

1915 gab Carl Legien zusammen mit dem bürgerlichen Historiker Friedrich Thimme eine Aufsatzsammlung heraus, die einen bezeichnenden Titel trägt: “Die Arbeiterschaft im neuen Deutschland”. (Einer der sozialdemokratischen Autoren in diesem Sammelwerk: Gustav Noske.) Das “neue Deutschland”, das während des Weltkrieges heranwächst! Ja, genauso ist das gemeint. (...)

In der erwähnten Schrift vom “neuen Deutschland” schrieb Legien unter anderem: ”Nur zu natürlich ist es ..., dass die Gewerkschaften bestimmt damit rechneten, nach Erklärung des Kriegszustandes aufgelöst zu werden. (...) Statt der Auflösung kam der Versuch, die gewerkschaftliche Organisation in den Dienst des Volkswohles zu stellen. Zwar treten noch nicht alle amtlichen Stellen im Reich und in den Einzelstaaten den Arbeiterorganisationen mit der Objektivität entgegen, die notwendig ist, um den beabsichtigten Zweck zu erreichen. Nicht überall erfolgte das `Umlernen´ im gleichen Tempo. (...) Voraussichtlich werden die maßgebenden Instanzen sich dadurch in ihrem Verhalten nicht beeinflussen lassen. Es liegt doch gegenwärtig offenkundig zutage, dass in der Zeit der Not, wenn es gilt, die Einheit und Geschlossenheit des Volkes zu sichern, nicht die wirtschaftlich und politisch mächtigen, aber im Verhältnis zum Volksganzen an Zahl nur geringen  Unternehmer- vereinigungen, sondern die Organisationen, denen große Massen des Volkes angehören, den Einheitswillen und das solidarische Verhalten der Volksgenossen herbeizuführen und zu erhalten vermögen. (...) Die Gewerkschaften haben keinen Augenblick gezögert, sich in dieser schweren Zeit genau so in den Dienst der Allgemeinheit zu stellen, wie sie bisher den Interessen der Masse der Arbeiter zu dienen bestrebt waren. Da das, was von ihnen geleistet werden sollte, dem bisherigen Wesen und Wirken der Gewerkschaften entsprach, so trat mit Übernahme dieser neuen Aufgaben weder in ihrer Tendenz noch in ihrer Organisation eine Änderung ein. Es galt, soziale Arbeit zu leisten, ein Gebiet, auf dem die Gewerkschaften stets tätig waren, das ihren eigentlichen Arbeitskreis bildet. (...) Was die gewerkschaftlichen Organisationen in der Kriegszeit geleistet haben, geschah nicht mit Rücksicht auf Dank oder Anerkennung. Es war einfache Pflichterfüllung im Interesse des Volksganzen. Ihren Charakter haben sie und brauchten sie hierbei nicht zu ändern. Wollten sie diesen aufgeben, so mußten sie sich selbst aufgeben. Ihr Zweck, ihre Aufgabe ist die Verbesserung der Lohn- und Arbeitsbedingungen, die Vertretung der Interessen der Arbeiter. (...) Sie wollen nichts anderes, als die den Unternehmern zustehenden Rechte, die Organisationen so zu gestalten, ihnen eine Tendenz, einen Charakter, einen Aufbau zu geben, wie sie es für zweckdienlich und notwendig erachten. Nicht besondere Rechte, sondern von keiner Seite behinderte Gleichheit im Rechte, lautet die Forderung der gewerkschaftlich organisierten Arbeiterschaft. Sie verlangen aber auch, daß die maßgebenden Stellen nicht völlig dem Einfluß der Unternehmer unterstehen, dass das Wort des Arbeiters  gleich- wertig dem der Unternehmer sei. Nichts Neues ist es, was die Arbeiter verlangen, sondern Erfüllung dessen, was sie stets gefordert haben, nicht als ein Vorrecht, sondern als ein einfaches gleiches Recht. Nicht als Lohn für das, was die Gewerkschaften während des Krieges getan haben, sondern um der Gerechtigkeit willen.”

Offenbar können sich nach diesem Verständnis die Umstände gar nicht so sehr ändern, dass die Gewerkschaften von ihrem “bewährten Kurs” abgehen müssten. Und sie dienen eigentlich immer auch dem Volksganzen. Wie hätten die Herrschenden ihren Krieg denn ohne die tätige Hilfe der Gewerkschaften führen  wollen?! Hier wird schon das Denken sichtbar, das die ADGB-Führung am Ende der Weimarer Republik zu dem Versuch veranlasste, sich auch noch dem faschistischen System anpassen zu wollen.

Das hörte sich dann so an:

“Getreu seiner Aufgabe, am Aufbau einer sozialen Ordnung des deutschen Volkes mitzuwirken, in der die Lebensrechte der Arbeiterschaft entsprechend ihrer Bedeutung für das Volksganze in Staat und Wirtschaft gesichert sind, erklärt sich der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund bereit, die von den Gewerkschaften in jahrzehntelanger Wirksamkeit geschaffene Selbstverwaltungsorganisation der Arbeitskraft in den Dienst des neuen Staates zu stellen.Die Gewerkschaften erkennen nach wie vor an, dass ihre eigene Bewegungsfreiheit ihre Grenzen finden muß an dem höheren Recht des Staates als Repräsentanten der gesamten Volksgemeinschaft. Der Staat muss das Recht haben, ordnend und regelnd in die Wirtschaft einzugreifen; es ist seine Aufgabe, eine Wirtschaftsverfassung zu schaffen, die die Wirtschaftsführung an gesamtwirtschaftliche Verpflichtungen bindet, weil nur auf diesem Weg die Einheit von Staats- und Wirtschaftsführung möglich ist ... ” So heißt es in der Erklärung des ADGB-Bundesvorstands an die Reichsregierung vom 9.4.33.9

Legien gegen Liebknecht

In dem Aufsatz “Warum müssen die Gewerkschaftsfunktionäre sich mehr am inneren Parteileben beteiligen”, polemisierte Legien gegen antiimperialistische Massenaktionen und freute sich gar über “manches Samenkorn des Sozialismus, das während des Krieges in die bürgerliche Gesellschaft gelegt ist”, weshalb es bei Wahrung der Geschlossenheit der Gewerkschaften und der SPD nach dem Kriege weiter aufwärts gehen werde. Das Werden dieses neuen Deutschlands musste deshalb nach dieser Logik gegen alle verteidigt werden, die diese Geschlossenheit (auf dem Boden der Politik des 4. August 1914) gefährdeten. Die Gegner dieser Politik waren für Legien erklärtermaßen “Verbrecher”.

Viel zu lasch sei man mit diesen Leuten in der Vergangenheit umgegangen, befand er zum Beispiel auf dem Verbandstag der Metallarbeiter 1917 – die Spaltung der Sozialdemokratie, die sich in diesem Jahr auch organisatorisch vollzog, sei eben darauf zurückzuführen.

An Carl Legien hat’s nicht gelegen. Er hat sich bereits frühzeitig für die Verbrechensbekämpfung stark gemacht, nachdem Karl Liebknecht am 2. Dezember 1914 gegen den Mehrheitsbeschluß der SPD-Reichstagsfraktion mit einer aufsehenerregenden Erklärung seine Zustimmung zu den Kriegskrediten verweigert hatte. Legien forderte auf der Fraktionssitzung vom 2. – 4. Februar 1915 den Ausschluss Liebknechts aus der Fraktion, konnte sich damals allerdings noch nicht durchsetzen. Er musste sich noch bis zum 12.1.1916 gedulden. (Der Sitzungsbericht vermerkt: “Der Antrag Legiens wurde zurückgezogen, nachdem Richard Fischer erklärt hatte, die zu erwartende Ablehnung dieses unzulässigen Antrags werde von Liebknecht als Vertrauensvotum der Fraktion ausgenutzt werden.”) Er wertete seinen Kampf gegen Liebknecht auf dem erwähnten Kongress so: “Ich hatte als Vertreter der Gewerkschaften dafür zu sorgen, daß das nicht fortgesetzt wurde. Besser das Geschwür jetzt aufschneiden, als den ganzen Körper durchseuchen lassen. Hätten wir damals nach meinem Vorschlag gehandelt und Liebknecht von der Partei ausgeschlossen, so hätten wir keine Spaltung bekommen. Die Parteidisziplin musste auf jeden Fall aufrechterhalten werden.”

Sie wollten den Krieg nicht beenden

Auf dem Verbandstag des Deutschen Metallarbeiterverbands am 13. Oktober 1919 führte Legien, gegen den die Kriegspolitik der Generalkommission seit langem kritisierenden Robert Dißmann (USPD) gerichtet, unter anderem aus: “Es ist in einem Zwischenruf zum Ausdruck gekommen, wenn wir den Grundsätzen Dißmanns gefolgt wären, dann wäre des Krieges Ende vier Jahre früher gewesen. Sicher ist, dass, wenn wir diesen Grundsätzen gefolgt wären, der Krieg in kurzer Zeit für Deutschland erledigt gewesen wäre. Aber was dann? Glauben Sie wirklich, dass dann die russische Walze etwa haltgemacht hätte an der Oder? Nein, dann ... würde der Friede diktiert sein in Berlin von dem zaristischen Rußland, und dann würden viele von denen, die gegen den Weltkrieg waren, sich gewundert haben, unter welche Verhältnisse sie kamen.” Dieser platte Sozialchauvinismus (der seine Entsprechung fand im dem der russischen Vaterlandsverteidiger) wurde ergänzt durch eine wahrlich merkwürdige Beweiskette: “Weil wir den Krieg nicht verhindern konnten, mussten wir uns zum eigenen Land stellen, und ich glaube auch heute noch mit gutem Gewissen sagen zu können: Es war gut, was wir getan haben, denn sonst wäre Verschiedenes anders gekommen. Wir hätten keine russische Revolution gehabt, keine deutsche Revolution und keine Hoffnung darauf, dass die Revolution über den Rhein hinweg nach Frankreich und nach England kommt; wir säßen heute nicht nur noch unter dem kapitalistischen System, sondern noch unter dem militärischen und monarchistischen System, wenn wir die Politik, die Sie verurteilen, nicht während des Krieges innegehalten hätten.” So hätten denn nur all die konterrevolutionären Anstrengungen der Legien und Ebert die russische wie die deutsche Revolution und die Aussicht auf eine europäische Revolution möglich gemacht. Wenn das der Kaiser geahnt hätte am 4. August 1914...

“Die größten Halunken, die in der Welt gelebt haben”

Einen “Haufen organisierter Verwesung” hat Rosa Luxemburg die deutsche Sozialdemokratie bereits am 6. Januar 1917 genannt. “Die entscheidenden Würfel des Klassenkampfes in Deutschland werden für Jahrzehnte in dieser Generalauseinandersetzung mit den Instanzen der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften fallen ...” Wie so oft, hat sie recht behalten. Auch, als sie nach knapp zwei weiteren Jahren dieses Kampfes in ihrer “Rede zum Programm” (der KPD) feststellte: “Wir können es ruhig aussprechen, dass die deutschen Gewerkschaftsführer ... und die deutschen Sozialdemokraten die infamsten und größten Halunken, die in der Welt gelebt haben, sind”, hatte sie recht. -  Das reicht als Fazit für heute, für uns, die wir weiterkämpfen müssen und weiterkämpfen immer wieder Seite an Seite mit sozialdemokratischen KollegInnen und mit und in sozialdemokratisch geprägten Organisationen, in keinem Fall aus. Aber in der Charakterisierung konkreter Menschen in ihrer Zeit haben diese Worte ihren Platz, und es sollte getrost manchmal an sie erinnert werden, schon um zu verhindern, dass sich allzu leichtfertig dafür allzu ungeeignete Leute auf Rosa Luxemburgs Plädoyer für die Freiheit “anders Denkender” berufen. Carl Legien war damit nicht gemeint.